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Antijüdische Stereotypen in der anthroposophischen Tradition - Fragezeichen ?

von Prof. Ekkehard W. Stegemann

 

I

Antijudaismus ist in der christlich-abendländischen Kultur allgegenwärtig, mal latenter, mal manifester. Schon in der vorchristlichen Antike wurden antijüdische Klischees ausgebildet. Doch besteht kein Zweifel, dass erst durch den Siegeszug des Christentums Judenfeindschaft zu einem prinzipiellen, geradezu metaphysischen Faktor der europäischen und der durch sie geprägten Kulturen geworden ist. Auf ihrem Boden ist im 19. Jahrhundert die "säkulare" Variante, der moderne politische und rassistische Antisemitismus, entstanden, der sich jedoch auf das Weiterwirken der traditionellen christlichen Judenfeindschaft stützen kann. Dieser antijüdischen Grundierung gegenüber ist kaum eine relevante Strömung gänzlich immun geblieben, auch nicht die anthroposophische, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie sich stark aus christlicher Vorurteilsbildung gegenüber dem Judentum herleitet. Über antijüdische Stereotypen in den Traditionen der anthroposophischen "Weltanschaung" zu reden, steht darum im Kontext einer umfassenden Verpflichtung zur Selbstaufklärung in unserer Gesellschaft nach 1945. Niemand kann selbstgerecht mit dem Finger auf die Anthroposophie zeigen, der sich selbst von solchem negativen Mythos über die Juden zu befreien hat oder befreien musste. Aber ich meine auch, dass niemand, der sich der Anthroposophie zuzählt, die nachdenkliche und selbstkritische Auseinandersetzung mit der auch sie begleitenden barbarischen Unterseite unserer Kultur verweigern darf.

Die Auseinandersetzung mit manifesten oder latenten antijüdischen Feindbildern ist als schützendes Eintreten für eine gerechte und unverzerrte Wahrnehmung der jüdischen Minderheiten in der Diaspora und des Staates Israel zu begreifen. Die Kritik der antijüdischen Traditionen ist aber auch, ja, vielleicht mehr noch ein Akt der Befreiung der Mehrheitsgesellschaft von Tendenzen der Ruinierung der eigenen Humanität, der Zerstörung oder jedenfalls Verzerrung ihres eigenen menschlichen Antlitzes. Judenfeindschaft ist, wie der Psychoanalytiker E. Simmel einmal gesagt hat, "a social disease", ein gesellschaftliches Leiden, das der Therapie bedarf. Wer meint, er könne nach Auschwitz kompromittierte antijüdische Klischees unkritisiert weitertradieren, muss sich vorhalten lassen, heute das Klima von Antisemitismus mitzuprägen und insofern dessen Komplize zu sein, ob er das will oder nicht.

II

Wegen der Kürze der Zeit konzentriere ich mich hier auf wenige Grundklischees vom Judentum in anthroposophischer Tradition, die ich in dem gleich noch zu definierenden Sinn als antijüdisch oder antisemitisch bezeichne. Ich nehme dabei vor allem auf Äusserungen von Rudolf Steiner Bezug, daneben auf Ludwig Thieben und Karl König. Alle drei sind Autoren, die man im Sinne des Titels meines Vortrags mit Sicherheit der anthroposophischen Tradition zurechnen darf. Alle drei lehnen Antisemitismus ab. Das ist respektabel, schliesst jedoch leider nicht aus, dass sie selbst zum Teil massive antijüdische und antisemitische Vorurteile tradiert haben. Auch die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft hat im März 1998 durch ihren Vorstand erklärt, dass sie "jede Art von Diskriminierung, insbesondere jegliche Form von Antisemitismus ablehnt". Sie glaubt, dass einzelne Menschen zwar sich antisemitisch äussern können, aber dass solche Äusserungen "immer nur Ausdruck ihrer persönlichen Meinung sein (kann), niemals aber eine Äusserung der Anthroposophischen Gesellschaft oder gar der Anthroposophie selbst". Der Diskurs über Antisemitismus ist zumal nach der Schoah auch mit der schmerzlichen Tatsache konfrontiert, dass das antijüdische Syndrom in unserer Kultur tiefer und auch bei Gegnern des Antisemitismus undurchschaut verwurzelt ist. Wenn der Papst in seiner Stellungnahme zu Schoah kürzlich behauptet hat, die Kirche als solche könne nicht antisemitisch sein, wohl aber irregeleitete einzelne Christen, so verkennt er, dass diese Christen durch die antijüdische Lehre der Kirche irregeleitet wurden. Vergleichbares scheint mir hinsichtlich der Anthroposophie richtig zu sein.

