Der Schrei der Olivenbäume
Dr. Sumaya Farhat-Naser, Birzeit / Palästina


Noch vor der jetzigen Intifada schrieb Sumaya Farhat-Naser über die Olivenbäume:

"Olivenbäume sind gesegnete Bäume. Landschaftsprägend symbolisieren sie Existenz und Verbundenheit von Mensch und Land. Sie überdauern Jahrhunderte, sind genügsam in ihren Ansprüchen und grosszügig im Geben. Je älter desto schöner und gütiger sind sie. Sie spen-den Früchte, Öl, Holz und Seife. Standhaft und stolz bewahren sie die Kultur. Geborgen in ihrem Schatten fühlen wir uns sicher. Wir bewundern und lieben sie. Wir pflegen und besingen sie - sie gehören zu unserem Leben".

e-mail vom 28. Juli 2001

Ich habe die Zerstörung der Landschaft gesehen und ich kann die Schmerzen der verletzten und gequälten Olivenbäume fühlen. Mein Herz weint und trauert mit meinem Volk!

Seit mehreren Wochen werden die Bewohner der benachbarten 30 Dörfer daran gehindert, mit dem Auto nach Birzeit zu fahren. Sie schmuggeln sich durch die steinigen, dornigen Wege der Täler. Sie reden davon, dass das, was dort geschieht, an die schreckliche Deportationspolitik von 1948 und danach erinnert. Sie fürchten sich sehr und sprechen mit Angst von Anschlägen, von Feldern, die verbrannt werden und von Ausgangssperren, welche verhindern, dass Augenzeugen darüber berichten. Sie sagen, die ganze Gegend westlich von Bir Zeit sei völlig abgeriegelt und zur geschlossenen militärischen Zone erklärt worden. Niemand darf die Hauptstrasse nach Birzeit oder Ramallah benutzen. Die Leute müssen die Hügel hinunter durch die Täler und versuchen, einer anderen Strasse oder einem schmalen Weg zu folgen, bis sie in der nächsten Sackgasse landen: einer zerstörten oder gesperrten Strasse oder dem nächsten Kontrollpunkt, wo Soldaten sie am Weiterkommen hindern. Die Fahrt von Deir Ghassaneh oder Abud nach Birzeit dauert normalerweise 10 - 15 Minuten. Jetzt brauchen die Studenten 2 - 3 Stunden, um die Universität Birzeit zu erreichen, wenn sie überhaupt so weit kommen. Das Leben kranker Menschen wird aufs Spiel gesetzt, weil sie daran gehindert werden, die normalen Strassen zu benutzen, um medizinische Hilfe zu bekommen. Ich habe oft gesehen, wie Männer kranke und alte Menschen weit getragen haben, um die nächste Kreuzung zu erreichen, und sie wussten, dass sie sie bald wieder würden tragen müssen. Das ist Folter, entmenschlichend und ein klarer Verstoss gegen die Meschenrechte. Es ist sogar noch viel mehr: Es ist eine systematische Politik, das Leben so schwierig zu machen, dass die Menschen wegziehen. Es ist eine Art, die Menschen langsam aber sicher zu töten, vielleicht eine etwas "zivilisiertere" Art. Es ist ein Verbrechen.

Gestern besuchte mich eine Freundin in Birzeit und ich bat sie, in ihrem internationalen Auto mit mir zur geschlossenen militärischen Zone zu fahren. Nach einem Kilometer trafen wir auf den ersten Kontrollpunkt. Die Soldaten dort schienen sich mit so einem internationalen Auto und ausländischen Identitätskarten nicht auszukennen, aber wir konnten weiterfahren, und ich konnte es kaum glauben. Wir hielten irgendwo an und ich zeigte meiner Freundin unser Land und unsere Olivenbäume. Dieses Jahr wurden wir wie alle anderen Bauern wegen der Sperrung daran gehindert, unser Land zu kultivieren. So entsteht der Eindruck, wir vernachlässigten unser Land, was es einfacher macht, es zu konfiszieren. Ein Auto fuhr vorbei und wir wurden kontrolliert, doch weil wir Frauen waren, liess man uns in Ruhe. Es waren Nachrichtenoffiziere. Die Strasse war absolut ruhig - da waren weder Autos noch Menschen - doch in der Ferne konnten wir Menschen sehen, die zu Fuss gingen und einige Autos, die sich bemühten, auf den steinigen, ungeteerten Strassen vorwärts zu kommen.

