Antijüdische
Stereotypen in der anthroposophischen Tradition - Fragezeichen ?
von Prof. Ekkehard W. Stegemann
I
Antijudaismus ist in der christlich-abendländischen Kultur allgegenwärtig,
mal latenter, mal manifester. Schon in der vorchristlichen Antike wurden
antijüdische Klischees ausgebildet. Doch besteht kein Zweifel,
dass erst durch den Siegeszug des Christentums Judenfeindschaft zu einem
prinzipiellen, geradezu metaphysischen Faktor der europäischen
und der durch sie geprägten Kulturen geworden ist. Auf ihrem Boden
ist im 19. Jahrhundert die "säkulare" Variante, der moderne
politische und rassistische Antisemitismus, entstanden, der sich jedoch
auf das Weiterwirken der traditionellen christlichen Judenfeindschaft
stützen kann. Dieser antijüdischen Grundierung gegenüber
ist kaum eine relevante Strömung gänzlich immun geblieben,
auch nicht die anthroposophische, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie
sich stark aus christlicher Vorurteilsbildung gegenüber dem Judentum
herleitet. Über antijüdische Stereotypen in den Traditionen
der anthroposophischen "Weltanschaung" zu reden, steht darum
im Kontext einer umfassenden Verpflichtung zur Selbstaufklärung
in unserer Gesellschaft nach 1945. Niemand kann selbstgerecht mit dem
Finger auf die Anthroposophie zeigen, der sich selbst von solchem negativen
Mythos über die Juden zu befreien hat oder befreien musste. Aber
ich meine auch, dass niemand, der sich der Anthroposophie zuzählt,
die nachdenkliche und selbstkritische Auseinandersetzung mit der auch
sie begleitenden barbarischen Unterseite unserer Kultur verweigern darf.
Die Auseinandersetzung mit manifesten
oder latenten antijüdischen Feindbildern ist als schützendes
Eintreten für eine gerechte und unverzerrte Wahrnehmung der jüdischen
Minderheiten in der Diaspora und des Staates Israel zu begreifen. Die
Kritik der antijüdischen Traditionen ist aber auch, ja, vielleicht
mehr noch ein Akt der Befreiung der Mehrheitsgesellschaft von Tendenzen
der Ruinierung der eigenen Humanität, der Zerstörung oder
jedenfalls Verzerrung ihres eigenen menschlichen Antlitzes. Judenfeindschaft
ist, wie der Psychoanalytiker E. Simmel einmal gesagt hat, "a social
disease", ein gesellschaftliches Leiden, das der Therapie bedarf.
Wer meint, er könne nach Auschwitz kompromittierte antijüdische
Klischees unkritisiert weitertradieren, muss sich vorhalten lassen,
heute das Klima von Antisemitismus mitzuprägen und insofern dessen
Komplize zu sein, ob er das will oder nicht.
II
Wegen der Kürze der Zeit konzentriere
ich mich hier auf wenige Grundklischees vom Judentum in anthroposophischer
Tradition, die ich in dem gleich noch zu definierenden Sinn als antijüdisch
oder antisemitisch bezeichne. Ich nehme dabei vor allem auf Äusserungen
von Rudolf Steiner Bezug, daneben auf Ludwig Thieben und Karl König.
Alle drei sind Autoren, die man im Sinne des Titels meines Vortrags
mit Sicherheit der anthroposophischen Tradition zurechnen darf. Alle
drei lehnen Antisemitismus ab. Das ist respektabel, schliesst jedoch
leider nicht aus, dass sie selbst zum Teil massive antijüdische
und antisemitische Vorurteile tradiert haben. Auch die Allgemeine Anthroposophische
Gesellschaft hat im März 1998 durch ihren Vorstand erklärt,
dass sie "jede Art von Diskriminierung, insbesondere jegliche Form
von Antisemitismus ablehnt". Sie glaubt, dass einzelne Menschen
zwar sich antisemitisch äussern können, aber dass solche Äusserungen
"immer nur Ausdruck ihrer persönlichen Meinung sein (kann),
niemals aber eine Äusserung der Anthroposophischen Gesellschaft
oder gar der Anthroposophie selbst". Der Diskurs über Antisemitismus
ist zumal nach der Schoah auch mit der schmerzlichen Tatsache konfrontiert,
dass das antijüdische Syndrom in unserer Kultur tiefer und auch
bei Gegnern des Antisemitismus undurchschaut verwurzelt ist. Wenn der
Papst in seiner Stellungnahme zu Schoah kürzlich behauptet hat,
die Kirche als solche könne nicht antisemitisch sein, wohl aber
irregeleitete einzelne Christen, so verkennt er, dass diese Christen
durch die antijüdische Lehre der Kirche irregeleitet wurden. Vergleichbares
scheint mir hinsichtlich der Anthroposophie richtig zu sein.