"Antijüdisch" nenne ich im Anschluss an neuere Antisemitismus-Forschung eine gänzliche oder teilweise Herabsetzung des Judentums bzw. von Juden als Juden. Es geht also nicht bloss um eine Abneigung gegenüber Juden, sondern um Herabsetzung der Überzeugungen und Lebenspraktiken des Judentums als minderwertig oder gänzlich negativ, und zwar aufgrund eines konkurrierenden Systems von Glaubensinhalten, Wertvorstellungen oder weltanschaulichen Überzeugungen. Der Begriff "Antisemitismus" wird manchmal vom Begriff "Antijudaismus" unterschieden. Zumal wenn historische Phänomene von Judenfeindschaft vor der Mitte des 19. Jahrhunderts in den Blick genommen werden, ist das durchaus sinnvoll. Freilich liegt Antisemitismus immer dann vor, wenn Juden als Juden zu Trägern negativer Eigenschaften erklärt werden. Nach der Schoah sind Antijudaismus und Antisemitismus ohnehin nicht voneinander trennbar. Der kirchliche Antijudaismus z.B. hat während der Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung entweder direkt oder indirekt mit dem eliminatorischen Antisemitismus des Nationalsozialismus zusammengespielt und noch in der Gleichgültigkeit der Massen gegenüber den Opfern dieser Verfolgung machte er sich geltend. Judenfeindschaft in welcher Form auch immer paralysiert den notwendigen Prozess der wechselseitigen respektvollen Anerkennung zwischen den jeweiligen gesellschaftlichen Mehrheiten und der jüdischen Minderheit, der allein einer demokratischen und zivilisierten Gesellschaft ansteht.