So fuhren wir weiter nach Um Safa Beit Rima, Deir Ghassaneh und Ajul. Man konnte nicht in die Dörfer hineinfahren, weil die Strassen völlig zerstört waren. Wir fuhren weiter nach Abud. Als wir an der Siedlung Halamish vorbeifuhren, hielten uns die Soldaten am Eingang an und kontrollierten uns. Bald darauf sahen wir zu beiden Seiten eines zwei Kilometer langen Strassenabschnittes tiefe Gräben im Land und völlige Verwüstung. Hunderte Olivenbäume waren entwurzelt und zerstört, das Land verbrannt worden, und etwa zwölf Tanks und viele Soldaten mit Militärbulldozern waren dabei, die Bäume zu zerstören und zu entwurzeln, das Land zu verwüsten und die Terrassen auszuebnen. Sie hatten mehrere Militärzelte und es sah aus, als bereiteten sie das Gelände für die Errichtung einer grossen, neuen militärischen Basis oder einer neuen Siedlung vor. Einige Soldaten waren verärgert, uns hier zu sehen, andere waren erstaunt, und während einige uns aufforderten, anzuhalten, befahlen uns andere, das Gebiet sofort zu verlassen. Wir fuhren weg, aber unter Bewachung: ein Militärwagen fuhr vor, ein anderer hinter uns bis zur nächsten Kreuzung. Wir konnten auf dem Gelände nicht fotografieren oder einen Videofilm aufnehmen, doch es gelang uns, auf dem Rückweg einige Fotos zu machen.

Es war für mich eine Erfahrung tiefen Schmerzes; mir bricht das Herz. Das Gebiet um Birzeit ist meine Landschaft und meine Natur. Ich bin 53 Jahre alt; ich bin mit diesen Bäumen aufgewachsen. Ich bin Botanikerin. 21 Jahre lang habe ich meine Studenten der Birzeit Universität in diese wundervolle Gegend mit ihrer reichhaltigen Flora, Geschichte und Kultur geführt. An genau diesem Ort habe ich meine Studenten Liebe, Engagement und Identifizierung mit der Erde und der Natur gelehrt. Wir unternahmen viele wissenschaftliche Feldausflüge zusammen, spazierten zum Um-Safa-Wald, dem ältesten Wald Palästinas, der nur 7 km. von Birzeit entfernt steht. Wir haben dort Pflanzen bestimmt und klassifiziert, haben uns die vielen verschiedenen Geschichten über jede Pflanze erzählt, haben über ihren Nutzen gesprochen, aber auch die Witze und Mythen erzählt, von Spielen und Segnungen im Zusammenhang mit der Flora Palästinas gesprochen. Ich kenne die Namen und Geschichte all' dieser Bäume und Sträucher. Als ich gestern dorthin ging, musste ich dem militärischen Befehl zuwiderhandeln, und ich weinte bitterlich, weil mein Volk und ich seit vielen Monaten nicht mehr zu unserem Land und unseren Bäumen hingehen dürfen.

Auf dem Weg zum Wald schlägt mein Herz immer schneller. Ein Panzer steht dort; er ist mit schweren Waffen ausgerüstet, um den Wald abzusperren. Ich habe meinen Bäumen zugewinkt, sie bei ihren Namen gerufen, habe ihnen mitgeteilt, wie es mich schmerzt, dass die alten Bäume zerstört sind und wie sehr ich sie geliebt habe. Mit Tränen in den Augen denke ich an die wunderschönen, gefurchten Baumstämme und die Äste, die jetzt traurig niederhängen. Ich lächle die Bäume an die noch da sind und ermutige sie, zu überleben. Ich werde mit meinen Studenten und meinen Kindern zu ihnen zurückgehen.

Ich bin immer noch voll Schmerz, und ich schreibe, damit niemand es je wagen wird zu sagen: ich habe es nicht gewusst.

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© Aktion Kinder des Holocaust 2001