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Die zweite Generation nach dem Holocaust
von Ines Danziger

Anm. AKdH: Ines Danziger verstarb im Oktober 2001.
Sie war Mitglied der AKdH

Identitätskonflikte und psychosoziale Auswirkungen des Holocausts

Veröffentlicht in "Ein Ast bei Nacht kein Ast". 1995
Herausgeber: Jörg Wiesse / Erhard Olbrich
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht; Göttingen Zürich

Erste und zweite Generation

Als erste Generation werden die Menschen bezeichnet, die wegen ihrer Zugehörigkeit zur " jüdischen Rasse " - so die Definition des deutschen Nationalsozialismus - in die Konzentrationslager geschickt wurden und die überleben konnten. Dazu gehören auch jene, die dem Nazismus entfliehen konnten und nicht durch die " Lager " gingen. Diese überlebenden Emigranten bilden die letzte Generation ihrer ermordeten Familien. Sie leben heute größtenteils verstreut in der Welt. In dem sie eine neue Familie gründeten, was für sie ein authentischer Gründungsakt war, konstituierten sie zugleich eine neue erste Generation. Es gäbe viel zu sagen über die psychosozialen Auswirkungen des Holocaust in der ersten Generation, aber das ist ein anderes Thema. Ich werde mich im folgenden auf die Kinder der ersten Generation beziehen, das heißt, auf die zweite Generation, die zwischen Mitte der vierziger und Mitte der sechziger Jahre geboren ist.

Die Eltern litten sehr unter dem schweren Verluste ihrer Heimat, dies beinhaltete ihre gefühlsmäßigen, familiären, freundschaftlichen und Arbeitsbeziehungen. Sie mußten auf Anordnung der Nazigesetze ihre ökonomische, soziale, intellektuelle und /oder professionelle Stellung aufgeben. Selbstverständlich ist dieser Verlust von Person zu Person unterschiedlich, aber allen ist die Zerstörung ihrer Familie und die Entziehung ihrer Nationalität gemeinsam.

Was bedeutet es ein Sohn oder eine Tochter nach der Verfolgung und dem Massenmord zu sein? Ein Kind war zumindest das Symbol für das Leben und die Kontinuität der Existenz. Es geht hier vor allem um das diffizile Problem, die Trauer zu verarbeiten, wenn der Körper des toten Angehörigen nicht auffindbar ist und die Rituale der Beerdigung nicht stattfinden können. Die Kinder ermöglichen nun den Eltern, die Phantasie, daß die Toten ersetzbar wären und nichts verloren gegangen sei.

So berichtete mir beispielsweise eine Patientin von dem Konflikt, daß deren Mutter von der physischen Ähnlichkeit und von bestimmten Charakterzügen der ermordeten Großmutter sprach, und sie nicht
wußte, bis zu welchem Punkt das tatsächlich der Wirklichkeit entsprach.

Die zweite Generation wurde mehrheitlich in den Ländern geboren, in die ihre Eltern geflüchtet waren. Selbstverständlich wurde ihr Leben von der ökonomischen, sozialen, kulturellen, religiösen und politischen Situation jener Länder bestimmt. Auch Spanier, Italiener und andere waren Emigranten, aber in diesem Fall handelte es sich mehr oder weniger um einen freiwilligen Akt handelte, der aus ökonomischen und/oder politischen Gründen vollzogen wurde.

Um es mit den Worten von Bertolt Brecht zu sagen: Emigranten wie man uns nannte, schien mir immer die falsche Bezeichnung zu sein , den das sind Menschen, die ihr Land verlassen, um in einem anderen zu leben. Aber wir gingen von unserem Land nicht freiwillig fort , um uns ein neues auszusuchen. Was wir taten, war fliehen . Wir wurden hinaus getrieben, verbannt; Ach! Die Stille der Stunden täuscht uns nicht! Wir hören das Schreien der Lager bis hierher. "

Im Falle der politischen Verfolgung wußten die Kinder, daß die Eltern für ihre Ideale gekämpft hatten, was diese dann in den neuen Ländern auch weiter taten. Die zweite Generation hingegen mußte sich der Tatsache stellen, daß ihre Familienangehörigen wegen der sogenannten Rassenfrage von ihren eigenen Landsleuten auf massive Art verfolgt und ermordet wurde. Das war - nach Raquel Hodara, eine in Israel lebenden Argentinierin -ein Fall in der Geschichte, daß " Bürger, Dozenten, Lehrer, Schüler, Ärzte, Patienten von ihren eigenen deutschen Mitbürgern " ermordet wurden und dies nicht aus politischen, ökonomischen und/oder territorialen Gründen. Dennoch bin ich der Ansicht, daß die Rassenfrage ökonomische und politische Interessen und Vormachtstellungen im kulturellen, wissenschaftlichen und künstlerischen Leben verdecken und rechtfertigen sollte.