III

Ein, wie ich meine, entscheidendes antijüdisches Stereotyp, ja, man könnte sagen: der negative Mythos über Juden in der Anthroposophie schlechthin ist die seit Steiner nachweisbare Auffassung, dass jüdische Existenz zu verschwinden habe, weil sie nach Christus nicht mehr legitim wäre. Oder anders ausgedrückt: Die Existenz der Juden als Juden und des Judentums als Religion ist seit ca. 2000 Jahren zum Untergang reif. Für Steiner hat das jüdische Volk bis Christus durchaus ein Existenzrecht, ja, es war entwicklungsgeschichtlich gesehen notwendig, danach jedoch ist es für ihn ein anachronistisches Phänomen. Nur die Verhärtung der Juden gegen das Christusmysterium - Steiner würde auch sagen: gegen die Entwicklungsgeschichte der Rassen bzw. Völker - erklärt noch ihre Existenz. Dieser negative Geschichtsmythos verbindet sich bei Steiner mit der Vorstellung, dass das jüdische Volk eine monotheistische Mission und schliesslich die Aufgabe gehabt hätte, den Sonnengeist im Christus Jesus leiblich hervorzubringen, danach aber hat es zu verschwinden. Steiner im Original: "Das Judentum als solches hat sich aber längst ausgelebt, hat keine Berechtigung innerhalb des modernen Völkerlebens, und dass es sich dennoch erhalten hat, ist ein Fehler der Weltgeschichte" (GA 32). Und andernorts heisst es bei ihm, dass "die Juden eigentlich nichts Besseres vollbringen (könnten), als aufgehen in der übrigen Menschheit, sich vermischen mit der übrigen Menschheit, so dass das Judentum als Volk einfach aufhören würde" (GA 353). Dementsprechend war Steiner auch ein entschiedener Gegner der nationaljüdischen Bewegung, des Zionismus, in dem er die stärkste Förderung von Antisemitismus sah. Das ist ein Teil antijüdischer Deutung, dass die Juden selbst Ursache der Feindschaft gegen sie wären. Gewiss, dies steht bei Steiner im Kontext der Ablehnung von Nationalismus überhaupt, doch diese konnte er einerseits mit positiven Theorien über Völker- und Rassenentwicklungen verbinden, andererseits mit einer Verherrlichung des Deutschtums. Wichtiger aber ist jetzt festzuhalten, dass der Gedanke, dass das Judentum aus der Menschheitsgeschichte zu verschwinden habe, weil es "ausgelebt" ist, an sich monströs ist und auf eine geistige Elimination des Judentums hinausläuft. Hinzu kommt, dass Steiner den Nationalismus insgesamt als "alttestamentarischen Rückfall" schmähen konnte: "Nationale Installierung ist heute ein Rückfall ins Alte Testament", ein "Rückfall in die Jahve-Religion" (GA 193), sagt er. Es ist hier nicht zu diskutieren, ob Steiners Kritik an Nationalbewegungen im Recht war. Entscheidend ist allein, dass er sie als jüdisches Phänomen, als Rückfall in das Alte Testament, was an sich schon historisch ein Unfug ist, typisierte. Nationalbewegungen sind selbstverständlich nichts typisch Jüdisches. Eher ist die jüdische Nationalbewegung, der Zionismus, Teil einer Antwort im Judentum auf die Moderne und den "Frühling der Nationen", nicht zuletzt auf die damit verbundene widerwärtige Ausstossung der Juden aus Europa. Und nochmal: der Zionismus war nur eine Antwort im Judentum auf diese Entwicklung. Doch Steiner bleibt nicht nur hier einer verbreiteten antijüdischen Deutungsstrategie der Geschichte verhaftet, einer Strategie, die darin besteht, etwas als negativ Empfundenes für jüdisch bzw. als Rückfall in das eigentlich überholte Judentum zu erklären. Er sieht darin auch das Unglück über die Menschheit kommen, etwa indem er im Blick auf den Ersten Weltkrieg sagt: "Und so ist das grösste Unglück dieses 20. Jahrhunderts gekommen von dem, was die Juden auch wollen" (GA 353). Dieser projektiv-antisemitische Zug begegnet auch in anderen Zusammenhängen. So kann Steiner seine Kritik an der Medizin seiner Zeit so formulieren: In sie sei "ein abstrakter Geist, ein abstrakter Jehova-Dienst eigezogen", was vor allem an der überproportionalen Anwesenheit von Juden in diesem Beruf liegen soll (GA 353). Das reflektiert gleich zwei antijüdische Stereotypen, nämlich dass es als "unnatürlich" angesehen wird, wenn Juden in manchen Berufen stärker vertreten sind als ihr bevölkerungsstatistisch ermittelter Prozentanteil. Nur, was ist das für ein Kriterium? Wenn man es heute anlegen würde, wäre mathematisch gesehen ein jüdischer Regierungsrat in Basel oder selbst noch eine jüdische Bundesrätin in Bern nicht "natürlich", wo es doch gerade für eine demokratische Gesellschaft ganz selbstverständlich so ist. Das andere typische Vorurteil ist, dass Juden "abstrakt", "begrifflich" oder "kalt intellektualistisch" denken. Letzteres hält Steiner für die "Jehova-Anschauung": "Man denkt nicht nach: Wie ist das im einzelnen? Sondern das, was feststeht, ist im Begriff, das wird einfach aufgestellt. Daher denkt der Jude immer, er könne alles aus dem Begriff heraus entwickeln". Nur nebenbei: Es gibt in christlich antijüdischer Tradition genau den gegenteiligen Vorwurf gegenüber dem jüdischen Religionsgesetz, nämlich den, dass es zu kasuistisch sei. Die Angst vor der Moderne und ihrer naturwissenschaftlich-technischen Rationalität, die im Antisemitismus der Epoche von 1880 an auf die Juden als deren Verursacher projiziert wurde, taucht hier also auch bei Steiner in klassischer Weise auf. Noch bezeichnender ist eine Zusammenfassung seiner Kritik am Judentum im selben Zusammenhang: Solange die Juden als Juden existieren und unter sich sein können, würde dieser abstrakte Intellektualismus bleiben. Doch "wenn sie aufgegangen sein werden unter die anderen Menschen, werden sie nicht sagen Begriff ..., sondern sie werden eben auch so sein müssen wie die anderen Menschen" (GA 353). Hier wird ein grundsätzliches Problem sichtbar, das in jeglicher Judenfeindschaft steckt, nämlich die als ärgerlich angesehene Tatsache, dass die Juden anders sind, anders als "die anderen Menschen". Nur, wenn man auf "die anderen Menschen" schaut, so sehen sie sich alle ziemlich anders an. Steiner ist in die klassische Falle der Schablonen fremdenfeindlichen und antisemitischen Denkens geraten. Die Juden als die Anderen, die Fremden schlechthin, die endlich so werden müssen wie "wir", und zwar ununterscheidbar. Demgegenüber hat ein Philosoph unseres Jahrhunderts mit Recht gesagt, dass Menschlichkeit dann sich gesellschaftlich einstellt, wenn man ohne Angst verschieden sein kann, um davon zu schweigen, dass Anderes als man selbst ja auch als Bereicherung begrüsst werden könnte.

