Antijüdische 
          Stereotypen in der anthroposophischen Tradition - Fragezeichen ?
          
          von Prof. Ekkehard W. Stegemann
           
         
        I
          
          Antijudaismus ist in der christlich-abendländischen Kultur allgegenwärtig, 
          mal latenter, mal manifester. Schon in der vorchristlichen Antike wurden 
          antijüdische Klischees ausgebildet. Doch besteht kein Zweifel, 
          dass erst durch den Siegeszug des Christentums Judenfeindschaft zu einem 
          prinzipiellen, geradezu metaphysischen Faktor der europäischen 
          und der durch sie geprägten Kulturen geworden ist. Auf ihrem Boden 
          ist im 19. Jahrhundert die "säkulare" Variante, der moderne 
          politische und rassistische Antisemitismus, entstanden, der sich jedoch 
          auf das Weiterwirken der traditionellen christlichen Judenfeindschaft 
          stützen kann. Dieser antijüdischen Grundierung gegenüber 
          ist kaum eine relevante Strömung gänzlich immun geblieben, 
          auch nicht die anthroposophische, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie 
          sich stark aus christlicher Vorurteilsbildung gegenüber dem Judentum 
          herleitet. Über antijüdische Stereotypen in den Traditionen 
          der anthroposophischen "Weltanschaung" zu reden, steht darum 
          im Kontext einer umfassenden Verpflichtung zur Selbstaufklärung 
          in unserer Gesellschaft nach 1945. Niemand kann selbstgerecht mit dem 
          Finger auf die Anthroposophie zeigen, der sich selbst von solchem negativen 
          Mythos über die Juden zu befreien hat oder befreien musste. Aber 
          ich meine auch, dass niemand, der sich der Anthroposophie zuzählt, 
          die nachdenkliche und selbstkritische Auseinandersetzung mit der auch 
          sie begleitenden barbarischen Unterseite unserer Kultur verweigern darf.
        Die Auseinandersetzung mit manifesten 
          oder latenten antijüdischen Feindbildern ist als schützendes 
          Eintreten für eine gerechte und unverzerrte Wahrnehmung der jüdischen 
          Minderheiten in der Diaspora und des Staates Israel zu begreifen. Die 
          Kritik der antijüdischen Traditionen ist aber auch, ja, vielleicht 
          mehr noch ein Akt der Befreiung der Mehrheitsgesellschaft von Tendenzen 
          der Ruinierung der eigenen Humanität, der Zerstörung oder 
          jedenfalls Verzerrung ihres eigenen menschlichen Antlitzes. Judenfeindschaft 
          ist, wie der Psychoanalytiker E. Simmel einmal gesagt hat, "a social 
          disease", ein gesellschaftliches Leiden, das der Therapie bedarf. 
          Wer meint, er könne nach Auschwitz kompromittierte antijüdische 
          Klischees unkritisiert weitertradieren, muss sich vorhalten lassen, 
          heute das Klima von Antisemitismus mitzuprägen und insofern dessen 
          Komplize zu sein, ob er das will oder nicht.
        II
        Wegen der Kürze der Zeit konzentriere 
          ich mich hier auf wenige Grundklischees vom Judentum in anthroposophischer 
          Tradition, die ich in dem gleich noch zu definierenden Sinn als antijüdisch 
          oder antisemitisch bezeichne. Ich nehme dabei vor allem auf Äusserungen 
          von Rudolf Steiner Bezug, daneben auf Ludwig Thieben und Karl König. 