"Antijüdisch" nenne
ich im Anschluss an neuere Antisemitismus-Forschung eine gänzliche
oder teilweise Herabsetzung des Judentums bzw. von Juden als Juden.
Es geht also nicht bloss um eine Abneigung gegenüber Juden, sondern
um Herabsetzung der Überzeugungen und Lebenspraktiken des Judentums
als minderwertig oder gänzlich negativ, und zwar aufgrund eines
konkurrierenden Systems von Glaubensinhalten, Wertvorstellungen oder
weltanschaulichen Überzeugungen. Der Begriff "Antisemitismus"
wird manchmal vom Begriff "Antijudaismus" unterschieden. Zumal
wenn historische Phänomene von Judenfeindschaft vor der Mitte des
19. Jahrhunderts in den Blick genommen werden, ist das durchaus sinnvoll.
Freilich liegt Antisemitismus immer dann vor, wenn Juden als Juden zu
Trägern negativer Eigenschaften erklärt werden. Nach der Schoah
sind Antijudaismus und Antisemitismus ohnehin nicht voneinander trennbar.
Der kirchliche Antijudaismus z.B. hat während der Zeit der nationalsozialistischen
Verfolgung entweder direkt oder indirekt mit dem eliminatorischen Antisemitismus
des Nationalsozialismus zusammengespielt und noch in der Gleichgültigkeit
der Massen gegenüber den Opfern dieser Verfolgung machte er sich
geltend. Judenfeindschaft in welcher Form auch immer paralysiert den
notwendigen Prozess der wechselseitigen respektvollen Anerkennung zwischen
den jeweiligen gesellschaftlichen Mehrheiten und der jüdischen
Minderheit, der allein einer demokratischen und zivilisierten Gesellschaft
ansteht.
III
Ein, wie ich meine, entscheidendes
antijüdisches Stereotyp, ja, man könnte sagen: der negative
Mythos über Juden in der Anthroposophie schlechthin ist die seit
Steiner nachweisbare Auffassung, dass jüdische Existenz zu verschwinden
habe, weil sie nach Christus nicht mehr legitim wäre. Oder anders
ausgedrückt: Die Existenz der Juden als Juden und des Judentums
als Religion ist seit ca. 2000 Jahren zum Untergang reif. Für Steiner
hat das jüdische Volk bis Christus durchaus ein Existenzrecht,
ja, es war entwicklungsgeschichtlich gesehen notwendig, danach jedoch
ist es für ihn ein anachronistisches Phänomen. Nur die Verhärtung
der Juden gegen das Christusmysterium - Steiner würde auch sagen:
gegen die Entwicklungsgeschichte der Rassen bzw. Völker - erklärt
noch ihre Existenz. Dieser negative Geschichtsmythos verbindet sich
bei Steiner mit der Vorstellung, dass das jüdische Volk eine monotheistische
Mission und schliesslich die Aufgabe gehabt hätte, den Sonnengeist
im Christus Jesus leiblich hervorzubringen, danach aber hat es zu verschwinden.
Steiner im Original: "Das Judentum als solches hat sich aber längst
ausgelebt, hat keine Berechtigung innerhalb des modernen Völkerlebens,
und dass es sich dennoch erhalten hat, ist ein Fehler der Weltgeschichte"
(GA 32). Und andernorts heisst es bei ihm, dass "die Juden eigentlich
nichts Besseres vollbringen (könnten), als aufgehen in der übrigen
Menschheit, sich vermischen mit der übrigen Menschheit, so dass
das Judentum als Volk einfach aufhören würde" (GA 353).
Dementsprechend war Steiner auch ein entschiedener Gegner der nationaljüdischen
Bewegung, des Zionismus, in dem er die stärkste Förderung
von Antisemitismus sah. Das ist ein Teil antijüdischer Deutung,
dass die Juden selbst Ursache der Feindschaft gegen sie wären.
