Die
zweite Generation nach dem Holocaust
von Ines Danziger
Anm. AKdH: Ines Danziger verstarb im Oktober 2001.
Sie war Mitglied der AKdH
Identitätskonflikte
und psychosoziale Auswirkungen des Holocausts
Veröffentlicht in "Ein Ast bei Nacht kein Ast". 1995
Herausgeber: Jörg Wiesse / Erhard Olbrich
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht; Göttingen Zürich
Erste
und zweite Generation
Als
erste Generation werden die Menschen bezeichnet, die wegen ihrer
Zugehörigkeit zur " jüdischen Rasse " - so die
Definition des deutschen Nationalsozialismus - in die Konzentrationslager
geschickt wurden und die überleben konnten. Dazu gehören
auch jene, die dem Nazismus entfliehen konnten und nicht durch die
" Lager " gingen. Diese überlebenden Emigranten bilden
die letzte Generation ihrer ermordeten Familien. Sie leben heute
größtenteils verstreut in der Welt. In dem sie eine neue
Familie gründeten, was für sie ein authentischer Gründungsakt
war, konstituierten sie zugleich eine neue erste Generation. Es
gäbe viel zu sagen über die psychosozialen Auswirkungen
des Holocaust in der ersten Generation, aber das ist ein anderes
Thema. Ich werde mich im folgenden auf die Kinder der ersten Generation
beziehen, das heißt, auf die zweite Generation, die zwischen
Mitte der vierziger und Mitte der sechziger Jahre geboren ist.
Die
Eltern litten sehr unter dem schweren Verluste ihrer Heimat, dies
beinhaltete ihre gefühlsmäßigen, familiären,
freundschaftlichen und Arbeitsbeziehungen. Sie mußten auf
Anordnung der Nazigesetze ihre ökonomische, soziale, intellektuelle
und /oder professionelle Stellung aufgeben. Selbstverständlich
ist dieser Verlust von Person zu Person unterschiedlich, aber allen
ist die Zerstörung ihrer Familie und die Entziehung ihrer Nationalität
gemeinsam.
Was
bedeutet es ein Sohn oder eine Tochter nach der Verfolgung und dem
Massenmord zu sein? Ein Kind war zumindest das Symbol für das
Leben und die Kontinuität der Existenz. Es geht hier vor allem
um das diffizile Problem, die Trauer zu verarbeiten, wenn der Körper
des toten Angehörigen nicht auffindbar ist und die Rituale
der Beerdigung nicht stattfinden können. Die Kinder ermöglichen
nun den Eltern, die Phantasie, daß die Toten ersetzbar wären
und nichts verloren gegangen sei.
So
berichtete mir beispielsweise eine Patientin von dem Konflikt, daß
deren Mutter von der physischen Ähnlichkeit und von bestimmten
Charakterzügen der ermordeten Großmutter sprach, und
sie nicht
wußte, bis zu welchem Punkt das tatsächlich der Wirklichkeit
entsprach.
Die
zweite Generation wurde mehrheitlich in den Ländern geboren,
in die ihre Eltern geflüchtet waren. Selbstverständlich
wurde ihr Leben von der ökonomischen, sozialen, kulturellen,
religiösen und politischen Situation jener Länder bestimmt.
Auch Spanier, Italiener und andere waren Emigranten, aber in diesem
Fall handelte es sich mehr oder weniger um einen freiwilligen Akt
handelte, der aus ökonomischen und/oder politischen Gründen
vollzogen wurde.