          Alle drei sind Autoren, die man im Sinne des Titels meines Vortrags 
          mit Sicherheit der anthroposophischen Tradition zurechnen darf. Alle 
          drei lehnen Antisemitismus ab. Das ist respektabel, schliesst jedoch 
          leider nicht aus, dass sie selbst zum Teil massive antijüdische 
          und antisemitische Vorurteile tradiert haben. Auch die Allgemeine Anthroposophische 
          Gesellschaft hat im März 1998 durch ihren Vorstand erklärt, 
          dass sie "jede Art von Diskriminierung, insbesondere jegliche Form 
          von Antisemitismus ablehnt". Sie glaubt, dass einzelne Menschen 
          zwar sich antisemitisch äussern können, aber dass solche Äusserungen 
          "immer nur Ausdruck ihrer persönlichen Meinung sein (kann), 
          niemals aber eine Äusserung der Anthroposophischen Gesellschaft 
          oder gar der Anthroposophie selbst". Der Diskurs über Antisemitismus 
          ist zumal nach der Schoah auch mit der schmerzlichen Tatsache konfrontiert, 
          dass das antijüdische Syndrom in unserer Kultur tiefer und auch 
          bei Gegnern des Antisemitismus undurchschaut verwurzelt ist. Wenn der 
          Papst in seiner Stellungnahme zu Schoah kürzlich behauptet hat, 
          die Kirche als solche könne nicht antisemitisch sein, wohl aber 
          irregeleitete einzelne Christen, so verkennt er, dass diese Christen 
          durch die antijüdische Lehre der Kirche irregeleitet wurden. Vergleichbares 
          scheint mir hinsichtlich der Anthroposophie richtig zu sein.
         
        "Antijüdisch" nenne 
          ich im Anschluss an neuere Antisemitismus-Forschung eine gänzliche 
          oder teilweise Herabsetzung des Judentums bzw. von Juden als Juden. 
          Es geht also nicht bloss um eine Abneigung gegenüber Juden, sondern 
          um Herabsetzung der Überzeugungen und Lebenspraktiken des Judentums 
          als minderwertig oder gänzlich negativ, und zwar aufgrund eines 
          konkurrierenden Systems von Glaubensinhalten, Wertvorstellungen oder 
          weltanschaulichen Überzeugungen. Der Begriff "Antisemitismus" 
          wird manchmal vom Begriff "Antijudaismus" unterschieden. Zumal 
          wenn historische Phänomene von Judenfeindschaft vor der Mitte des 
          19. Jahrhunderts in den Blick genommen werden, ist das durchaus sinnvoll. 
          Freilich liegt Antisemitismus immer dann vor, wenn Juden als Juden zu 
          Trägern negativer Eigenschaften erklärt werden. Nach der Schoah 
          sind Antijudaismus und Antisemitismus ohnehin nicht voneinander trennbar. 
          Der kirchliche Antijudaismus z.B. hat während der Zeit der nationalsozialistischen 
          Verfolgung entweder direkt oder indirekt mit dem eliminatorischen Antisemitismus 
          des Nationalsozialismus zusammengespielt und noch in der Gleichgültigkeit 
          der Massen gegenüber den Opfern dieser Verfolgung machte er sich 
          geltend. Judenfeindschaft in welcher Form auch immer paralysiert den 
          notwendigen Prozess der wechselseitigen respektvollen Anerkennung zwischen 
          den jeweiligen gesellschaftlichen Mehrheiten und der jüdischen 
          Minderheit, der allein einer demokratischen und zivilisierten Gesellschaft 
          ansteht.
        III
        Ein, wie ich meine, entscheidendes 
          antijüdisches Stereotyp, ja, man könnte sagen: der negative 
          Mythos über Juden in der Anthroposophie schlechthin ist die seit 
          Steiner nachweisbare Auffassung, dass jüdische Existenz zu verschwinden 
          habe, weil sie nach Christus nicht mehr legitim wäre. Oder anders 
          ausgedrückt: Die Existenz der Juden als Juden und des Judentums 
          als Religion ist seit ca. 2000 Jahren zum Untergang reif. Für Steiner 
          hat das jüdische Volk bis Christus durchaus ein Existenzrecht, 
          ja, es war entwicklungsgeschichtlich gesehen notwendig, danach jedoch 
          ist es für ihn ein anachronistisches Phänomen. Nur die Verhärtung 
          der Juden gegen das Christusmysterium - Steiner würde auch sagen: 
          gegen die Entwicklungsgeschichte der Rassen bzw. Völker - erklärt 
          noch ihre Existenz. Dieser negative Geschichtsmythos verbindet sich 
          bei Steiner mit der Vorstellung, dass das jüdische Volk eine monotheistische 
          Mission und schliesslich die Aufgabe gehabt hätte, den Sonnengeist 
          im Christus Jesus leiblich hervorzubringen, danach aber hat es zu verschwinden. 