Allen Juden wurden zunächst einmal ihre materiellen Güter per Gesetze enteignet. Darüber hinaus waren die Juden an wichtigen Stellen im kulturellen, künstlerischen, wissenschaftlichen und politischen Leben vertreten, obgleich im letzteren weniger zahlreich. Es ist wichtig, daran zu erinnern, daß die deutschen Juden Mitte des vergangenen Jahrhunderts mit den deutschen Bürgern rechtlich gleichgestellt wurden. Sie waren in den oben genannten Bereichen aktiv vertreten - von den bekanntesten Namen wie Freud, Buber, Einstein, Benjamin, Mahler, Stefan Zweig einmal abgesehen. Die von ihnen durch eigenen Verdienst eingenommenen Positionen, wurden ihnen von, Menschen streitig gemacht und genommen, die kein anderes Argument als Entrechtung und Gewalt kannten.... Aber die erste Generation sprach von all dem kaum...

Das schwarze Loch

Die Informationen, die die Eltern weitergaben, waren minimal. Einige Gründe dafür - und ich werde hier nicht ausführlich darauf eingehen - waren das Schamgefühl, die Furcht, nicht verstanden zu werden oder sogar nicht gehört zu werden und auch der Wunsch, den Kindern die erlebten traumatischen Situationen zu ersparen.

Ein Mann erzählte mir, daß er sich erst nach vielen Jahren der Psychotherapie der Tatsache bewußt wurde, daß seine Eltern ihm eigentlich sehr wenig erzählt hatten. Und als er den Wunsch verspürte, Fragen zu stellen - worauf er übrigens vorher überhaupt nicht gekommen war -, waren seine Eltern bereits tot.

Unbeschreibliche Gefühle, die nicht in Worte übersetzbar sind, begleiteten ihn. Ich habe es das schwarze Loch genannt, das wie ich es erfahren habe von einigen so definiert wurde. Meiner Ansicht wurden einige Aspekte der psychischen Folgen durch den Mantel des Schweigens bekräftigt.

Das schwarze Loch ist eine Zone der Leere, des " irgend etwas Furchtbares ist passiert, aber nun ist es vorbei ". Es ist eine Zone scheinbarer Ruhe und Normalität, wobei jedoch im Inneren ein Gefühl der Irrealen herrscht. Irgend etwas Schreckliches liegt in der Luft, etwas von einer Katastrophe, die bevorsteht oder bereits eingetreten ist - es ist ein Schrecken, der nicht zu benennen ist, mit den Augen nicht erfaßt werden kann, der jedoch allgegenwärtig ist. Seine Form ist die Nicht-Form, seine Farbe ist die Farblosigkeit.

Es ist ein Land, Deutschland, das nicht betreten wird. Es sind Filme über die Nazizeit, die nicht angesehen werden. Es ist eine Sprache, die deutsche Sprache, die man im Verborgenen lernt zu lesen, und die man dennoch besser spricht als mancher Einheimische. Es sind die Großeltern, die man nicht kennengelernt hat, erniedrigt, deportiert, ermordet oder, im besten Fall, ausgewandert in ein fernes Land, wo sie sich zu Tode grämten. Meine Großmutter Marta wurde nicht zur europäischen Emigrantin, die "NONA", (italienischer Kosename für Großmutter) die die harte Erde Italiens gepflückt hatte und trotzdem Hunger litt oder eine alte Frau mit einem Rosinengesicht, ihr Kopf bedeckt mit einem schwarzen Schal, die an der Tür eines Hauses in der spanischen Steppe Kastilliens daran dachte, wie sie ihre Kinder ernährte. Nein, das Photo, das ich in der Hand halte zeigt, das Großmutter eine phantastische Frau war mit einem prächtigen Kleid, das bis zum Boden reicht, mit der Haltung einer Prinzessin und einem vornehmen Blick; die Finger streifen nachdenklich ihr Gesicht und Frau erkennt sich an dieser Geste wieder. Aber Großmutter starb nicht als alte Frau eines sanften Todes; sie starb auch nicht wie ihre 3jährige Tochter an Scharlach als das Penizillin noch nicht entdeckt war. Nein, diese Großmutter wurde erschossen oder vergast.