Um diesen Abschnitt zu resümieren, möchte ich feststellen: Steiners Verhältnis zum Judentum ist nach meiner Einsicht durch keinerlei näherer Kenntnis von dessen Kultur-, Religions- und Literaturgeschichte getrübt. Es verdichtet jedoch ein traditionelles christliches Vorurteil zusammen mit massiven Anleihen an zeitgenössischen antisemitischen Stereotypen zu einer Theorie der Evolution, zu einem Religions-, Rassen- und Völkerdarwinismus, nach dem das Judentum in der Menschheit keinen Platz mehr hat. Die einzige Aufgabe, die er dem Judentum seiner Gegenwart noch zuerkennen kann, ist die, sich selbst aufzugeben und spurlos zu verschwinden.

IV

Nun zu Ludwig Thieben, dessen Werk "Das Rätsel des Judentums" von 1931 im Perseus Verlag Basel sechzig Jahre später wiederaufgelegt wurde. Thieben stammte aus einer Wiener jüdischen Familie, konvertierte zum Christentum und wurde schliesslich ein Anhänger der Steinerschen Anthroposophie. Sein 1930 geschriebenes Buch entwirft ganz in den Spuren Steiners ein Geschichtsbild, nach dem das vorchristliche Judentum zwar der "Vorglanz des Christentums" gewesen sei. Doch weil das Judentum mit der Entstehung des Christentums seine geschichtliche Mission erfüllt hätte, existierte es nur noch als dessen "Schatten" weiter. Ja, die Existenz des Judentums ist eine unberechtigte, die sich Thieben nur mit Rückgriff auf die klassischen antijüdischen kirchlichen Stereotypen "Blindheit", "Verstockung", "Verblendung" erklären kann. Aber er scheut sich auch nicht, die die Juden dämonisierende unsägliche Ahasverlegende zu reanimieren, übrigens auch dies in Rezeption von Steiner. Mehr noch als Steiner ist er von der rassistischen Blut-Terminologie seiner Zeit geprägt. Ein Kapitel trägt die Überschrift: "Das Blut als Träger der althebräischen Religiosität". Im Blut strömen nach Thieben die spirituellen Kräfte zusammen. Dabei kann er auch quasirassistisch formulieren, dass sich das jüdische Volk "wie kein zweites durch seine Blutsveranlagung gegen das Christentum sträubt". Überhaupt verbinden sich mit traditionellen christlichen Stereotypen bei ihm antisemitische Topoi: Die Juden seien eigentlich ein Volk der Wüste, heimatlos, international, aber dadurch zum losgelösten, kalten und entwurzelten Intellektualismus veranlagt. Vom "jüdischen Wesen" gingen "zweifellos ungünstige Einflüsse" aus... Bezeichnend ist, wie Thieben die "ausgelebte" geschichtliche Rolle des Judentums beschreibt: "Durch Jahrtausende hindurch war das jüdische Blut mit spirituellen Kräften um des kommenden Christus willen gesättigt worden. Der ganze Lebensgehalt der Antike hatte sich wie in einem Brennpunkt in Israel konzentriert und war hier sogleich in den heiligen Blutstrom aufgenommen worden ... Sollte das Christentum eine Weltreligion werden, dann musste es in einem frühen Stadium seiner Entwicklung aus seinem Mutterboden gerissen und in ein fremdes Erdreich verpflanzt werden. Hätte das Judentum als ganzes Volk den Christus anerkannt, so hätte dem noch jungen Menschheitsimpuls die eminente Gefahr gedroht, von den mächtigen spirituellen Blutskräften des Judentums einfach aufgesaugt zu werden; das Christentum wäre das geworden, wofür man es am Anfang tatsächlich hielt - eine jüdische Sekte, unannehmbar für die anderen blutsfremden Völker. Ein welthistorisches Opfer war es, als das Judentum zum grössten Teil das Christentum ablehnte ...". Doch dieses Opfer "vermochte nicht zu verhindern, dass dieser früher blühende Menschheitszweig", also Israel, "aus dem Ölbaum ausgebrochen wurde. Der Intellekt, der so tief im Wesen des Judentums verankert ist, wurde nun vollends entwurzelt, seit er sich von dem Grundimpuls der Menschheitsentwicklung losgelöst hatte. Entwurzelter Intellektualismus ist in psychologischer Hinsicht fortan der Hauptwesenszug des nachchristlichen Judentums ..."(S.141f).

