Die Wurzelrassen-Lehre als ein zentrales
Element anthroposophischer Weltanschauung
"Die weisse Rasse ist die zukünftige, ist die am Geiste schaffende
Rasse."
(Rudolf Steiner, 1923)
von Peter Bierl
Im Jahr 1994 entdeckte Angelique
Oprinsen, Mutter einer Schülerin der Waldorfschule in Zutphen (Niederlande),
ein Übungsbuch bei ihrer Tochter, dessen Inhalte sie schockierte.
Das Werk trug den Titel "Rassenkunde" und Frau Oprinsen fand
darin eine Tabelle, derzufolge die "schwarze Rasse" als kindlich,
die "gelbe Rasse" als heranwachsend, die "weisse Rasse"
als erwachsen und die "rote Rasse" als vergreist einzustufen
sei.
Ausserdem enthielt das Buch Sätze
mit Stereotypen wie: "Neger haben einen Sinn für Rhythmus
und dicke Lippen" und bei "gelben" Menschen "versteckt
das immerwährende Lächeln die Emotionen". Frau Oprinsen
stellte den Lehrer ihrer Tochter zur Rede. Bei einem Treffen mit Lehrern
und Eltern der Waldorfschule bekam sie zu hören, dass sie die Ideen
Rudolf Steiners über "Rassen" nicht verstehen würde.
Wäre es anders, würde sie auch den Unterrichtsstoff gutheissen.
Frau Oprinsen ließ sich nicht
einschüchtern und nicht beirren. Sie informierte die Redaktion
von De Volkskrant, die den Vorfall in einer ihrer Wochenendausgaben
auf der ersten Seite publik machte und damit eine heftige Auseinandersetzung
auslöste. Der stellvertretende Vorsitzende der niederländischen
Anthroposophen, Christof Wiechert, tat die Affäre zuerst als "Einzelfall"
ab und stempelte den Lehrer zum Sündenbock. Kurz darauf fabulierte
er selbst im Radio über die "speziellen Qualitäten"
dunkelhäutiger Fussballspieler bei Ajax Amsterdam. Wiechert trat
als nächster "Einzelfall" einige Tage später von
seinem Posten zurück. Der Vorstand der niederländischen Anthroposophische
Gesellschaft sprach sich in Zeitungsanzeigen gegen Rassismus aus und
bezog prophylaktisch den Guru mit ein: "Soweit bei Rudolf Steiner
die Rede von Rassenlehre sein sollte, distanzieren wir uns davon ausdrücklich."
Mitglieder der Anthroposophischen
Gesellschaft protestierten gegen dieses Vorgehen des Vorstandes. Das
heisst, sie protestierten nicht gegen den Rassismus, sondern gegen die
Distanzierung von Steiner und seinen Lehren. Schliesslich beschloss
die niederländische Sektion im März 1996 eine Kommission einzusetzen,
die die Vorwürfe insbesondere gegen Steiner prüfen sollte.
Diese Kommission bestand aus sieben Wissenschaftlern, die allesamt Mitglieder
der anthroposophischen Gesellschaft sind. Von einer unabhängigen
Prüfung des Steinerschen Werkes und der Anthroposophie kann also
nicht die Rede sein.
Im Februar 1998 legte die Kommission
einen Zwischenbericht vor: Insgesamt waren 150 Zitate Steiners untersucht
worden. Dabei habe man zwölf Stellen gefunden, "die, würden
sie heute ausgesprochen, geeignet wären, Menschen wegen ihrer Rassenzugehörigkeit
zu diskriminieren", heißt es in dem Bericht. Diese Passagen
wären nach niederländischem Recht vermutlich strafbar. In
weiteren 50 Fällen attestierte die Kommission eine "unglückliche
Wortwahl". Die Zitate beinhalteten entweder eine "leichte
Form der Diskriminierung" oder könnten "aus ihrem Zusammenhang
gerissen, zum Missverständnis einer Diskriminierung führen."
Ausserdem rügten die Mitglieder, daß im Fach Geographie an
den niederländischen Waldorfschulen "Rassenkunde" mit
diskriminierenden Inhalten betrieben werde.