          Steiner im Original: "Das Judentum als solches hat sich aber längst 
          ausgelebt, hat keine Berechtigung innerhalb des modernen Völkerlebens, 
          und dass es sich dennoch erhalten hat, ist ein Fehler der Weltgeschichte" 
          (GA 32). Und andernorts heisst es bei ihm, dass "die Juden eigentlich 
          nichts Besseres vollbringen (könnten), als aufgehen in der übrigen 
          Menschheit, sich vermischen mit der übrigen Menschheit, so dass 
          das Judentum als Volk einfach aufhören würde" (GA 353). 
          Dementsprechend war Steiner auch ein entschiedener Gegner der nationaljüdischen 
          Bewegung, des Zionismus, in dem er die stärkste Förderung 
          von Antisemitismus sah. Das ist ein Teil antijüdischer Deutung, 
          dass die Juden selbst Ursache der Feindschaft gegen sie wären. 
          Gewiss, dies steht bei Steiner im Kontext der Ablehnung von Nationalismus 
          überhaupt, doch diese konnte er einerseits mit positiven Theorien 
          über Völker- und Rassenentwicklungen verbinden, andererseits 
          mit einer Verherrlichung des Deutschtums. Wichtiger aber ist jetzt festzuhalten, 
          dass der Gedanke, dass das Judentum aus der Menschheitsgeschichte zu 
          verschwinden habe, weil es "ausgelebt" ist, an sich monströs 
          ist und auf eine geistige Elimination des Judentums hinausläuft. 
          Hinzu kommt, dass Steiner den Nationalismus insgesamt als "alttestamentarischen 
          Rückfall" schmähen konnte: "Nationale Installierung 
          ist heute ein Rückfall ins Alte Testament", ein "Rückfall 
          in die Jahve-Religion" (GA 193), sagt er. Es ist hier nicht zu 
          diskutieren, ob Steiners Kritik an Nationalbewegungen im Recht war. 
          Entscheidend ist allein, dass er sie als jüdisches Phänomen, 
          als Rückfall in das Alte Testament, was an sich schon historisch 
          ein Unfug ist, typisierte. Nationalbewegungen sind selbstverständlich 
          nichts typisch Jüdisches. Eher ist die jüdische Nationalbewegung, 
          der Zionismus, Teil einer Antwort im Judentum auf die Moderne und den 
          "Frühling der Nationen", nicht zuletzt auf die damit 
          verbundene widerwärtige Ausstossung der Juden aus Europa. Und nochmal: 
          der Zionismus war nur eine Antwort im Judentum auf diese Entwicklung. 
          Doch Steiner bleibt nicht nur hier einer verbreiteten antijüdischen 
          Deutungsstrategie der Geschichte verhaftet, einer Strategie, die darin 
          besteht, etwas als negativ Empfundenes für jüdisch bzw. als 
          Rückfall in das eigentlich überholte Judentum zu erklären. 