Es muss eingeräumt werden, dass Thieben sich gegen antisemitisch verzerrte Projektionen wendet. Allein dass er selbst durch eine antisemitisch gefärbte Brille seine zum Teil krausen "Theorien" über das Judentum entwirft, bleibt von ihm undurchschaut. Wenn nur schon die Existenz des Judentums ein "Rätsel" ist, weil sie eben aus Thiebens Sicht eigentlich nicht sein darf, dann stimmt er damit allen Judenfeinden und Antisemiten im Prinzip zu. Dass Thieben selbst dies nicht durchschaute, sogar meinte, ein wahrer Humanist zu sein und nur das Beste für die Juden zu wollen, ist tragisch – und tragischer ist noch, dass er selbst rassisch verfolgt wurde. Dass sein Buch sechzig Jahre nach dem Erscheinen ohne jegliche kritische Distanzierung wieder aufgelegt wurde und als "die einzig umfassende Darstellung des Judentums und seiner Geschicke aus anthroposophischer Sicht" vorgestellt wird, ist jedoch ein Skandal. Die Staatsanwaltschaft Basel, die sich mit diesem Buch zu befassen hatte, stellt denn auch mit Recht fest: "Thieben entwirft eine abstruse allgemeine rassistische Blut- und Religions- bzw. Geistestheorie". Auch der Vorstand der AAG ist der Meinung, dass das Buch von Thieben "tatsächlich zum Teil diskriminierende Äusserungen gegenüber dem Judentum (enthält), die wir keineswegs billigen können". Mir scheint jedoch, dass man ernster nehmen muss, dass Thiebens Buch ein Ausfluss der Lehren Rudolf Steiners ist.