Diese Kommission ist damit das erste
offizielle anthroposophische Gremium, das überhaupt öffentlich
einräumt, daß es rassistische Passagen im Werk Rudolf Steiners
gibt. Jedoch stellte die Kommission insofern einen Persilschein aus,
als sie behauptet, Steiners Werk enthalte keine Rassenlehre. Enthalten
sei lediglich "eine bestimmte Anschauungsweise, wie im Werdegang
der Menschheit Unterschiede entstanden sind". Definiert wurde Rassenlehre
von den niederländischen Anthroposophen als "scheinbar wissenschaftliche
Theorie, aufgrund derer die angebliche Superiorität der einen Rasse
auf Kosten anderer legitimiert wird". Der von Steiner gebrauchte
Begriff der Wurzelrasse habe demgegenüber einen anderen Inhalt.
Das ist Haarspalterei. Zwar behauptete
Steiner im Unterschied zum NS-Rassismus keine dauernde und biologisch
bedingte Überlegenheit der Arier oder der Germanen. Aber er erklärte
"weisse" Arier zur am Geist schaffenden Rasse und meinte,
die Germanen hätten für die nächsten 1500 Jahre eine
spirituelle Führung inne; das sind 500 Jahre mehr als das Tausendjährige
Reich.
Die Kommissionsmitglieder selbst
halten an der rassistischen Perspektive fest, dass die Menschheit in
Rassen einteilbar wäre. Das belegt die oben zitierte Wortwahl,
wonach Menschen aufgrund ihrer "Rassenzugehörigkeit"
diskriminiert werden. Die Autoren meinen, "dass eine Rassenlehre
durchaus nicht immer jene negative Bedeutung beinhaltete, die dieser
Begriff seit dem Zweiten Weltkrieg bekommen hat." Heisst das, es
gab vor dem Zweiten Weltkrieg "Rassenlehren" mit positiver
Bedeutung? Und warum formulierten die Kommissionsmitglieder überhaupt
diese Ansicht? Wo das Werk Steiners angeblich gar keine Rassenlehre
enthält.
Hier geht es nicht um negative Assoziationen
und Geschmacksfragen. Der Begriff der Rasse ist wissenschaftlich unhaltbar
und selbst eine Erfindung von Rassisten. An dieser Erkenntnis sind auch
historische Autoren wie Steiner zu messen. Das Argument der Kommission,
Steiner habe nichts Strafbares formulieren können, weil das Diskriminierungsverbot
in den Niederlanden erst nach seinem Tod verabschiedet wurde, ist irrelevant
und eine plumpe Strategie der Verdrängung. Im Schlusskapitel des
Zwischenberichtes wird der Rassismus des Meisters verteidigt. Dort heisst
es, Steiner habe versucht, "anthropologische Unterschiede in einem
beschreibenden Begriffsrahmen zu erklären."
In dem Zwischenbericht werden einzelne
Passagen aufgelistet und für jede eine rechtfertigende Erklärung
angeboten. Zwei Beispiele: Steiner behauptete, schwangere weisse Frauen
sollten keine "Negerromane" lesen, weil dadurch das Kind ein
Mischling würde, was er als negativ ansah. Die Kommission interpretiert
dies als einprägsames "überzogenes Beispiel", anhand
dessen Steiner sein Publikum davon überzeugen wollte, dass die
Wahrnehmungen einer Mutter die geistigen und körperlichen Eigenschaften
des werdenden Kindes beeinflussen. Auch die Charakterisierung der Indianer
durch Steiner als dekadent sei nicht rassistisch gemeint. Sie müsse
im Kontext der anthroposophischen Evolutionslehre betrachtet werden
und beziehe sich nur auf die "Bewusstseinsentwicklung". Steiner
habe die Indianer als dekadent bezeichnet, weil sie die "nachatlantische
Bewusstseinsentwicklung" vom "Traumbewusstsein" zum "Tagesbewusstsein"
nicht mitvollzogen haben.
Die von der niederländischen
Anthroposophen-Kommission aufgelisteten 150 rassistischen Passagen aus
dem Werk Steiners sind keine 150 Ausrutscher oder Einzelfälle.
Tatsächlich enthält die Anthroposophie eine Rassenlehre, die
Steiner aus der Theosophie Helena P. Blavatskys übernahm und weiterentwickelte.