Was bedeutet das für ein Kind? Vergast. Nichts und alles, eine fehlende Generation, eine grauenhafte, durch nichts zu füllende Leere. Da gibt es keine Großeltern, die das Kind verwöhnen. Der Fluß des Lebens endet bei den Eltern. Keine Onkel zur Linken, keine Tante zur Rechten; Cousins und Cousinen fallen aus der Landkarte. Sie sind weit gestreut und von Familiengesinnung ist fast nichts mehr übrig.

Ein kleines Mädchen der zweiten Generation singt seinem Vater ein Lied vor, das es in der Schule gelernt hat: "Mambru zog in den Krieg, wer weiß, wann er zurückkehrt". Diesmal lächelt der Vater,der seinen Vater als deutsch-jüdischer Reservist in Verdun verlor, sein kleines Mädchen nicht an, diesmal lobt er es nicht für das in der Schule Gelernte. Da ist nur eine ernste Geste, und die Mutter sagt: " Sing das nie wieder im Beisein deines Vater." Das Mädchen weiß , daß der Großvater in einen Krieg gezogen war, in dem er für seine Heimat gekämpft hatte, und daß er nicht zurückkam, weil man ihn getötet hatte. Das Normalste ist der Tod einer Tante, die Schwester des Vaters, die mit drei Jahren an einer Krankheit starb. Es ist der Gipfel der Normalität, an Scharlach zu sterben, in einer Familie, deren Großmutter in Deutschland blieb, weil sie die Witwe eines für Deutschland Gefallenen war. "Mir wird schon nichts passieren. Ich bleibe hier, um unser Eigentum zu pflegen bis ihr zurückkommt."

Und als die Mutter dem Mädchen voller Begeisterung die Märchen der Gebrüder Grimm erzählt, bittet die Kleine. " Erzähl mir wahre Geschichten von dir und von Papa." Grimms Märchen können ja nicht gemocht werden von jüdischen Kindern, deren Großeltern wirklich in die Öfen von ihren Mördern gesteckt wurden.

Der Antisemitismus

Ich habe eingangs gesagt, daß die Situation des jeweiligen Aufnahmelandes das Leben der Menschen der zweiten Generation unterschiedlich gestaltete. Hier muß nun etwas zu den Besonderheiten der argentinischen Geschichte gesagt werden. Ich will nicht die Geschichte des Antisemitismus in Argentinien schildern. Ich will mich darauf beschränken, einige Merkmale des jüdischen Lebens zu benennen. Es gibt gewisse Möglichkeiten der soziale Mobilität im ökonomischen Bereich. Diese verringern sich, wenn es um den Zugang zur politischen Macht geht. In den Streitkräften werden Juden nicht aufgenommen.

Wenn auch diese und andere Fragen nicht die zweite Generation allein betreffen, so vertrete ich doch die These, daß wegen der früheren, mit der Familiengeschichte verbundenen Traumata die neu hinzukommenden immer schwieriger zu verarbeiten sind, und daß Familiengeschichte in einem feindlichen Kontext ein größeres Gewicht erlangt.

Die zweite Generation hat ständig unter Militärregime gelebt, mit Regierungen, die - von früheren Staatsstreichen abgesehen - in den Jahren 1943, 1955, 1962, 1966, und 1976 immer wieder die Verfassung außer Kraft gesetzt haben. Unter der letzten dieser Regierungen sind einige junge Leute der zweiten Generation verschwunden. Ich bin der Auffassung, daß dies nach dem Ende der Militärdiktatur, als über die Ereignisse gesprochen wurde, folgende Wirkung auf die zweite Generation hatte: Es gab dem, was in Deutschland geschehen war, einen neuen Sinn, auch wenn der Holocaust wegen seiner charakteristischen Merkmale ein in der Geschichte einmaliger Fakt war. Die Geschehnisse des Holocausts verkörperten bis zur argentinischen Militärdiktatur (1976 - 1983), etwas, das sich an einem fernen Ort und in einer weit zurückliegenden Zeit ereignet hatte und das sich niemals wiederholen würde. Mit dieser Sicht wuchs die zweite Generation auf.