Gewiss, dies steht bei Steiner im Kontext der Ablehnung von Nationalismus
überhaupt, doch diese konnte er einerseits mit positiven Theorien
über Völker- und Rassenentwicklungen verbinden, andererseits
mit einer Verherrlichung des Deutschtums. Wichtiger aber ist jetzt festzuhalten,
dass der Gedanke, dass das Judentum aus der Menschheitsgeschichte zu
verschwinden habe, weil es "ausgelebt" ist, an sich monströs
ist und auf eine geistige Elimination des Judentums hinausläuft.
Hinzu kommt, dass Steiner den Nationalismus insgesamt als "alttestamentarischen
Rückfall" schmähen konnte: "Nationale Installierung
ist heute ein Rückfall ins Alte Testament", ein "Rückfall
in die Jahve-Religion" (GA 193), sagt er. Es ist hier nicht zu
diskutieren, ob Steiners Kritik an Nationalbewegungen im Recht war.
Entscheidend ist allein, dass er sie als jüdisches Phänomen,
als Rückfall in das Alte Testament, was an sich schon historisch
ein Unfug ist, typisierte. Nationalbewegungen sind selbstverständlich
nichts typisch Jüdisches. Eher ist die jüdische Nationalbewegung,
der Zionismus, Teil einer Antwort im Judentum auf die Moderne und den
"Frühling der Nationen", nicht zuletzt auf die damit
verbundene widerwärtige Ausstossung der Juden aus Europa. Und nochmal:
der Zionismus war nur eine Antwort im Judentum auf diese Entwicklung.
Doch Steiner bleibt nicht nur hier einer verbreiteten antijüdischen
Deutungsstrategie der Geschichte verhaftet, einer Strategie, die darin
besteht, etwas als negativ Empfundenes für jüdisch bzw. als
Rückfall in das eigentlich überholte Judentum zu erklären.
Er sieht darin auch das Unglück über die Menschheit kommen,
etwa indem er im Blick auf den Ersten Weltkrieg sagt: "Und so ist
das grösste Unglück dieses 20. Jahrhunderts gekommen von dem,
was die Juden auch wollen" (GA 353). Dieser projektiv-antisemitische
Zug begegnet auch in anderen Zusammenhängen. So kann Steiner seine
Kritik an der Medizin seiner Zeit so formulieren: In sie sei "ein
abstrakter Geist, ein abstrakter Jehova-Dienst eigezogen", was
vor allem an der überproportionalen Anwesenheit von Juden in diesem
Beruf liegen soll (GA 353). Das reflektiert gleich zwei antijüdische
Stereotypen, nämlich dass es als "unnatürlich" angesehen
wird, wenn Juden in manchen Berufen stärker vertreten sind als
ihr bevölkerungsstatistisch ermittelter Prozentanteil. Nur, was
ist das für ein Kriterium? Wenn man es heute anlegen würde,
wäre mathematisch gesehen ein jüdischer Regierungsrat in Basel
oder selbst noch eine jüdische Bundesrätin in Bern nicht "natürlich",
wo es doch gerade für eine demokratische Gesellschaft ganz selbstverständlich
so ist. Das andere typische Vorurteil ist, dass Juden "abstrakt",
"begrifflich" oder "kalt intellektualistisch" denken.
Letzteres hält Steiner für die "Jehova-Anschauung":
"Man denkt nicht nach: Wie ist das im einzelnen? Sondern das, was
feststeht, ist im Begriff, das wird einfach aufgestellt. Daher denkt
der Jude immer, er könne alles aus dem Begriff heraus entwickeln".
Nur nebenbei: Es gibt in christlich antijüdischer Tradition genau
den gegenteiligen Vorwurf gegenüber dem jüdischen Religionsgesetz,
nämlich den, dass es zu kasuistisch sei. Die Angst vor der Moderne
und ihrer naturwissenschaftlich-technischen Rationalität, die im
Antisemitismus der Epoche von 1880 an auf die Juden als deren Verursacher
projiziert wurde, taucht hier also auch bei Steiner in klassischer Weise
auf. Noch bezeichnender ist eine Zusammenfassung seiner Kritik am Judentum
im selben Zusammenhang: Solange die Juden als Juden existieren und unter
sich sein können, würde dieser abstrakte Intellektualismus
bleiben. Doch "wenn sie aufgegangen sein werden unter die anderen
Menschen, werden sie nicht sagen Begriff ..., sondern sie werden eben
auch so sein müssen wie die anderen Menschen" (GA 353). Hier
wird ein grundsätzliches Problem sichtbar, das in jeglicher Judenfeindschaft
steckt, nämlich die als ärgerlich angesehene Tatsache, dass
die Juden anders sind, anders als "die anderen Menschen".