Diese Lehre von den sogenannten Wurzelrassen beinhaltet ein esoterisch-rassistisches
Evolutionskonzept und ist als solches ein zentraler Bestandteil der
anthroposophischen Weltanschauung. Die Lehre von den Wurzelrassen und
ihren Unterrassen, ihrem Entstehen und "Verfall" sowie ihren
jeweiligen "Missionen" wurde von Steiner selbst, und anderen
führenden Anthroposophen formuliert. Die Wurzelrassenlehre wird
bis heute von AnthroposophInnen vertreten, wobei oft verschleiernd von
"Kulturepochen" die Rede ist.
Im folgenden werde ich diese Rassenlehre
skizzieren und ihren Stellenwert innerhalb der Anthroposophie als einer
religiösen Heilslehre bestimmen. Anschliessend stelle ich anhand
von drei anthroposophischen Publikationen aus den 90er Jahren dar, dass
diese Lehre bis heute verfochten wird, und gebe Hinweise, wie die Rassenlehre
in die Waldorfpädagogik einfliesst.
Anthroposophie ist eine religiöse
Heilslehre, die ihren AnhängerInnen Gesundheit, Seelenheil, übersinnliche
Fähigkeiten (und damit Macht) durch eine spirituelle Höherentwicklung
des Geistes verspricht. Das Weltbild der Anthroposophie besteht aus
Elementen des Hinduismus, des Christentums sowie der Gnosis. Wie viele
andere Richtungen der modernen Esoterik bzw. des New Age glauben die
AnhängerInnen, dass einst eine göttliche Alleinheit existierte,
die sich jedoch mit der Materie vermischte und in lauter Einzelteile
zerfiel. Diese einzelnen "göttlichen Funken" können
sich im Lauf der Geschichte als solche selbst erkennen, die Bindung
an die Materie - das böse, negative Prinzip - abstreifen und sich
am Ende wieder zum göttlichen Einen fügen. Nach Auffassung
der antiken Gnostiker, etwa der Manichäer, attackieren die Dämonen
der Finsternis das Lichtreich, das Göttliche und die Materie vermischen
sich. Diese Verstrickung kann theoretisch jeder Mensch erkennen und
sich durch asketisches Handeln reinigen. In Steiners Werken drückt
sich dies als extrem sexual- und körperfeindliche Haltung aus.
Sexualität ist eigentlich nur gestattet als Mittel der Fortpflanzung
zwecks evolutionärer Höherentwicklung.
Steiner behauptete, dass die Entwicklung
der "geistigen Funken" sich in einer langen Kette von Wiedergeburten
abspielt, auf sieben Planeten, die ebenfalls reinkarnieren. Die "geistigen
Funken" oder vereinfacht gesagt, der menschliche Geist, entwickelt
sich dabei von der Stufe des Minerals auf dem Saturn bis zum Obererzenegel
auf dem Vulkan - sofern er sich von der Anthroposophie erleuchten lässt.
Der menschliche Geist wird auf seinem
Weg abgelenkt von allerlei bösen Geistern und Dämonen, besonders
von Ahriman, der den Materialismus verkörpert, und von Luzifer
(Intellektualismus). Auf der anderen Seite stehen den Menschen die "grossen
Eingeweihten" bei sowie Engel und Erzengel. Als besonderer Schutzengel
der Deutschen und der Anthroposophen gilt nach Steiner der Erzengel
Michael: Er führt die erleuchteten Anthroposophen im Kampf gegen
die Mächte der Finsternis. Michael spielt deshalb in der Waldorfschule
eine grosse Rolle: Es gibt Michaelsfeiern, allerlei Gemälde mit
Michael, z.B. als Drachentöter, sowie Geschichten und Sprüche,
die von dem Erzengel handeln.
Die Gegenwart spielt sich demnach
auf dem vierten Planeten, der Erde ab. Am Ende der Erdenzeit werden
die anthroposophisch erleuchteten Geister ihre physische Hülle
abstreifen und zu Engeln mutieren, während die "Materialisten"
zu Tiermenschen degenerieren. Die menschliche Entwicklung auf dem Planeten
Erde vollzieht sich in sieben aufeinanderfolgende Wurzelrassen. Wobei
der Geist sich in den ersten Wurzelrassen immer mehr mit der Materie
verbindet, bis er in der "atlantischen Epoche" eine menschliche
körperliche Gestalt annimmt. Der Geist verliert das intuitive Wissen
um seine Göttlichkeit sowie magische Künste, entwickelt dafür
aber neue Fähigkeiten.