Dazu gehörte auch die Vorstellung, daß die Nazis, wenn nicht tot, so doch zumindest in Deutschland verurteilt waren. Die Militärdiktatur in Argentinien bewies, daß das System des spurlosen Verschwindenlassens und der Folter weiter existierte und sich als äußerst vital erwies. In Analogie zur Situation in Argentinien, wo Kinder und Enkelkinder spurlos verschwanden, tauchte nun wieder der Gedanke an die spurlos verschwundenen Großeltern auf, während der Nazizeit. Die Erfahrung, daß jüdische Häftlinge in den Lagern der argentinischen Militärdiktatur neben der Folter auch Schmähungen wegen ihrer jüdischen Herkunft erleiden mußten, lieferte der zweiten Generation den Beweis dafür, daß der Antisemitismus in Argentinien existierte, auch wen er in der breiteren Gesellschaft kein Konsens hatte.

Davon waren auch diejenigen betroffen, die sich entweder aus einer Protesthaltung heraus und/oder durch das Negieren der Schrecken jüdischer Geschichte von der Gemeinschaft der Juden entfernt hatten. Es machte die Konzentrationslager zu etwas Gegenwärtigem und gab Ihnen einen neuen Sinn. Es trug dazu bei, je nach individueller Voraussetzung, das Konzentrationslagersyndrom, das ich noch beschreiben werde, zu verankern. Das Grauen konnte nun an jeder Straßenecke lauern. Das Imaginäre wurde zu einer psychotischen Realität, eine Suche der Wahrheit die hier nicht endet... und die neue dramatische Akte beinhaltet: die Schändung von 111 Gräbern auf dem jüdischen Friedhof von Berazategui ( 1991 ).

Und wieder wurde besser nicht darüber gesprochen. Die jüdischen Stimmen formten sich zu einem Chor der Verdrängung, wieder wirkten die Mechanismen der Negation, der Minimierung, der Relativierung, der Selbstentwertung eines Volkes, das im Verlaufe der Geschichte geschlagen wurde, und das sich auf diese Weise gegen so viel sinnloses Leid wehrt. Das jahrzehntelange Verschweigen der Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager liegt in der Unmöglichkeit begründet, so viel Grauen zu benennen und zu Gehör zu bringen. Daher schweigen auch weiter hin die Stimmen der Empörung in Argentinien, beziehungsweise einige jüdische Funktionäre nehmen den Status quo hin. Nachdem dies geschrieben wurde, ereignete sich das Attentat auf die israelische Botschaft in Buenos Aires und der Anschlag auf die Zentralverwaltung der Juden in Argentinien (AMIA).

Das Konzentrationslagersyndrom in der zweite Generation

Dieser Teil der Studie ist für mich der Schwierigste ...Mir scheint, mir fehlt das Wissen. Gleichzeitig bin ich versucht, alles zu zitieren, was ich im Laufe meines Lebens gelesen habe, aber das führt mich nicht weiter. Bringe ich diese Arbeit nicht zu Ende, kann ich das Notwendige nicht vermitteln. Der Weg, den ich gefunden habe, um beginnen zu können, ist der des Schreibens über meine Befindlichkeit. Auch die bisherigen Ausführungen sind ein Ensemble von Haltungen, Verhaltensweisen, Phantasien, eine Widerspiegelung dessen, was der ersten Generation und Ihren ermordeten Angehörigen zugestoßen ist. Zunächst erinnere ich an die These von den sich überlagernden Traumata, wobei ein neu hinzukommendes die früher bereits vorhandenen verschärft. Zugleich wird die Verarbeitung insgesamt immer schwieriger. Es ist wichtig, die posttraumatischen Auswirkungen anzugehen, die in jeder Gewaltsituation auftreten und die in der klinischen Arbeit auch bei Fällen von Gewalt in der Familie zu beobachten sind, weil sie neue Symptome hervorbringen.

Sie wurden von der ersten Generation erlitten und tauchen in der zweiten Generation wieder auf. Einige davon sind Beklemmung, emotionale Labilität, Schwierigkeiten bei der Anpassung an konfliktreiche Situationen im Alltagsleben, Schlafstörungen, Hypochondrie, psychosomatische Episoden oder Krankheiten. Viele Patienten, die an diesem Kozentrationslagersyndrom litten, wurden von ihren Therapeuten falsch behandelt, weil das besagte Syndrom erst zwanzig Jahre nach Kriegsende - in den USA - zu erforschen begonnen und vorher darüber nicht gesprochen wurde.