Um
es mit den Worten von Bertolt Brecht zu sagen: Emigranten wie man
uns nannte, schien mir immer die falsche Bezeichnung zu sein , den
das sind Menschen, die ihr Land verlassen, um in einem anderen zu
leben. Aber wir gingen von unserem Land nicht freiwillig fort ,
um uns ein neues auszusuchen. Was wir taten, war fliehen . Wir wurden
hinaus getrieben, verbannt; Ach! Die Stille der Stunden täuscht
uns nicht! Wir hören das Schreien der Lager bis hierher. "
Im
Falle der politischen Verfolgung wußten die Kinder, daß
die Eltern für ihre Ideale gekämpft hatten, was diese
dann in den neuen Ländern auch weiter taten. Die zweite Generation
hingegen mußte sich der Tatsache stellen, daß ihre Familienangehörigen
wegen der sogenannten Rassenfrage von ihren eigenen Landsleuten
auf massive Art verfolgt und ermordet wurde. Das war - nach Raquel
Hodara, eine in Israel lebenden Argentinierin -ein Fall in der Geschichte,
daß " Bürger, Dozenten, Lehrer, Schüler, Ärzte,
Patienten von ihren eigenen deutschen Mitbürgern " ermordet
wurden und dies nicht aus politischen, ökonomischen und/oder
territorialen Gründen. Dennoch bin ich der Ansicht, daß
die Rassenfrage ökonomische und politische Interessen und Vormachtstellungen
im kulturellen, wissenschaftlichen und künstlerischen Leben
verdecken und rechtfertigen sollte.
Allen Juden wurden zunächst einmal ihre materiellen Güter
per Gesetze enteignet. Darüber hinaus waren die Juden an wichtigen
Stellen im kulturellen, künstlerischen, wissenschaftlichen
und politischen Leben vertreten, obgleich im letzteren weniger zahlreich.
Es ist wichtig, daran zu erinnern, daß die deutschen Juden
Mitte des vergangenen Jahrhunderts mit den deutschen Bürgern
rechtlich gleichgestellt wurden. Sie waren in den oben genannten
Bereichen aktiv vertreten - von den bekanntesten Namen wie Freud,
Buber, Einstein, Benjamin, Mahler, Stefan Zweig einmal abgesehen.
Die von ihnen durch eigenen Verdienst eingenommenen Positionen,
wurden ihnen von, Menschen streitig gemacht und genommen, die kein
anderes Argument als Entrechtung und Gewalt kannten.... Aber die
erste Generation sprach von all dem kaum...
Das
schwarze Loch
Die
Informationen, die die Eltern weitergaben, waren minimal. Einige
Gründe dafür - und ich werde hier nicht ausführlich
darauf eingehen - waren das Schamgefühl, die Furcht, nicht
verstanden zu werden oder sogar nicht gehört zu werden und
auch der Wunsch, den Kindern die erlebten traumatischen Situationen
zu ersparen.
Ein
Mann erzählte mir, daß er sich erst nach vielen Jahren
der Psychotherapie der Tatsache bewußt wurde, daß seine
Eltern ihm eigentlich sehr wenig erzählt hatten. Und als er
den Wunsch verspürte, Fragen zu stellen - worauf er übrigens
vorher überhaupt nicht gekommen war -, waren seine Eltern bereits
tot.
Unbeschreibliche
Gefühle, die nicht in Worte übersetzbar sind, begleiteten
ihn. Ich habe es das schwarze Loch genannt, das wie ich es erfahren
habe von einigen so definiert wurde. Meiner Ansicht wurden einige
Aspekte der psychischen Folgen durch den Mantel des Schweigens bekräftigt.
Das schwarze Loch ist eine Zone der Leere, des " irgend etwas
Furchtbares ist passiert, aber nun ist es vorbei ". Es ist
eine Zone scheinbarer Ruhe und Normalität, wobei jedoch im
Inneren ein Gefühl der Irrealen herrscht. Irgend etwas Schreckliches
liegt in der Luft, etwas von einer Katastrophe, die bevorsteht oder
bereits eingetreten ist - es ist ein Schrecken, der nicht zu benennen
ist, mit den Augen nicht erfaßt werden kann, der jedoch allgegenwärtig
ist. Seine Form ist die Nicht-Form, seine Farbe ist die Farblosigkeit.