          Er sieht darin auch das Unglück über die Menschheit kommen, 
          etwa indem er im Blick auf den Ersten Weltkrieg sagt: "Und so ist 
          das grösste Unglück dieses 20. Jahrhunderts gekommen von dem, 
          was die Juden auch wollen" (GA 353). Dieser projektiv-antisemitische 
          Zug begegnet auch in anderen Zusammenhängen. So kann Steiner seine 
          Kritik an der Medizin seiner Zeit so formulieren: In sie sei "ein 
          abstrakter Geist, ein abstrakter Jehova-Dienst eigezogen", was 
          vor allem an der überproportionalen Anwesenheit von Juden in diesem 
          Beruf liegen soll (GA 353). Das reflektiert gleich zwei antijüdische 
          Stereotypen, nämlich dass es als "unnatürlich" angesehen 
          wird, wenn Juden in manchen Berufen stärker vertreten sind als 
          ihr bevölkerungsstatistisch ermittelter Prozentanteil. Nur, was 
          ist das für ein Kriterium? Wenn man es heute anlegen würde, 
          wäre mathematisch gesehen ein jüdischer Regierungsrat in Basel 
          oder selbst noch eine jüdische Bundesrätin in Bern nicht "natürlich", 
          wo es doch gerade für eine demokratische Gesellschaft ganz selbstverständlich 
          so ist. Das andere typische Vorurteil ist, dass Juden "abstrakt", 
          "begrifflich" oder "kalt intellektualistisch" denken. 
          Letzteres hält Steiner für die "Jehova-Anschauung": 
          "Man denkt nicht nach: Wie ist das im einzelnen? Sondern das, was 
          feststeht, ist im Begriff, das wird einfach aufgestellt. Daher denkt 
          der Jude immer, er könne alles aus dem Begriff heraus entwickeln". 
          Nur nebenbei: Es gibt in christlich antijüdischer Tradition genau 
          den gegenteiligen Vorwurf gegenüber dem jüdischen Religionsgesetz, 
          nämlich den, dass es zu kasuistisch sei. Die Angst vor der Moderne 
          und ihrer naturwissenschaftlich-technischen Rationalität, die im 
          Antisemitismus der Epoche von 1880 an auf die Juden als deren Verursacher 
          projiziert wurde, taucht hier also auch bei Steiner in klassischer Weise 
          auf. Noch bezeichnender ist eine Zusammenfassung seiner Kritik am Judentum 
          im selben Zusammenhang: Solange die Juden als Juden existieren und unter 
          sich sein können, würde dieser abstrakte Intellektualismus 
          bleiben. Doch "wenn sie aufgegangen sein werden unter die anderen 
          Menschen, werden sie nicht sagen Begriff ..., sondern sie werden eben 
          auch so sein müssen wie die anderen Menschen" (GA 353). Hier 
          wird ein grundsätzliches Problem sichtbar, das in jeglicher Judenfeindschaft 
          steckt, nämlich die als ärgerlich angesehene Tatsache, dass 
          die Juden anders sind, anders als "die anderen Menschen". 
          Nur, wenn man auf "die anderen Menschen" schaut, so sehen 
          sie sich alle ziemlich anders an. Steiner ist in die klassische Falle 
          der Schablonen fremdenfeindlichen und antisemitischen Denkens geraten. 
          Die Juden als die Anderen, die Fremden schlechthin, die endlich so werden 
          müssen wie "wir", und zwar ununterscheidbar. Demgegenüber 
          hat ein Philosoph unseres Jahrhunderts mit Recht gesagt, dass Menschlichkeit 
          dann sich gesellschaftlich einstellt, wenn man ohne Angst verschieden 
          sein kann, um davon zu schweigen, dass Anderes als man selbst ja auch 
          als Bereicherung begrüsst werden könnte.
        Um diesen Abschnitt zu resümieren, 
          möchte ich feststellen: Steiners Verhältnis zum Judentum ist 
          nach meiner Einsicht durch keinerlei näherer Kenntnis von dessen 
          Kultur-, Religions- und Literaturgeschichte getrübt. Es verdichtet 
          jedoch ein traditionelles christliches Vorurteil zusammen mit massiven 
          Anleihen an zeitgenössischen antisemitischen Stereotypen zu einer 
          Theorie der Evolution, zu einem Religions-, Rassen- und Völkerdarwinismus, 
          nach dem das Judentum in der Menschheit keinen Platz mehr hat. Die einzige 
          Aufgabe, die er dem Judentum seiner Gegenwart noch zuerkennen kann, 
          ist die, sich selbst aufzugeben und spurlos zu verschwinden.