Bei meiner Supervisionstätigkeit habe ich Verweigerungshaltungen zwischen dem Patienten und dem Therapeuten bezüglich der Familiengeschichte festgestellt. Es wird nicht über den Holocaust gesprochen und man berücksichtigt seine Konsequenzen nicht. Die erste Generation deutschsprachiger Juden litt - so weit ich die Fälle selbst beobachten konnte - ein Leben lang an Depressionen und Schuldgefühlen, die oftmals verschleiert wurden, aber die als Spätfolgen wieder auftauchten. In manchen Fällen waren es Krankheiten, die Aggressionen gegen den eigenen Körper bedeuteten, deren Folgen mehr oder weniger schwerwiegend oder auch der Tod waren.

Aufgaben

Die zweite Generation hatte zwei grundlegende Leistungen zu erbringen. Sie sollte sich der nicht verarbeiteten Trauer ihrer Eltern über die erlittenen Verluste annehmen, und sie sollte das Leben der Eltern in Ordnung bringen. Dazu ein Beispiel : "Es erschien mir immer logisch, mich mit meinen Eltern, ihren physischen Beschwerden und ihren Problemen zu beschäftigen. Ich glaubte, ich würde nach und nach unabhängig, aber ich lebte in ständiger Abhängigkeit von ihnen. Ich tat mein Möglichstes, um es ihnen recht zu machen, aber sie waren durch nichts zu befriedigen. Wenn ich etwas tat, was nicht dem entsprach, was sie dachten, wurde das Klima zu Hause unerträglich, und mein Vater sagte: Wenn du willst, heirate einen Goy (nicht Jude); das ist eine Sache deines Gewissens. Aber ich werde von meinem Posten in der Kommission abtreten müssen ... Und es schien, als müsse der König von England abdanken, weil seine Tochter einen Plebejer heiratete. Der englische König, der tatsächlich abdankte, um eine Plebejerin zu heiraten, erhielt dafür wenigstens die Liebe einer Frau. Mein Leben lang hatte ich das Gefühl, nichts zu erhalten. Nichts von dem, was ich tat, war von Nutzen. Wenn etwas mißlang, war mir, als seien nun alle Möglichkeiten für mich verloren, wenn mir etwas gelang, stießen die Worte meiner Freunde, die mich von meinem Wert überzeugen wollten, auf taube Ohren." Diese Worte einer Frau, die viele Jahre lang Psychoanalysepatientin war, zeigen, wie schwierig es ist, sich von diesen Eltern, die so gelitten hatten abzugrenzen. Das Beziehungsmodell war die Symbiose und/oder die Isolation. Manchmal beeinträchtigt dies bestimmte Bereiche des Lebens, aber nicht unbedingt alle.

Dazu ein weiteres Beispiel: " Im Beruf komme ich gut zurecht, aber mit meiner Partnerin geht es nicht. Sie oder ich, einer ist schließlich immer tödlich verletzt und die Beziehung ist dann nicht mehr zu retten."... Was einige in den Konzentrationslagern am Leben erhielt, war die Hoffnung, das Geschehene weitererzählen zu können. Hier in Argentinien oder dort unter dem Naziregime....

Alle Eltern geben ihren Kindern Gebote und Verbote für den Lebensweg. Für die zweite Generation gab es besondere und widersprüchliche Gebote. Es war unmöglich, sie alle zu erfüllen, denn das " konnte man den Eltern, die so viel gelitten haben "doch nicht antun. Es war unmöglich, einige Gebote zu erfüllen, ohne andere wie " Glücklichsein " zu verletzen. Das war nicht zu leisten inmitten einer schleichenden, nicht verbalisierten Traurigkeit, in einer Atmosphäre des " nichtnachdenken, denn das Überleben erfordert Pragmatismen " oder des so zu tun, " als wüßten die Kinder nicht, was offenkundig wird durch Gesten, Befehle und psychosomatische Symptome, die die Familiengeheimnisse nur so hinausschreien.

Es sind Fragmente einer Geschichte, einem Puzzle mit vielen fehlenden Teilen vergleichbar. In der Schweiz sah ich im Hause einer Familie mit Angehörigen der ersten Generation zwei jener Puzzles, die sich aus vielen Teilen zusammensetzen. Sie bildeten eine deutsche Landschaft ab, und diese wurde von der argentinischen Tochter der zweiten Generation mit den Lebensstationen Buenos Aires - - Israel - München - Israel Stück für Stück zusammengesetzt ... Das entstehende Werk war gleichsam Ausdruck einer Rekonstruktion des Verlorenen: Für die Eltern das Lebensgefühl wiedererlangen, Lebensstütze sein, die Zerstörung und den Tod wiedergutmachen.

Das sind Aufgaben, die unmöglich zu erfüllen sind, oder nur auf Kosten von mehr oder weniger schwerwiegenden psychischen, psychosomatischen Symptomen... So schwingt in den letzten Worten " Wie soll denn jemand wie du Probleme haben", die beispielsweise ein Vater seiner Tochter am Telefon sagt, immer unausgesprochen der Vorwurf, " dir muß es gut gehen, denn uns ging es schlecht". Das ist verständlich, wenn wir an das Schicksal der Verfolgung und der Opfer denken, den Hunger, die Kälte, die Zwangsarbeit, das Gas, an die vernichtete Generation und an die psychischen Folgen für die erste Generation. Aber ein an der Fakultät nicht bestandenes Fach, eine abgewiesene Liebe, eine schlecht bezahlte Arbeit oder das Fehlen von Arbeit sind auch schwerwiegende Probleme in der gegenwärtigen Realität, denn sie betreffen ja direkt die eigene Existenz und letztlich auch das Überleben, besonders, wenn wir daran denken, daß das ganze Gerede von " alle Juden sind reich" ein verlogener Mythos ist.

Die zweite Generation fühlte sich - mehr als andere Kinder - gerade zu verpflichtet, die Wünsche und Erwartungen der Eltern zu befriedigen. Wenn sie dieses Gebot verletzten, waren die Kinder von einem tiefen Schuldgefühl durchdrungen. Jeder von ihnen wurde mehr oder weniger zu einem lebenden " Jahrzeitlicht" ( ein Licht, das man an dem Todestag eines toten Familienangehörigen anzündet ).

Während ich diesen Artikel schreibe, lese ich ein überliefertes Dokument von Familienangehörigen der Opfer des Holocausts. Diese wurde von den deutschen Behörden am 25.5.1959 ausgestellt wurde : " Die Erblasserin ( ? )* wurde aus rassischen Gründe, weil sie Jüdin war, verfolgt. Ihren letzten Wohnsitz hatte sie in Breslau ... In der Freiheit war sie Vorurteilen ausgesetzt : 1. das Tragen des ( jüdischen ) Stern in Breslau und Tormersdorf seit dem 19.9.1941 bis 1942,
2. Deportierung nach Theresienstadt von 1942 bis zum 15.10.1944,
3. Deportierung nach Auschwitz/Birkenau am 15.10.1944 (Vernichtungslager)
Es gibt keine Grundlage für ein Überleben nach dem 31.10.1944." Drei Jahre später, 1947, wurde in Buenos Aires ihre einzige Enkeltochter geboren.

Das Fragezeichen ist meins.


Ines Margarita Danziger




Literatur

Autorenkollektiv : Argentinien. Psychoanalyse. Politische Repression. Bueneos Aires 1986.

Bettelheim Bruno: Überleben. Der Holocaust, eine Generation danach. Grijaldo, Barcelona 1983.

Bundesverfassung der Argentinische Republik.

Danziger Ines Margarita: Frauenbewegungen in der Welt. Dritte Welt Frauenbewegung in Argentinien. Argument Verlag. Hamburg. 1989.

Danziger Ines Margarita: Jüdische Wochenschau. (Semanario Israelita.) 24-5-91. 5-7-91.

Freud Sigmund: Gesammelte Werke.Buenos Aires. 1986.

Grunfeld F. : Verdammte Propheten. Die tragische Welt von Freud, Mahler, Einstein und Kafka. 1988.

Johnson Paul: die Geschichte der Juden. Verlag Javier Vergara. Buenos Aires . 1991

Sarte Jean Paul : Nachdenken Über die jüdische Frage. Buenos Aires 1988.
Schwarz Alfredo.: Die deutschsprachigen Juden in Argentinien. Und trotz alledem. 1991.
Senkmann Leonardo : Der Antisemitismus in Argentinien. Band I C.E.A.L. 1986.


Nie wieder.(Nunca Mas). Buenos Aires 1991.

Zeitschrift für Psychoanalyse. 34 Kongress. Hamburg.1986

Zeitschrift "Das Licht"(La luz) Buenos Aires 24. 5.91

Ines Margarita Danziger

Veröffentlicht in "Ein Ast bei Nacht kein Ast"
Herausgeber: Jörg Wiesse / Erhard Olbrich (Hg.)
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht; Göttingen Zürich

 

 



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