Nur, wenn man auf "die anderen Menschen" schaut, so sehen
sie sich alle ziemlich anders an. Steiner ist in die klassische Falle
der Schablonen fremdenfeindlichen und antisemitischen Denkens geraten.
Die Juden als die Anderen, die Fremden schlechthin, die endlich so werden
müssen wie "wir", und zwar ununterscheidbar. Demgegenüber
hat ein Philosoph unseres Jahrhunderts mit Recht gesagt, dass Menschlichkeit
dann sich gesellschaftlich einstellt, wenn man ohne Angst verschieden
sein kann, um davon zu schweigen, dass Anderes als man selbst ja auch
als Bereicherung begrüsst werden könnte.
Um diesen Abschnitt zu resümieren,
möchte ich feststellen: Steiners Verhältnis zum Judentum ist
nach meiner Einsicht durch keinerlei näherer Kenntnis von dessen
Kultur-, Religions- und Literaturgeschichte getrübt. Es verdichtet
jedoch ein traditionelles christliches Vorurteil zusammen mit massiven
Anleihen an zeitgenössischen antisemitischen Stereotypen zu einer
Theorie der Evolution, zu einem Religions-, Rassen- und Völkerdarwinismus,
nach dem das Judentum in der Menschheit keinen Platz mehr hat. Die einzige
Aufgabe, die er dem Judentum seiner Gegenwart noch zuerkennen kann,
ist die, sich selbst aufzugeben und spurlos zu verschwinden.
IV
Nun zu Ludwig Thieben, dessen Werk
"Das Rätsel des Judentums" von 1931 im Perseus Verlag
Basel sechzig Jahre später wiederaufgelegt wurde. Thieben stammte
aus einer Wiener jüdischen Familie, konvertierte zum Christentum
und wurde schliesslich ein Anhänger der Steinerschen Anthroposophie.
Sein 1930 geschriebenes Buch entwirft ganz in den Spuren Steiners ein
Geschichtsbild, nach dem das vorchristliche Judentum zwar der "Vorglanz
des Christentums" gewesen sei. Doch weil das Judentum mit der Entstehung
des Christentums seine geschichtliche Mission erfüllt hätte,
existierte es nur noch als dessen "Schatten" weiter. Ja, die
Existenz des Judentums ist eine unberechtigte, die sich Thieben nur
mit Rückgriff auf die klassischen antijüdischen kirchlichen
Stereotypen "Blindheit", "Verstockung", "Verblendung"
erklären kann. Aber er scheut sich auch nicht, die die Juden dämonisierende
unsägliche Ahasverlegende zu reanimieren, übrigens auch dies
in Rezeption von Steiner. Mehr noch als Steiner ist er von der rassistischen
Blut-Terminologie seiner Zeit geprägt. Ein Kapitel trägt die
Überschrift: "Das Blut als Träger der althebräischen
Religiosität". Im Blut strömen nach Thieben die spirituellen
Kräfte zusammen. Dabei kann er auch quasirassistisch formulieren,
dass sich das jüdische Volk "wie kein zweites durch seine
Blutsveranlagung gegen das Christentum sträubt". Überhaupt
verbinden sich mit traditionellen christlichen Stereotypen bei ihm antisemitische
Topoi: Die Juden seien eigentlich ein Volk der Wüste, heimatlos,
international, aber dadurch zum losgelösten, kalten und entwurzelten
Intellektualismus veranlagt. Vom "jüdischen Wesen" gingen
"zweifellos ungünstige Einflüsse" aus... Bezeichnend
ist, wie Thieben die "ausgelebte" geschichtliche Rolle des
Judentums beschreibt: "Durch Jahrtausende hindurch war das jüdische
Blut mit spirituellen Kräften um des kommenden Christus willen
gesättigt worden. Der ganze Lebensgehalt der Antike hatte sich
wie in einem Brennpunkt in Israel konzentriert und war hier sogleich
in den heiligen Blutstrom aufgenommen worden ... Sollte das Christentum
eine Weltreligion werden, dann musste es in einem frühen Stadium
seiner Entwicklung aus seinem Mutterboden gerissen und in ein fremdes
Erdreich verpflanzt werden. Hätte das Judentum als ganzes Volk
den Christus anerkannt, so hätte dem noch jungen Menschheitsimpuls
die eminente Gefahr gedroht, von den mächtigen spirituellen Blutskräften
des Judentums einfach aufgesaugt zu werden; das Christentum wäre
das geworden, wofür man es am Anfang tatsächlich hielt - eine
jüdische Sekte, unannehmbar für die anderen blutsfremden Völker.