Es
ist ein Land, Deutschland, das nicht betreten wird. Es sind Filme
über die Nazizeit, die nicht angesehen werden. Es ist eine
Sprache, die deutsche Sprache, die man im Verborgenen lernt zu lesen,
und die man dennoch besser spricht als mancher Einheimische. Es
sind die Großeltern, die man nicht kennengelernt hat, erniedrigt,
deportiert, ermordet oder, im besten Fall, ausgewandert in ein fernes
Land, wo sie sich zu Tode grämten. Meine Großmutter Marta
wurde nicht zur europäischen Emigrantin, die "NONA",
(italienischer Kosename für Großmutter) die die harte
Erde Italiens gepflückt hatte und trotzdem Hunger litt oder
eine alte Frau mit einem Rosinengesicht, ihr Kopf bedeckt mit einem
schwarzen Schal, die an der Tür eines Hauses in der spanischen
Steppe Kastilliens daran dachte, wie sie ihre Kinder ernährte.
Nein, das Photo, das ich in der Hand halte zeigt, das Großmutter
eine phantastische Frau war mit einem prächtigen Kleid, das
bis zum Boden reicht, mit der Haltung einer Prinzessin und einem
vornehmen Blick; die Finger streifen nachdenklich ihr Gesicht und
Frau erkennt sich an dieser Geste wieder. Aber Großmutter
starb nicht als alte Frau eines sanften Todes; sie starb auch nicht
wie ihre 3jährige Tochter an Scharlach als das Penizillin noch
nicht entdeckt war. Nein, diese Großmutter wurde erschossen
oder vergast.
Was
bedeutet das für ein Kind? Vergast. Nichts und alles, eine
fehlende Generation, eine grauenhafte, durch nichts zu füllende
Leere. Da gibt es keine Großeltern, die das Kind verwöhnen.
Der Fluß des Lebens endet bei den Eltern. Keine Onkel zur
Linken, keine Tante zur Rechten; Cousins und Cousinen fallen aus
der Landkarte. Sie sind weit gestreut und von Familiengesinnung
ist fast nichts mehr übrig.
Ein
kleines Mädchen der zweiten Generation singt seinem Vater ein
Lied vor, das es in der Schule gelernt hat: "Mambru zog in
den Krieg, wer weiß, wann er zurückkehrt". Diesmal
lächelt der Vater,der seinen Vater als deutsch-jüdischer
Reservist in Verdun verlor, sein kleines Mädchen nicht an,
diesmal lobt er es nicht für das in der Schule Gelernte. Da
ist nur eine ernste Geste, und die Mutter sagt: " Sing das
nie wieder im Beisein deines Vater." Das Mädchen weiß
, daß der Großvater in einen Krieg gezogen war, in dem
er für seine Heimat gekämpft hatte, und daß er nicht
zurückkam, weil man ihn getötet hatte. Das Normalste ist
der Tod einer Tante, die Schwester des Vaters, die mit drei Jahren
an einer Krankheit starb. Es ist der Gipfel der Normalität,
an Scharlach zu sterben, in einer Familie, deren Großmutter
in Deutschland blieb, weil sie die Witwe eines für Deutschland
Gefallenen war. "Mir wird schon nichts passieren. Ich bleibe
hier, um unser Eigentum zu pflegen bis ihr zurückkommt."
Und
als die Mutter dem Mädchen voller Begeisterung die Märchen
der Gebrüder Grimm erzählt, bittet die Kleine. "
Erzähl mir wahre Geschichten von dir und von Papa." Grimms
Märchen können ja nicht gemocht werden von jüdischen
Kindern, deren Großeltern wirklich in die Öfen von ihren
Mördern gesteckt wurden.
Der
Antisemitismus
Ich
habe eingangs gesagt, daß die Situation des jeweiligen Aufnahmelandes
das Leben der Menschen der zweiten Generation unterschiedlich gestaltete.