Die ersten fünf Wurzelrassen
sowie einige Unterrassen schilderte Steiner in dem Buch Aus der Akasha-Chronik.
Diese Akasha-Chronik gilt Esoterikern als eine Art lebende Schrift,
die nur die Eingeweihten verstehen. In dieser Schrift, so sagte Steiner,
spielen sich die Vorgänge "in vollem Leben" ab, und man
kann auf diese Weise in ferne Vergangenheiten blicken, die weiter zurückreichen
als die bekannte "äussere Geschichte". Was die Zukunft
und Prognosen über noch folgende Rassen betrifft, verstand sich
der Mann als Prophet.
Die ersten beiden, die "polarische"
und die "hyperboräische" Rasse, hatten kaum menschliche
Züge. Bei den Hyperboräern, sagte Steiner, schwand die Fähigkeit
zur Selbstbefruchtung, die Ernährungs- und Fortpflanzungsorgane
wandelten sich zu Sprech- und Denkorganen. Die irdische Materie verdichtete
sich, weshalb die Seele den Körper nicht mehr beliebig formen konnte.
Die dritte Wurzelrasse, die sogenannten "Lemurier", lebten
südlich des heutigen Asien: Sie hausten in Erdhöhlen und atmeten
eine wässrige milchartige Substanz ein. Sie waren ursprünglich
geborene Magier, konnten Gedanken lesen und ungeheure Lasten durch blossen
Willen heben. Ihr Aufgabe war es, den Willen auszubilden, wofür
nach Steiner eine gewisse Brutalität notwendig war.
Für den Untergang der Lemurier
lieferte Steiner zwei Erklärungen, nämlich Vulkanausbrüche
und/oder zuviel Sex. Er schrieb den Lemuriern zu, anstelle der Selbstbefruchtung
die zweigeschlechtliche Fortpflanzung ausgebildet zu haben. Die spirituelle
Evolution habe die Lemurier überrollt und ihr wenig entwickeltes
Inneres in die äussere körperliche Starrheit gezwängt,
erklärte Steiner. Die Charakteristik der äusseren Starre bedeutet
in der anthroposophischen Terminologie immer, dass ein Lebewesen, ein
Mensch oder ein Tier, nicht mehr entwicklungsfähig ist und degeneriert.
Die lemurische Rasse verfiel, die meisten sanken herab, gemäss
Steiners Regel, dass der Aufstieg einer Minderheit immer den Abstieg
der Mehrheit bedeutet, "bis zur Stufe der Wildheit." Unter
dem Einfluss höherer Wesen entwickelte sich nur eine kleine Gruppe
zum Keim der atlantischen Wurzelrasse.
Diese vierte Wurzelrasse benannte
Steiner nach der mythischen Insel Atlantis, die nach der Legende einst
zwischen Europa und Amerika lag. Plato hatte einst einen Inselstaat
Atlantis beschrieben, heute gelten alle Lokalisierungsversuche als widerlegt,
was einen echten Esoteriker nicht beirren kann. Für Anthroposophen
ist Atlantis eine historische Realität, die sie verteidigen und
die in den Waldorfschulen auch als solche gelehrt wird. Der Generalsekretär
der Anthroposophischen Gesellschaft, Günther Wachsmuth, fertigte
in den 50er Jahren Skizzen von Atlantis an.
Die Ordnung auf Atlantis war laut
Steiner theokratisch. Führer mit enormen Fähigkeiten, die
sie "von höheren, nicht unmittelbar zur Erde gehörenden
Wesenheiten", von Götterboten, erhalten hatten, herrschten
über die Masse der Bewohner. Die Einweihung der Führer erfolgte
in Mysterientempeln. Die Religion ist das neue spirituelle Element,
das auf Atlantis entsteht. Ominöse "hochentwickelte Wesenheiten"
waren am Werk, die mit den "Gesetzen der Rassenbildung" bekannt
waren. Auch die Masse der Atlantier verfiel. Wieder bildete nur ein
kleiner Teil den Kern für die fünfte arische Wurzelrasse.
Bei Atlantiern und Ariern schilderte
Steiner auch die Eigenarten und Aufgaben der jeweiligen sieben "Unterrassen".
So schuf etwa die dritte Unterrasse, die Tolteken, Staaten mit Regierungen
und führten die Erbfolge für die natürlich spirituell
eingeweihten Herrscher ein. