Die Freiheit des subtilen Drucks
QU: Süddeutsche Zeitung Freitag, 17. März 2000
Waldorfschulen geraten immer wieder
in die Kritik wegen rassistischer Äusserungen ihres Gründers
Rudolf Steiner und ihres hermetischen Charakters
Guten Morgen, zwölfte Klasse,
grüßt die Lehrerin. Ihre 35 Schüsantworten mit dem Morgenspruch:
Ich schaue in die Welt, in der die Sonne leuchtet. Nach
dem Ritual setzen sie sich an ihre Holztische und greifen zu den Heften.
In der Waldorfschule im Märkischen Viertel in Berlin nimmt eine
normale Biologiestunde zum Thema embryonale Entwicklung
ihren Lauf, die in eine Diskussion über Abtreibung und Geschlechterrollen
mündet.
Biologie steht mehrere Wochen lang auf
dem Lehrplan der zwölften Klasse. Der sogenannte Epochenunterricht,
bei dem Deutsch, Mathematik, Geschichte und naturwissenschaftliche Fächer
blockweise über das Jahr verteilt gelehrt werden, ist eine der
Grundlagen der Waldorfpädagogik ebenso wie der Fremdsprachenunterricht
ab der ersten Klasse und die Betonung der künstlerischen und handwerklichen
Fächer. Einige dieser Ansätze werden längst auch an staatlichen
Schulen praktiziert. Andere Eigenheiten der Waldorfpädagogik werden
wohl bis zum Ende des nachatlantischen Zeitalters (in dem sich die Menschheit
laut Rudolf Steiner zur Zeit befindet) nur in rosa gestrichenen Gebäuden
mit schiefen Winkeln zu finden sein.
Ein wichtiges Waldorfspezifikum ist,
dass ein einziger Lehrer von der ersten bis zur achten Klasse den kompletten
Epochenunterricht erteilt ohne Schulbücher. Die Schüler
müssen so von Anfang an glauben, einem Universalgenie gegenüberzustehen.
Kritiker der Waldorfschulen verurteilen das Konzept deswegen als autoritär.
Auch einige Zwölftklässler an der Waldorfschule im Märkischen
Viertel sehen es kritisch: Eigentlich finde ich einen allwissenden
Übervater nicht gut, sagt die 18-jährige Nina.
Trotzdem sind die Berliner Schüler
insgesamt zufrieden. Vor allem genießen sie die Klassengemeinschaft
und den guten Kontakt zu den Lehrern. Die leistungsstärkeren
Schüler helfen den Schwächeren und mit den Lehrern
kann man auch über persönliche Probleme sprechen, sagt
Sarah. Ihr Mitschüler Sebastian ist gerade von einem Abstecher
zum Gymnasium reuig zur Waldorfschule zurückgekehrt. Ich
dachte, dass ich das Abitur da besser schaffe, aber man hatte keinen
Zugang zu den Lehrern, erzählt er. Außerdem kann
man hier in der Gemeinschaft zeigen, was man sich erarbeitet hat.
In der Klasse regt sich Spott: Klingt ja wie aus einer anthroposophischen
Monatsschrift!
Das Verhältnis der Schüler
untereinander und zu den Lehrern ist an Waldorfschulen offenbar wesentlich
besser als an Gymnasien. Das geht aus einer Studie des Deutschen Instituts
für internationale pädagogische Forschung vom vergangenen
Jahr hervor, bei der knapp 1000 Abiturienten von Gymnasien und Waldorfschulen
befragt wurden. Dabei wurden die Waldorflehrer von ihren Schülern
wesentlich positiver wahrgenommen, sowohl in ihrer Persönlichkeit
als auch in ihren fachlichen und pädagogischen Fähigkeiten.
Über Gründe gibt die Studie keine Auskunft. Waldorfschulen
sind in der Regel viel überschaubarer als andere Schulen. Anhänger
der Waldorfpädagogik loben das Engagement der Lehrer und die Betonung
der Gemeinschaft. Gegner kritisieren den hermetischen Charakter der
Anthroposophie.
In den letzten Jahren hat sich dieser
Konflikt immens verschärft. Einerseits ist die Zahl der Waldorfschulen
seit der Wende stark gestiegen: 1990 gab es bundesweit 118 Waldorfschulen,
heute sind es 174 mit rund 70 000 Schülern. Obwohl die Eltern ein
nach Einkommen gestaffeltes Schulgeld zahlen müssen. Gleichzeitig
melden sich immer mehr enttäuschte Waldorfschüler, - eltern
und -lehrer.