Hier muß nun etwas zu den Besonderheiten der argentinischen
Geschichte gesagt werden. Ich will nicht die Geschichte des Antisemitismus
in Argentinien schildern. Ich will mich darauf beschränken,
einige Merkmale des jüdischen Lebens zu benennen. Es gibt gewisse
Möglichkeiten der soziale Mobilität im ökonomischen
Bereich. Diese verringern sich, wenn es um den Zugang zur politischen
Macht geht. In den Streitkräften werden Juden nicht aufgenommen.
Wenn
auch diese und andere Fragen nicht die zweite Generation allein
betreffen, so vertrete ich doch die These, daß wegen der früheren,
mit der Familiengeschichte verbundenen Traumata die neu hinzukommenden
immer schwieriger zu verarbeiten sind, und daß Familiengeschichte
in einem feindlichen Kontext ein größeres Gewicht erlangt.
Die
zweite Generation hat ständig unter Militärregime gelebt,
mit Regierungen, die - von früheren Staatsstreichen abgesehen
- in den Jahren 1943, 1955, 1962, 1966, und 1976 immer wieder die
Verfassung außer Kraft gesetzt haben. Unter der letzten dieser
Regierungen sind einige junge Leute der zweiten Generation verschwunden.
Ich bin der Auffassung, daß dies nach dem Ende der Militärdiktatur,
als über die Ereignisse gesprochen wurde, folgende Wirkung
auf die zweite Generation hatte: Es gab dem, was in Deutschland
geschehen war, einen neuen Sinn, auch wenn der Holocaust wegen seiner
charakteristischen Merkmale ein in der Geschichte einmaliger Fakt
war. Die Geschehnisse des Holocausts verkörperten bis zur argentinischen
Militärdiktatur (1976 - 1983), etwas, das sich an einem fernen
Ort und in einer weit zurückliegenden Zeit ereignet hatte und
das sich niemals wiederholen würde. Mit dieser Sicht wuchs
die zweite Generation auf.
Dazu
gehörte auch die Vorstellung, daß die Nazis, wenn nicht
tot, so doch zumindest in Deutschland verurteilt waren. Die Militärdiktatur
in Argentinien bewies, daß das System des spurlosen Verschwindenlassens
und der Folter weiter existierte und sich als äußerst
vital erwies. In Analogie zur Situation in Argentinien, wo Kinder
und Enkelkinder spurlos verschwanden, tauchte nun wieder der Gedanke
an die spurlos verschwundenen Großeltern auf, während
der Nazizeit. Die Erfahrung, daß jüdische Häftlinge
in den Lagern der argentinischen Militärdiktatur neben der
Folter auch Schmähungen wegen ihrer jüdischen Herkunft
erleiden mußten, lieferte der zweiten Generation den Beweis
dafür, daß der Antisemitismus in Argentinien existierte,
auch wen er in der breiteren Gesellschaft kein Konsens hatte.
Davon
waren auch diejenigen betroffen, die sich entweder aus einer Protesthaltung
heraus und/oder durch das Negieren der Schrecken jüdischer
Geschichte von der Gemeinschaft der Juden entfernt hatten. Es machte
die Konzentrationslager zu etwas Gegenwärtigem und gab Ihnen
einen neuen Sinn. Es trug dazu bei, je nach individueller Voraussetzung,
das Konzentrationslagersyndrom, das ich noch beschreiben werde,
zu verankern. Das Grauen konnte nun an jeder Straßenecke lauern.
Das Imaginäre wurde zu einer psychotischen Realität, eine
Suche der Wahrheit die hier nicht endet... und die neue dramatische
Akte beinhaltet: die Schändung von 111 Gräbern auf dem
jüdischen Friedhof von Berazategui ( 1991 ).
