Warum
kann man als Anthroposoph nicht sagen: Auch bei Steiner gab es
Widersprüche und dunkle Seiten?
Offener Brief an Lorenzo Ravagli von Ute Siebert Fichtestr.23
10967 Berlin
Berlin, 20.03.2001
Lorenzo Ravagli
c/o
die tageszeitung
Postfach 61 02 29
10923 Berlin
Offener
Brief an Lorenzo Ravagli und Leserbrief
als Reaktion auf TAZ/Bildung, 14.03.2001, S.16, "Warten und
weiterlesen" von Christian Füller und "Der Antisemitismus
war ihm zu ordinär" von Lorenzo Ravagli
Sehr
geehrter Herr Lorenzo Ravagli,
als
Ethnologin und ehemalige Waldorfschülerin fühle ich
mich dazu veranlasst, auf die Rassismus-Diskussion um Rudolf Steiner,
die Thema der beiden Artikel in der taz (14.03.2001, S.16) war,
zu reagieren. Als Waldorfschülerin bin ich mit dem Welt-
und Menschenbild Rudolf Steiners in Berührung gekommen, und
als Ethnologin habe ich mich ausführlich mit indianischen
Gesellschaften Nordamerikas befasst (die heute übrigens teilweise
noch sehr lebendig sind); zurzeit arbeite ich in Westafrika.
Lassen
Sie mich zu Beginn eine Episode aus dem Konfirmandenunterricht
der Christengemeinschaft (anthroposophie-nahe Kirche) schildern:
Die Lehre der Reinkarnation faszinierte mich damals, die in der
Christengemeinschaft vertreten wird. Gleichzeitig las ich schon
über nicht-europäische Gesellschaften und war besonders
von Papua-Neuguinea begeistert. So fragte ich eines Tages den
Pfarrer, ob ich denn in einem anderen Leben auch einmal als Papua
wieder geboren werden könne. Er schaute mich entsetzt an,
fragte ob ich davor denn Angst hätte und beschwichtigte mich
gleich hastig, ohne meine Reaktion abzuwarten: "Deine Sorge
ist unbegründet. Nur wenn du jetzt körperlich schwer
behindert wärest und an den Rollstuhl gefesselt, müsstest
Du wohl noch einmal als Eingeborener auf die Welt kommen, um ganz
in deinem Körper zu leben, niedrige Arbeiten zu verrichten
und der Erde nahe zu sein."
Es
ist schätzenswert, dass Rudolf Steiner in punkto Rassismus
auch innerhalb der eigenen Reihen überprüft wird, denn
dies war zur Zeit meiner waldörfischen Sozialisierung in
den 1980er Jahren noch ein Tabuthema.
Sie
haben eingangs Ihres Artikels Recht, dass das Thema Rassismus
gerade hoch im Kurs steht. Bedenken Sie aber, dass selbst "inflationärer
Antisemitismusverdacht" letztlich auf sehr schmerzhaften
Erfahrungen beruht, und man aus ethischen Gründen solchem
Verdacht immer auf den Grund gehen sollte. Antisemitismus hat
in Europa und Russland eine so lange Tradition, dass es berechtigt
sein kann, auch bei Goethe danach zu suchen.
Ich
bin mir jedoch nicht sicher, ob die Konzepte "Rassismus"
und "Antisemitismus" allein den Kern des Problems bei
der Philosophie Rudolf Steiners treffen. Vielmehr halte ich es
für fruchtbarer, von Rudolf Steiners evolutionistischem Welt-
und Menschenbild zu sprechen, wobei Evolutionismus Rassismus impliziert.
In
vielen europäischen esoterischen und okkulten Zirkeln, wie
den Rosenkreuzern und Theosophen, deren Mitglied Rudolf Steiner
gewesen war, herrschte um die Jahrhundertwende ein evolutionistisches
Weltbild vor.
Allerdings
standen die Esoteriker damit nicht allein: Naturwissenschaftler
wie Darwin, und nach ihnen die frühen Begründer der
sozialwissenschaftlichen Disziplinen (z.B. Spencer, Morgan, Bachofen
und auch Durkheim) dachten im 19. Jahrhundert merh oder weniger
explizit in evolutionistischen Modellen. In so fern haben die
Anthroposophie Rudolf Steiners, die Soziologie und Sozialanthropologie/Ethnologie
eine verwandte Geschichte. Letztere jedoch musste sich bereits
in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts als empirische
Wissenschaft diversen lokalen Realitäten und interner wissenschaftlicher
Kritik (z.B. durch Boas, Radcliffe-Brown, Malinowski) stellen.
Beim
Evolutionismus handelt es sich um eine naturphilosophische Richtung
des 19. Jahrhunderts, nach der die Entwicklung aller lebender
Organismen von niedrigen zu komplexen Formen verläuft. In
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildete sich der
soziologische Evolutionismus und Sozialdarwinismus heraus, dem
zu Folge menschliche Gesellschaften wie natürliche Systeme
von Organismen verstanden wurden, die sich ebenfalls in einer
Entwicklungsskala von niedrigen Existenzformen (z.B. Jäger-
und Sammlerscharen) zu höheren Gesellschaften befanden, die
den höchsten Individualisierungsgrad erreicht hatten. Nach
Spencer wurde in diesem Rahmen das sozialdarwinistische Gesetz
des "Survival of the Fittest" formuliert. Die Verbindung
zum Rassismus ist durch die Unterscheidung verschiedener menschlicher
Gesellschaften auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen gegeben;
die Wurzelrassentheorie entstand vor dem Hintergrund des soziologischen
Evolutionismus.
Der
esoterische Evolutionismus entwickelte sich analog zum biologischen
und soziologischen. In diversen Schriften spricht Rudolf Steiner
davon, dass die Entwicklungsstufen der alten Germanen, Inder,
Ägypter, Griechen und Römer analog zu bestimmten Entwicklungsstufen
des Kindes zu sehen sind. Dementsprechend ist der Lehrplan in
der Waldorfschule zugeschnitten: Zuerst lernt man die Germanen
kennen, viel später die Römer.
Bezug
nehmend auf den Beginn meines Briefes, kann anhand meines Erlebnisses
mit dem Pfarrer der Christengemeinschaft das anthroposophische
Weltbild gezeigt werden: Die Menschheit soll in verschiedene Gruppen
gegliedert sein (seien es Rassen, Völker oder Gesellschaften),
die sich auf unterschiedlichen geistigen Entwicklungsstufen befinden.
Die niedrigen Gruppen sollen durch ihr Aussehen, Lebensform und
technologischen Stand erkennbar sein, und dadurch, ob sie sich
gegen "fortschrittlichere" Gruppen wehren können
oder nicht.
Das
höchste Potenzial der Vergeistigung soll den Europäern
innewohnen, denn auf Europa fällt das Licht der geistigen
Gegenwart. Verschwinden niedrigere menschliche Gruppen - sei es
durch gewaltsamen Genozid oder durch (oft nicht weniger grausame)
Assimilationsprozesse - so soll dies der Weiterentwicklung der
gesamten Menschheit dienen. Analog zur biologischen Evolutionstheorie
würden nur die Fittesten überleben, und rudimentäre,
überholte Elemente von der Evolution allmählich eliminiert
werden.
Im
Internet findet man unter www.info3.de Informationen über
eine von der niederländischen Anthroposophischen Gesellschaft
eingesetzte Kommission, die überprüfen sollte, ob Rudolf
Steiner rassistisch war (leider wird nicht erwähnt, wie die
Kommission zusammen gesetzt war, etwa aus externen Experten oder
aus Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft selbst). Die
Kommission nannte als Gegenargument des Rassismusverdachts ein
Zahlenverhältnis von einer Promille rassistisch auslegbarer
Zitate gegenüber dem Gesamtwerk Steiners. Ein solch quantitatives
Argument ist jedoch ganz offensichtlich unseriös: Ein Philosoph
kann zu Beginn seines Werkes in einem einzigen Satz sein rassistisches
Weltbild darstellen und danach darauf nie wieder Rekurs nehmen;
trotzdem kann dieser eine Satz konstituierend für seine Gesamtposition
sein. Seit wann legen Anthroposophen mehr Wert auf Quantität
als Qualität?
Die
Kommission stellte anscheinend auch fest, dass Anthroposophie
und Sozialdarwinismus sich widersprechen. Was ist aber sozialdarwinistischer,
als die verschiedenen Aussagen Steiners, das Judentum habe sich
überlebt und die Juden müssten sich assimilieren, die
Indianer seien "verknöchert" und "herabgekommen",
also reif fürs Aussterben? "Nicht etwa deshalb, weil
es den Europäern gefallen hat, ist die indianische Bevölkerung
ausgestorben, sondern weil die indianische Bevölkerung die
Kräfte erwerben musste, die sie zum Aussterben führten."
Damit nicht genug - mit diesem Satz übertüncht Steiner
durch Andeutungen über Schicksal und Vorsehung die direkte
europäische Verantwortung für einen Genozid immensen
Ausmaßes.
Woher
nahm Rudolf Steiner die Selbstverständlichkeit, darüber
zu urteilen, welche menschliche Gesellschaft geistig dekadent
ist, sich überlebt hat, und sich am besten assimiliert?
Bezüglich
des von Ihnen diskutierten Antisemitismusverdachts sagen Sie,
Rudolf Steiner habe Religionen im Allgemeinen kritisch gegenüber
gestanden. Wenn er es fortschrittlich fand, dass sich die Juden
von ihrer Religion befreiten und sich assimilierten, welche Gesellschaft
hatte er im Sinn, an die sie sich assimilieren sollten? Welche
Gesellschaft war besser und versprach den "geistigen Aufstieg"?
Wenn
Rudolf Steiner so kritisch gegenüber Religionen war, und
die Anthroposophie als eine über den Religionen stehende
Methode erklärte, warum bekräftigte er dann ein - freilich
esoterisches - Christentum? Es scheint paradox, dass er selbst
ein religiöses Weltbild in Form der Anthroposophie und der
Waldorfpädagogik schuf: Als Waldorfschüler lebt man
im Jahreszyklus mit verschiedenen Erzengeln, dem Christgeburtsspiel,
Paradeisspiel, und diversen Andeutungen über Geisteswesen
und Kräfte.
Schließlich
weckt Ihr Vorschlag, Rudolf Steiner "multiperspektivisch"
zu lesen, in mir die Befürchtung, die kritischen Stellen
seines Werkes wohl wollend oder defensiv zu überlesen und
ihn somit seiner historischen Verantwortung als Philosoph zu entheben.
Die
niederländische Kommission befand, dass Rudolf Steiner Opfer
selektiver Entrüstung geworden sei und im Vergleich zu anderen
Zeitgenossen ungerecht behandelt werde. Dies ist schlichtweg falsch,
auch Philosophen wie Nietzsche und Heidegger sind in den letzten
Jahren in ähnlicher Weise kritisch gelesen worden.
Bei
einflussreichen Denkern sollte man doch genauer hinschauen, nicht
wahr? Die Opferhaltung, die hier unter den Anthroposophen eingenommen
wird, finde ich enttäuschend. Wenn die Anthroposophie auch
heute ernst genommen werden will, muss sie sich kritischen Fragen
stellen können.
Was
ist so schlimm daran, Rudolf Steiner nach sozialwissenschaftlicher
Manier in den Kontext seiner Zeit zu setzen? Warum fällt
es Anthroposophen so schwer, den gesellschaftlichen Hintergrund,
vor dem Rudolf Steiner gelebt und gedacht hat, mitzulesen, wie
bei jedem anderen Philosophen auch? Warum kann man als Anthroposoph
nicht sagen: Auch bei Steiner gab es Widersprüche und dunkle
Seiten?
Rudolf
Steiner als Wegbereiter des Holocausts darzustellen, ist sicherlich
übertrieben. Andererseits war er jedoch ein philosophischer
Spiegel seiner Zeit; dies wollen Anthroposophen ungern sehen:
Steiner ist nicht wie ein Stern vom Himmel gefallen.
Es
ist wohl auch deshalb so schlimm, Rudolf Steiner zu kontextualisieren,
weil man sich dann nicht bloss von Steiners Evolutionismus distanzieren
müsste, sondern weil dieser Evolutionismus dem gesamten anthroposophischen
Weltbild als Triebfeder inhärent ist, auch wenn dies in der
Schlussfolgerung der niederländischen Kommission aus unersichtlichen
Gründen verneint wird.
Ute
Siebert
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