        IV
        Nun zu Ludwig Thieben, dessen Werk 
          "Das Rätsel des Judentums" von 1931 im Perseus Verlag 
          Basel sechzig Jahre später wiederaufgelegt wurde. Thieben stammte 
          aus einer Wiener jüdischen Familie, konvertierte zum Christentum 
          und wurde schliesslich ein Anhänger der Steinerschen Anthroposophie. 
          Sein 1930 geschriebenes Buch entwirft ganz in den Spuren Steiners ein 
          Geschichtsbild, nach dem das vorchristliche Judentum zwar der "Vorglanz 
          des Christentums" gewesen sei. Doch weil das Judentum mit der Entstehung 
          des Christentums seine geschichtliche Mission erfüllt hätte, 
          existierte es nur noch als dessen "Schatten" weiter. Ja, die 
          Existenz des Judentums ist eine unberechtigte, die sich Thieben nur 
          mit Rückgriff auf die klassischen antijüdischen kirchlichen 
          Stereotypen "Blindheit", "Verstockung", "Verblendung" 
          erklären kann. Aber er scheut sich auch nicht, die die Juden dämonisierende 
          unsägliche Ahasverlegende zu reanimieren, übrigens auch dies 
          in Rezeption von Steiner. Mehr noch als Steiner ist er von der rassistischen 
          Blut-Terminologie seiner Zeit geprägt. Ein Kapitel trägt die 
          Überschrift: "Das Blut als Träger der althebräischen 
          Religiosität". Im Blut strömen nach Thieben die spirituellen 
          Kräfte zusammen. Dabei kann er auch quasirassistisch formulieren, 
          dass sich das jüdische Volk "wie kein zweites durch seine 
          Blutsveranlagung gegen das Christentum sträubt". Überhaupt 
          verbinden sich mit traditionellen christlichen Stereotypen bei ihm antisemitische 
          Topoi: Die Juden seien eigentlich ein Volk der Wüste, heimatlos, 
          international, aber dadurch zum losgelösten, kalten und entwurzelten 
          Intellektualismus veranlagt. Vom "jüdischen Wesen" gingen 
          "zweifellos ungünstige Einflüsse" aus... Bezeichnend 
          ist, wie Thieben die "ausgelebte" geschichtliche Rolle des 
          Judentums beschreibt: "Durch Jahrtausende hindurch war das jüdische 
          Blut mit spirituellen Kräften um des kommenden Christus willen 
          gesättigt worden. Der ganze Lebensgehalt der Antike hatte sich 
          wie in einem Brennpunkt in Israel konzentriert und war hier sogleich 
          in den heiligen Blutstrom aufgenommen worden ... Sollte das Christentum 
          eine Weltreligion werden, dann musste es in einem frühen Stadium 
          seiner Entwicklung aus seinem Mutterboden gerissen und in ein fremdes 
          Erdreich verpflanzt werden. Hätte das Judentum als ganzes Volk 
          den Christus anerkannt, so hätte dem noch jungen Menschheitsimpuls 
          die eminente Gefahr gedroht, von den mächtigen spirituellen Blutskräften 
          des Judentums einfach aufgesaugt zu werden; das Christentum wäre 
          das geworden, wofür man es am Anfang tatsächlich hielt - eine 
          jüdische Sekte, unannehmbar für die anderen blutsfremden Völker. 
          Ein welthistorisches Opfer war es, als das Judentum zum grössten 
          Teil das Christentum ablehnte ...". Doch dieses Opfer "vermochte 
          nicht zu verhindern, dass dieser früher blühende Menschheitszweig", 
          also Israel, "aus dem Ölbaum ausgebrochen wurde. Der Intellekt, 
          der so tief im Wesen des Judentums verankert ist, wurde nun vollends 
          entwurzelt, seit er sich von dem Grundimpuls der Menschheitsentwicklung 
          losgelöst hatte. Entwurzelter Intellektualismus ist in psychologischer 
          Hinsicht fortan der Hauptwesenszug des nachchristlichen Judentums ..."(S.141f).