Zwang zur Gemeinschaft
Sybille Jacob von der 1996 gegründeten
Initiative zur Anthroposophie-Kritik nahm ihre drei Kinder
von der Augsburger Waldorfschule, weil der Jüngste nach zwei Schuljahren
nicht lesen konnte und sie in den Geschichtsheften der Älteren
historische Daten über Steiners Atlantis
entdeckt hatte. An Waldorfschulen herrsche eine Atmosphäre subtilen
Drucks, erzählt Sybille Jacob: Die Eltern müssen ständig
zu Gesprächskreisen. Das ist angeblich freiwillig aber wehe,
man geht nicht hin!
In seinem Buch Wie frei ist die
Waldorfschule berichtet Paul-Albert Wagemann von Prügel-Attacken
überforderter Waldorflehrer auf Schüler. Ende Februar klagten
anonyme Mütter in der ARD-Sendung Report darüber,
dass ihren Kindern im Unterricht rassistische Anschauungen und Völker-Stereotypen
vermittelt worden seien. Die Sprecher der Waldorfschulen ziehen den
Wahrheitsgehalt solcher Berichte in Zweifel oder werten sie als Ausrutscher
einzelner Lehrer.
Eine umfassende Untersuchung unabhängiger
Pädagogen über die positiven und negativen Wirkungen der Waldorfschulen
gibt es bislang nicht. Erziehungswissenschaftliche Fakultäten ignorieren
die Waldorfpädagogik weitgehend. Das liegt vor allem an der quasi-religiösen
Fixierung der Waldorfpädagogik auf ihren Begründer Rudolf
Steiner. Dessen 1919 geschaffener Lehrplan gilt im Prinzip noch heute.
Da Steiner die Entwicklung jedes einzelnen Kindes analog zur Entwicklung
der Menschheit sah, wird zum Beispiel in der vierten Klasse germanische
und in der fünften griechische Mythologie durchgenommen. Und manche
Lehrer stellen bis heute Steiners Vorstellungen von Luft- und Feuergeistern
als Tatsachen dar.
Kuriose und oft widersprüchliche
Zitate lassen sich in dem rund 360 Bände umfassenden Werk Rudolf
Steiners genug finden. Der Bund der Freien Waldorfschulen verschwendet
viel Energie damit, den skandalumwitterten Ausführungen des Meisters
über das Triebleben des Negers oder den Zusammenhang
zwischen Blondheit und Gescheitheit andere Zitate entgegenzustellen,
die Steiners Toleranz und Weltbürgertum nachweisen sollen. Tatsächlich
scheint die Frage nach Steiners rassistischen Tendenzen müßig,
angesichts seiner wirren Phantasien über Astral- und Ätherleiber,
Karma, Weltzeitalter und Elementargeister. Mit ihrer Kritik an der materialistischen
Weltanschauung läuft die Anthroposophie Gefahr, den Unterschied
zwischen Glauben und Wissen gleich mit über Bord zu werfen. Weil
die Erziehungswissenschaft sich von einer Theoriedebatte nichts verspricht,
ist auch die Praxis an den Waldorfschulen kaum erforscht.
Nicht einmal von den Anthroposophen
selbst: Die Waldorfleute haben sich mehr mit Steiners Nachlass
beschäftigt als mit praktischen Fragen, sagt der Sprecher
des Bundes der Freien Waldorfschulen, Walter Hiller. In den letzten
Jahren aber sei einiges in Bewegung gekommen. So erproben einige Schulen
eine Klassenlehrer-Zeit von nur sechs Jahren. Fernsehen und Fußball
werden nicht mehr pauschal verdammt, und die Klischee-Waldorflehrerin
in Wollgewand und Gesundheitssandalen ist in natura kaum noch zu beobachten.
Medien wurden lange sehr moralinsauer behandelt, sagt Hiller.
Die Waldorfschule im Märkischen Viertel will jetzt einen PC anschaffen,
nachdem Schüler des Computertechnologie-Kurses selbst ein computergesteuertes
Fahrzeug gebaut haben. Die Berliner Schule will auch die waldorf-spezifische
Scheu vor offenen Konflikten überwinden die Lehrer denken
darüber nach, in der Schulleitungskonferenz Abstimmungen einzuführen.
Am Ende könnte gerade die Expansion
der Waldorfschulen eine Öffnung vorantreiben. Jedes Jahr werden
bundesweit 500 neue Lehrer gebraucht, und längst nicht alle haben
eine Ausbildung am waldorfpädagogischen Seminar hinter sich. Anthroposophen
forderten deshalb einen Gründungsstopp. Die Schüler dagegen
schätzen die Neuzugänge. Einige von den alten Lehrern
sind ziemlich abgehoben, sagt der Zwölfklässler Tobias.
Eben die, die noch mit Steiner gefrühstückt haben.
Miriam Hoffmeyer