Ein welthistorisches Opfer war es, als das Judentum zum grössten
Teil das Christentum ablehnte ...". Doch dieses Opfer "vermochte
nicht zu verhindern, dass dieser früher blühende Menschheitszweig",
also Israel, "aus dem Ölbaum ausgebrochen wurde. Der Intellekt,
der so tief im Wesen des Judentums verankert ist, wurde nun vollends
entwurzelt, seit er sich von dem Grundimpuls der Menschheitsentwicklung
losgelöst hatte. Entwurzelter Intellektualismus ist in psychologischer
Hinsicht fortan der Hauptwesenszug des nachchristlichen Judentums ..."(S.141f).
Es muss eingeräumt werden, dass
Thieben sich gegen antisemitisch verzerrte Projektionen wendet. Allein
dass er selbst durch eine antisemitisch gefärbte Brille seine zum
Teil krausen "Theorien" über das Judentum entwirft, bleibt
von ihm undurchschaut. Wenn nur schon die Existenz des Judentums ein
"Rätsel" ist, weil sie eben aus Thiebens Sicht eigentlich
nicht sein darf, dann stimmt er damit allen Judenfeinden und Antisemiten
im Prinzip zu. Dass Thieben selbst dies nicht durchschaute, sogar meinte,
ein wahrer Humanist zu sein und nur das Beste für die Juden zu
wollen, ist tragisch und tragischer ist noch, dass er selbst
rassisch verfolgt wurde. Dass sein Buch sechzig Jahre nach dem Erscheinen
ohne jegliche kritische Distanzierung wieder aufgelegt wurde und als
"die einzig umfassende Darstellung des Judentums und seiner Geschicke
aus anthroposophischer Sicht" vorgestellt wird, ist jedoch ein
Skandal. Die Staatsanwaltschaft Basel, die sich mit diesem Buch zu befassen
hatte, stellt denn auch mit Recht fest: "Thieben entwirft eine
abstruse allgemeine rassistische Blut- und Religions- bzw. Geistestheorie".
Auch der Vorstand der AAG ist der Meinung, dass das Buch von Thieben
"tatsächlich zum Teil diskriminierende Äusserungen gegenüber
dem Judentum (enthält), die wir keineswegs billigen können".
Mir scheint jedoch, dass man ernster nehmen muss, dass Thiebens Buch
ein Ausfluss der Lehren Rudolf Steiners ist.
V
Karl König (1902-1966) war Arzt
in Wien. Er begründete als rassisch Verfolgter 1939 in Schottland
eine heilpädagogische Bewegung, die heute weltweit tätige
Camphill-Bewegung. Im Advent 1965 hielt er in Deutschland drei Vorträge
unter dem Titel "Geschichte und Schicksal des Jüdischen Volkes".
Eine maschinschriftliche Nachschrift, die freilich vom Vortragenden
nicht mehr durchgesehenn wurde, liegt mir vor. Insofern steht "König"
hier für das Manuskript, das mir die Bibliothek des Goetheanums
freundlicherweise in Kopie zur Verfügung gestellt hat. Ich erwähne
diese Adventsvorträge hier zum Schluss, weil sie mir gleichsam
die problematischste Konsequenz aus einem negativen Geschichtsmythos
über das Judentum in anthroposophischer Tradition aufzuzeigen scheinen.
Wenn jüdische Existenz nach dem "Golgathamysterium" eigentlich
zu verschwinden hat, Juden und das Judentum aber nach wie vor da sind,
kann ihre Anwesenheit im System Steiners nur als irritierend anachronistisch
gelten. König nun gibt dem aber eine modifizierte Deutung, er erfindet
einen neuen negativen Geschichtsmythos. Er setzt sich eindringlich mit
der Schoah, mit dem monströsen Massenmord, auseinander, und zwar
"damit die Verfolger sowohl als auch die einstmals Verfolgten zu
verstehen beginnen, was gespielt hat und noch immer spielt" (3).