Und
wieder wurde besser nicht darüber gesprochen. Die jüdischen
Stimmen formten sich zu einem Chor der Verdrängung, wieder
wirkten die Mechanismen der Negation, der Minimierung, der Relativierung,
der Selbstentwertung eines Volkes, das im Verlaufe der Geschichte
geschlagen wurde, und das sich auf diese Weise gegen so viel sinnloses
Leid wehrt. Das jahrzehntelange Verschweigen der Überlebenden
der Konzentrations- und Vernichtungslager liegt in der Unmöglichkeit
begründet, so viel Grauen zu benennen und zu Gehör zu
bringen. Daher schweigen auch weiter hin die Stimmen der Empörung
in Argentinien, beziehungsweise einige jüdische Funktionäre
nehmen den Status quo hin. Nachdem dies geschrieben wurde, ereignete
sich das Attentat auf die israelische Botschaft in Buenos Aires
und der Anschlag auf die Zentralverwaltung der Juden in Argentinien
(AMIA).
Das
Konzentrationslagersyndrom in der zweite Generation
Dieser
Teil der Studie ist für mich der Schwierigste ...Mir scheint,
mir fehlt das Wissen. Gleichzeitig bin ich versucht, alles zu zitieren,
was ich im Laufe meines Lebens gelesen habe, aber das führt
mich nicht weiter. Bringe ich diese Arbeit nicht zu Ende, kann ich
das Notwendige nicht vermitteln. Der Weg, den ich gefunden habe,
um beginnen zu können, ist der des Schreibens über meine
Befindlichkeit. Auch die bisherigen Ausführungen sind ein Ensemble
von Haltungen, Verhaltensweisen, Phantasien, eine Widerspiegelung
dessen, was der ersten Generation und Ihren ermordeten Angehörigen
zugestoßen ist. Zunächst erinnere ich an die These von
den sich überlagernden Traumata, wobei ein neu hinzukommendes
die früher bereits vorhandenen verschärft. Zugleich wird
die Verarbeitung insgesamt immer schwieriger. Es ist wichtig, die
posttraumatischen Auswirkungen anzugehen, die in jeder Gewaltsituation
auftreten und die in der klinischen Arbeit auch bei Fällen
von Gewalt in der Familie zu beobachten sind, weil sie neue Symptome
hervorbringen.
Sie
wurden von der ersten Generation erlitten und tauchen in der zweiten
Generation wieder auf. Einige davon sind Beklemmung, emotionale
Labilität, Schwierigkeiten bei der Anpassung an konfliktreiche
Situationen im Alltagsleben, Schlafstörungen, Hypochondrie,
psychosomatische Episoden oder Krankheiten. Viele Patienten, die
an diesem Kozentrationslagersyndrom litten, wurden von ihren Therapeuten
falsch behandelt, weil das besagte Syndrom erst zwanzig Jahre nach
Kriegsende - in den USA - zu erforschen begonnen und vorher darüber
nicht gesprochen wurde.
Bei
meiner Supervisionstätigkeit habe ich Verweigerungshaltungen
zwischen dem Patienten und dem Therapeuten bezüglich der Familiengeschichte
festgestellt. Es wird nicht über den Holocaust gesprochen und
man berücksichtigt seine Konsequenzen nicht. Die erste Generation
deutschsprachiger Juden litt - so weit ich die Fälle selbst
beobachten konnte - ein Leben lang an Depressionen und Schuldgefühlen,
die oftmals verschleiert wurden, aber die als Spätfolgen wieder
auftauchten. In manchen Fällen waren es Krankheiten, die Aggressionen
gegen den eigenen Körper bedeuteten, deren Folgen mehr oder
weniger schwerwiegend oder auch der Tod waren.
Aufgaben
Die
zweite Generation hatte zwei grundlegende Leistungen zu erbringen.
Sie sollte sich der nicht verarbeiteten Trauer ihrer Eltern über
die erlittenen Verluste annehmen, und sie sollte das Leben der Eltern
in Ordnung bringen. Dazu ein Beispiel : "Es erschien mir immer
logisch, mich mit meinen Eltern, ihren physischen Beschwerden und
ihren Problemen zu beschäftigen. Ich glaubte, ich würde
nach und nach unabhängig, aber ich lebte in ständiger
Abhängigkeit von ihnen. Ich tat mein Möglichstes, um es
ihnen recht zu machen, aber sie waren durch nichts zu befriedigen.