        Es muss eingeräumt werden, dass 
          Thieben sich gegen antisemitisch verzerrte Projektionen wendet. Allein 
          dass er selbst durch eine antisemitisch gefärbte Brille seine zum 
          Teil krausen "Theorien" über das Judentum entwirft, bleibt 
          von ihm undurchschaut. Wenn nur schon die Existenz des Judentums ein 
          "Rätsel" ist, weil sie eben aus Thiebens Sicht eigentlich 
          nicht sein darf, dann stimmt er damit allen Judenfeinden und Antisemiten 
          im Prinzip zu. Dass Thieben selbst dies nicht durchschaute, sogar meinte, 
          ein wahrer Humanist zu sein und nur das Beste für die Juden zu 
          wollen, ist tragisch  und tragischer ist noch, dass er selbst 
          rassisch verfolgt wurde. Dass sein Buch sechzig Jahre nach dem Erscheinen 
          ohne jegliche kritische Distanzierung wieder aufgelegt wurde und als 
          "die einzig umfassende Darstellung des Judentums und seiner Geschicke 
          aus anthroposophischer Sicht" vorgestellt wird, ist jedoch ein 
          Skandal. Die Staatsanwaltschaft Basel, die sich mit diesem Buch zu befassen 
          hatte, stellt denn auch mit Recht fest: "Thieben entwirft eine 
          abstruse allgemeine rassistische Blut- und Religions- bzw. Geistestheorie". 
          Auch der Vorstand der AAG ist der Meinung, dass das Buch von Thieben 
          "tatsächlich zum Teil diskriminierende Äusserungen gegenüber 
          dem Judentum (enthält), die wir keineswegs billigen können". 
          Mir scheint jedoch, dass man ernster nehmen muss, dass Thiebens Buch 
          ein Ausfluss der Lehren Rudolf Steiners ist.
        V
        Karl König (1902-1966) war Arzt 
          in Wien. Er begründete als rassisch Verfolgter 1939 in Schottland 
          eine heilpädagogische Bewegung, die heute weltweit tätige 
          Camphill-Bewegung. Im Advent 1965 hielt er in Deutschland drei Vorträge 
          unter dem Titel "Geschichte und Schicksal des Jüdischen Volkes". 
          Eine maschinschriftliche Nachschrift, die freilich vom Vortragenden 
          nicht mehr durchgesehenn wurde, liegt mir vor. Insofern steht "König" 
          hier für das Manuskript, das mir die Bibliothek des Goetheanums 
          freundlicherweise in Kopie zur Verfügung gestellt hat. Ich erwähne 
          diese Adventsvorträge hier zum Schluss, weil sie mir gleichsam 
          die problematischste Konsequenz aus einem negativen Geschichtsmythos 
          über das Judentum in anthroposophischer Tradition aufzuzeigen scheinen. 
          Wenn jüdische Existenz nach dem "Golgathamysterium" eigentlich 
          zu verschwinden hat, Juden und das Judentum aber nach wie vor da sind, 
          kann ihre Anwesenheit im System Steiners nur als irritierend anachronistisch 
          gelten. König nun gibt dem aber eine modifizierte Deutung, er erfindet 
          einen neuen negativen Geschichtsmythos. Er setzt sich eindringlich mit 
          der Schoah, mit dem monströsen Massenmord, auseinander, und zwar 
          "damit die Verfolger sowohl als auch die einstmals Verfolgten zu 
          verstehen beginnen, was gespielt hat und noch immer spielt" (3). 
          Sein Kernsatz ist, dass wie Judas einst das Drama des Golgathamysteriums 
          durch seinen Verrat einleitete, so nun etwas Ähnliches wieder geschehen 
          musste, da es sozusagen ins Menschheitskarma eingeschrieben war (3). 