V

Karl König (1902-1966) war Arzt in Wien. Er begründete als rassisch Verfolgter 1939 in Schottland eine heilpädagogische Bewegung, die heute weltweit tätige Camphill-Bewegung. Im Advent 1965 hielt er in Deutschland drei Vorträge unter dem Titel "Geschichte und Schicksal des Jüdischen Volkes". Eine maschinschriftliche Nachschrift, die freilich vom Vortragenden nicht mehr durchgesehenn wurde, liegt mir vor. Insofern steht "König" hier für das Manuskript, das mir die Bibliothek des Goetheanums freundlicherweise in Kopie zur Verfügung gestellt hat. Ich erwähne diese Adventsvorträge hier zum Schluss, weil sie mir gleichsam die problematischste Konsequenz aus einem negativen Geschichtsmythos über das Judentum in anthroposophischer Tradition aufzuzeigen scheinen. Wenn jüdische Existenz nach dem "Golgathamysterium" eigentlich zu verschwinden hat, Juden und das Judentum aber nach wie vor da sind, kann ihre Anwesenheit im System Steiners nur als irritierend anachronistisch gelten. König nun gibt dem aber eine modifizierte Deutung, er erfindet einen neuen negativen Geschichtsmythos. Er setzt sich eindringlich mit der Schoah, mit dem monströsen Massenmord, auseinander, und zwar "damit die Verfolger sowohl als auch die einstmals Verfolgten zu verstehen beginnen, was gespielt hat und noch immer spielt" (3). Sein Kernsatz ist, dass wie Judas einst das Drama des Golgathamysteriums durch seinen Verrat einleitete, so nun etwas Ähnliches wieder geschehen musste, da es sozusagen ins Menschheitskarma eingeschrieben war (3). Abstrakter ausgedrückt, dass für das Schicksal der Menschheit das des Judentums ausschlaggebend ist. "In den allerbedeutsamsten Momenten der Menschheitsentwicklung ... geschieht auch Besonderes mit den Juden" (25), aber dieses Besondere ist nun allerdings immer etwas Negatives, sei es, dass sie als Ahasvergestalt wirken müssen, sei es dass sie verfolgt und ermordet werden. Er sieht "im Jahre 1879, in dem Jahr, in welchem Michael die Führung der Menschheit übernommen hat", nicht zufällig das erste Mal den Ausdruck "Antisemitismus" auftauchen. Michael, der "der Volksgeist des gesamten jüdischen Volkes gewesen ist", ist 1897 "der Diener des Christus" geworden "und hat damit die Führung der Menschheit wieder übernommen". "In diesem Weltaugenblick", sagt König, musste "eine neue Welle von Judenzerstörung aufbrechen", und er fügt hinzu: "Ich sage nicht aufbricht, sondern aufbrechen musste" (25). Rückblickend auf die letzten 90 Jahre, in die nun auch die zionistische Bewegung fällt, vor allem aber "Geistes-, Rechts- und Wirtschaftsleben auseinanderfallen", steht für ihn fest: "In diesem Augenblick muss noch einmal das jüdische Volk antreten, muss gemordet werden, muss bespeit werden, muss auf sich nehmen das Schicksal des Ahasver" (27)". Er bezieht sich dann auf apokalyptische Untergansvisionen im Matthäusevangelium, die er als Weissagungen nicht des Weltuntergangs, sondern des Schicksals des jüdischen Volkes auslegt, womit es das Zeugnis für das Christusmysterium abzulegen habe. Und er erwähnt dann eine "Prophezeiung" Steiners für das Kommen des Christus im Aetherischen in den Dreissiger Jahren unseres Jahrhunderts. Und er schliesst dann, dass "die Teufel" um dieses Ereignis gewusst haben und die Morde an den Juden das "zudecken" sollten. "Liebe Freunde", heisst es dann, "man kann es gar nicht anders sagen, als dass nun diejenigen, die in den Hochöfen von Polen und Bayern und Oesterreich verbrannt wurden, dass diejenigen durch ihren Opfertod Zeugenschaft ablegten für das Kommen des Christus in den Wolken, für das Erscheinen des Menschensohnes im Aetherraum der Erde. Die Vorzeichen haben sich umgekehrt, nämlich die Pharisäer und die Sadduzäer, Herodes und die Pontii Pilati, sie trugen alle arische Leiber, deutsche Gewänder, braune Hemden. Das sind die Juden unserer Zeit geworden, d.h. die Verleugner jenes gewaltigen Ereignisses, das sich im Aetherreich vollzogen hat" (40). Der negative Mythos vom Judentum, hier wie oft verbunden mit dem Mythos von der jüdischen Schuld am Tod Jesu, hat eine geradezu wahnhafte Kulmination erreicht. Die Juden sind für ihn die, die ermordet werden müssen, um die Leugnung des aetherischen Kommens Christi zu realisieren, und die Mörder sind aber auch "die Juden", nur eben "unserer Zeit". Mörder sind "Juden". Entsprechend ist für König nun auch "das Schicksal der Juden zu Ende", die Weissagung des Matthäusevangeliums erfüllt. Es hatte nur die Aufgabe, 2000 Jahre in unentwegter negativer Zeugenschaft für den Christus dazusein. "Was in den letzten Jahrzehnten geschehen ist, ist die opfernde Begründung eines neuen Christentums, das durch Geisteswissenschaft allein erfassbar und erkennbar sein wird." Vor solch einer "Geisteswissenschaft" freilich graut mir.

 




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