Wenn ich etwas tat, was nicht dem entsprach, was sie dachten, wurde
das Klima zu Hause unerträglich, und mein Vater sagte: Wenn
du willst, heirate einen Goy (nicht Jude); das ist eine Sache deines
Gewissens. Aber ich werde von meinem Posten in der Kommission abtreten
müssen ... Und es schien, als müsse der König von
England abdanken, weil seine Tochter einen Plebejer heiratete. Der
englische König, der tatsächlich abdankte, um eine Plebejerin
zu heiraten, erhielt dafür wenigstens die Liebe einer Frau.
Mein Leben lang hatte ich das Gefühl, nichts zu erhalten. Nichts
von dem, was ich tat, war von Nutzen. Wenn etwas mißlang,
war mir, als seien nun alle Möglichkeiten für mich verloren,
wenn mir etwas gelang, stießen die Worte meiner Freunde, die
mich von meinem Wert überzeugen wollten, auf taube Ohren."
Diese Worte einer Frau, die viele Jahre lang Psychoanalysepatientin
war, zeigen, wie schwierig es ist, sich von diesen Eltern, die so
gelitten hatten abzugrenzen. Das Beziehungsmodell war die Symbiose
und/oder die Isolation. Manchmal beeinträchtigt dies bestimmte
Bereiche des Lebens, aber nicht unbedingt alle.
Dazu
ein weiteres Beispiel: " Im Beruf komme ich gut zurecht, aber
mit meiner Partnerin geht es nicht. Sie oder ich, einer ist schließlich
immer tödlich verletzt und die Beziehung ist dann nicht mehr
zu retten."... Was einige in den Konzentrationslagern am Leben
erhielt, war die Hoffnung, das Geschehene weitererzählen zu
können. Hier in Argentinien oder dort unter dem Naziregime....
Alle
Eltern geben ihren Kindern Gebote und Verbote für den Lebensweg.
Für die zweite Generation gab es besondere und widersprüchliche
Gebote. Es war unmöglich, sie alle zu erfüllen, denn das
" konnte man den Eltern, die so viel gelitten haben "doch
nicht antun. Es war unmöglich, einige Gebote zu erfüllen,
ohne andere wie " Glücklichsein " zu verletzen. Das
war nicht zu leisten inmitten einer schleichenden, nicht verbalisierten
Traurigkeit, in einer Atmosphäre des " nichtnachdenken,
denn das Überleben erfordert Pragmatismen " oder des so
zu tun, " als wüßten die Kinder nicht, was offenkundig
wird durch Gesten, Befehle und psychosomatische Symptome, die die
Familiengeheimnisse nur so hinausschreien.
Es
sind Fragmente einer Geschichte, einem Puzzle mit vielen fehlenden
Teilen vergleichbar. In der Schweiz sah ich im Hause einer Familie
mit Angehörigen der ersten Generation zwei jener Puzzles, die
sich aus vielen Teilen zusammensetzen. Sie bildeten eine deutsche
Landschaft ab, und diese wurde von der argentinischen Tochter der
zweiten Generation mit den Lebensstationen Buenos Aires - - Israel
- München - Israel Stück für Stück zusammengesetzt
... Das entstehende Werk war gleichsam Ausdruck einer Rekonstruktion
des Verlorenen: Für die Eltern das Lebensgefühl wiedererlangen,
Lebensstütze sein, die Zerstörung und den Tod wiedergutmachen.
Das
sind Aufgaben, die unmöglich zu erfüllen sind, oder nur
auf Kosten von mehr oder weniger schwerwiegenden psychischen, psychosomatischen
Symptomen... So schwingt in den letzten Worten " Wie soll denn
jemand wie du Probleme haben", die beispielsweise ein Vater
seiner Tochter am Telefon sagt, immer unausgesprochen der Vorwurf,
" dir muß es gut gehen, denn uns ging es schlecht".