Sein Kernsatz ist, dass wie Judas einst das Drama des Golgathamysteriums
durch seinen Verrat einleitete, so nun etwas Ähnliches wieder geschehen
musste, da es sozusagen ins Menschheitskarma eingeschrieben war (3).
Abstrakter ausgedrückt, dass für das Schicksal der Menschheit
das des Judentums ausschlaggebend ist. "In den allerbedeutsamsten
Momenten der Menschheitsentwicklung ... geschieht auch Besonderes mit
den Juden" (25), aber dieses Besondere ist nun allerdings immer
etwas Negatives, sei es, dass sie als Ahasvergestalt wirken müssen,
sei es dass sie verfolgt und ermordet werden. Er sieht "im Jahre
1879, in dem Jahr, in welchem Michael die Führung der Menschheit
übernommen hat", nicht zufällig das erste Mal den Ausdruck
"Antisemitismus" auftauchen. Michael, der "der Volksgeist
des gesamten jüdischen Volkes gewesen ist", ist 1897 "der
Diener des Christus" geworden "und hat damit die Führung
der Menschheit wieder übernommen". "In diesem Weltaugenblick",
sagt König, musste "eine neue Welle von Judenzerstörung
aufbrechen", und er fügt hinzu: "Ich sage nicht aufbricht,
sondern aufbrechen musste" (25). Rückblickend auf die letzten
90 Jahre, in die nun auch die zionistische Bewegung fällt, vor
allem aber "Geistes-, Rechts- und Wirtschaftsleben auseinanderfallen",
steht für ihn fest: "In diesem Augenblick muss noch einmal
das jüdische Volk antreten, muss gemordet werden, muss bespeit
werden, muss auf sich nehmen das Schicksal des Ahasver" (27)".
Er bezieht sich dann auf apokalyptische Untergansvisionen im Matthäusevangelium,
die er als Weissagungen nicht des Weltuntergangs, sondern des Schicksals
des jüdischen Volkes auslegt, womit es das Zeugnis für das
Christusmysterium abzulegen habe. Und er erwähnt dann eine "Prophezeiung"
Steiners für das Kommen des Christus im Aetherischen in den Dreissiger
Jahren unseres Jahrhunderts. Und er schliesst dann, dass "die Teufel"
um dieses Ereignis gewusst haben und die Morde an den Juden das "zudecken"
sollten. "Liebe Freunde", heisst es dann, "man kann es
gar nicht anders sagen, als dass nun diejenigen, die in den Hochöfen
von Polen und Bayern und Oesterreich verbrannt wurden, dass diejenigen
durch ihren Opfertod Zeugenschaft ablegten für das Kommen des Christus
in den Wolken, für das Erscheinen des Menschensohnes im Aetherraum
der Erde. Die Vorzeichen haben sich umgekehrt, nämlich die Pharisäer
und die Sadduzäer, Herodes und die Pontii Pilati, sie trugen alle
arische Leiber, deutsche Gewänder, braune Hemden. Das sind die
Juden unserer Zeit geworden, d.h. die Verleugner jenes gewaltigen Ereignisses,
das sich im Aetherreich vollzogen hat" (40). Der negative Mythos
vom Judentum, hier wie oft verbunden mit dem Mythos von der jüdischen
Schuld am Tod Jesu, hat eine geradezu wahnhafte Kulmination erreicht.
Die Juden sind für ihn die, die ermordet werden müssen, um
die Leugnung des aetherischen Kommens Christi zu realisieren, und die
Mörder sind aber auch "die Juden", nur eben "unserer
Zeit". Mörder sind "Juden". Entsprechend ist für
König nun auch "das Schicksal der Juden zu Ende", die
Weissagung des Matthäusevangeliums erfüllt. Es hatte nur die
Aufgabe, 2000 Jahre in unentwegter negativer Zeugenschaft für den
Christus dazusein. "Was in den letzten Jahrzehnten geschehen ist,
ist die opfernde Begründung eines neuen Christentums, das durch
Geisteswissenschaft allein erfassbar und erkennbar sein wird."
Vor solch einer "Geisteswissenschaft" freilich graut mir.