          Abstrakter ausgedrückt, dass für das Schicksal der Menschheit 
          das des Judentums ausschlaggebend ist. "In den allerbedeutsamsten 
          Momenten der Menschheitsentwicklung ... geschieht auch Besonderes mit 
          den Juden" (25), aber dieses Besondere ist nun allerdings immer 
          etwas Negatives, sei es, dass sie als Ahasvergestalt wirken müssen, 
          sei es dass sie verfolgt und ermordet werden. Er sieht "im Jahre 
          1879, in dem Jahr, in welchem Michael die Führung der Menschheit 
          übernommen hat", nicht zufällig das erste Mal den Ausdruck 
          "Antisemitismus" auftauchen. Michael, der "der Volksgeist 
          des gesamten jüdischen Volkes gewesen ist", ist 1897 "der 
          Diener des Christus" geworden "und hat damit die Führung 
          der Menschheit wieder übernommen". "In diesem Weltaugenblick", 
          sagt König, musste "eine neue Welle von Judenzerstörung 
          aufbrechen", und er fügt hinzu: "Ich sage nicht aufbricht, 
          sondern aufbrechen musste" (25). Rückblickend auf die letzten 
          90 Jahre, in die nun auch die zionistische Bewegung fällt, vor 
          allem aber "Geistes-, Rechts- und Wirtschaftsleben auseinanderfallen", 
          steht für ihn fest: "In diesem Augenblick muss noch einmal 
          das jüdische Volk antreten, muss gemordet werden, muss bespeit 
          werden, muss auf sich nehmen das Schicksal des Ahasver" (27)". 
          Er bezieht sich dann auf apokalyptische Untergansvisionen im Matthäusevangelium, 
          die er als Weissagungen nicht des Weltuntergangs, sondern des Schicksals 
          des jüdischen Volkes auslegt, womit es das Zeugnis für das 
          Christusmysterium abzulegen habe. Und er erwähnt dann eine "Prophezeiung" 
          Steiners für das Kommen des Christus im Aetherischen in den Dreissiger 
          Jahren unseres Jahrhunderts. Und er schliesst dann, dass "die Teufel" 
          um dieses Ereignis gewusst haben und die Morde an den Juden das "zudecken" 
          sollten. "Liebe Freunde", heisst es dann, "man kann es 
          gar nicht anders sagen, als dass nun diejenigen, die in den Hochöfen 
          von Polen und Bayern und Oesterreich verbrannt wurden, dass diejenigen 
          durch ihren Opfertod Zeugenschaft ablegten für das Kommen des Christus 
          in den Wolken, für das Erscheinen des Menschensohnes im Aetherraum 
          der Erde. Die Vorzeichen haben sich umgekehrt, nämlich die Pharisäer 
          und die Sadduzäer, Herodes und die Pontii Pilati, sie trugen alle 
          arische Leiber, deutsche Gewänder, braune Hemden. Das sind die 
          Juden unserer Zeit geworden, d.h. die Verleugner jenes gewaltigen Ereignisses, 
          das sich im Aetherreich vollzogen hat" (40). Der negative Mythos 
          vom Judentum, hier wie oft verbunden mit dem Mythos von der jüdischen 
          Schuld am Tod Jesu, hat eine geradezu wahnhafte Kulmination erreicht. 
          Die Juden sind für ihn die, die ermordet werden müssen, um 
          die Leugnung des aetherischen Kommens Christi zu realisieren, und die 
          Mörder sind aber auch "die Juden", nur eben "unserer 
          Zeit". Mörder sind "Juden". Entsprechend ist für 
          König nun auch "das Schicksal der Juden zu Ende", die 
          Weissagung des Matthäusevangeliums erfüllt. Es hatte nur die 
          Aufgabe, 2000 Jahre in unentwegter negativer Zeugenschaft für den 
          Christus dazusein. "Was in den letzten Jahrzehnten geschehen ist, 
          ist die opfernde Begründung eines neuen Christentums, das durch 
          Geisteswissenschaft allein erfassbar und erkennbar sein wird." 
          Vor solch einer "Geisteswissenschaft" freilich graut mir.
        
        
         
        
        
        