Das ist verständlich, wenn wir an das Schicksal der Verfolgung
und der Opfer denken, den Hunger, die Kälte, die Zwangsarbeit,
das Gas, an die vernichtete Generation und an die psychischen Folgen
für die erste Generation. Aber ein an der Fakultät nicht
bestandenes Fach, eine abgewiesene Liebe, eine schlecht bezahlte
Arbeit oder das Fehlen von Arbeit sind auch schwerwiegende Probleme
in der gegenwärtigen Realität, denn sie betreffen ja direkt
die eigene Existenz und letztlich auch das Überleben, besonders,
wenn wir daran denken, daß das ganze Gerede von " alle
Juden sind reich" ein verlogener Mythos ist.
Die
zweite Generation fühlte sich - mehr als andere Kinder - gerade
zu verpflichtet, die Wünsche und Erwartungen der Eltern zu
befriedigen. Wenn sie dieses Gebot verletzten, waren die Kinder
von einem tiefen Schuldgefühl durchdrungen. Jeder von ihnen
wurde mehr oder weniger zu einem lebenden " Jahrzeitlicht"
( ein Licht, das man an dem Todestag eines toten Familienangehörigen
anzündet ).
Während
ich diesen Artikel schreibe, lese ich ein überliefertes Dokument
von Familienangehörigen der Opfer des Holocausts. Diese wurde
von den deutschen Behörden am 25.5.1959 ausgestellt wurde :
" Die Erblasserin ( ? )* wurde aus rassischen Gründe,
weil sie Jüdin war, verfolgt. Ihren letzten Wohnsitz hatte
sie in Breslau ... In der Freiheit war sie Vorurteilen ausgesetzt
: 1. das Tragen des ( jüdischen ) Stern in Breslau und Tormersdorf
seit dem 19.9.1941 bis 1942,
2. Deportierung nach Theresienstadt von 1942 bis zum 15.10.1944,
3. Deportierung nach Auschwitz/Birkenau am 15.10.1944 (Vernichtungslager)
Es gibt keine Grundlage für ein Überleben nach dem 31.10.1944."
Drei Jahre später, 1947, wurde in Buenos Aires ihre einzige
Enkeltochter geboren.
Das
Fragezeichen ist meins.
Ines Margarita Danziger
Literatur
Autorenkollektiv
: Argentinien. Psychoanalyse. Politische Repression. Bueneos Aires
1986.
Bettelheim
Bruno: Überleben. Der Holocaust, eine Generation danach. Grijaldo,
Barcelona 1983.
Bundesverfassung
der Argentinische Republik.
Danziger
Ines Margarita: Frauenbewegungen in der Welt. Dritte Welt Frauenbewegung
in Argentinien. Argument Verlag. Hamburg. 1989.
Danziger
Ines Margarita: Jüdische Wochenschau. (Semanario Israelita.)
24-5-91. 5-7-91.
Freud
Sigmund: Gesammelte Werke.Buenos Aires. 1986.
Grunfeld
F. : Verdammte Propheten. Die tragische Welt von Freud, Mahler,
Einstein und Kafka. 1988.
Johnson
Paul: die Geschichte der Juden. Verlag Javier Vergara. Buenos Aires
. 1991
Sarte
Jean Paul : Nachdenken Über die jüdische Frage. Buenos
Aires 1988.
Schwarz Alfredo.: Die deutschsprachigen Juden in Argentinien. Und
trotz alledem. 1991.
Senkmann Leonardo : Der Antisemitismus in Argentinien. Band I C.E.A.L.
1986.
Nie wieder.(Nunca Mas). Buenos Aires 1991.
Zeitschrift
für Psychoanalyse. 34 Kongress. Hamburg.1986
Zeitschrift
"Das Licht"(La luz) Buenos Aires 24. 5.91
Ines
Margarita Danziger
Veröffentlicht
in "Ein Ast bei Nacht kein Ast"
Herausgeber: Jörg Wiesse / Erhard Olbrich (Hg.)
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht; Göttingen Zürich
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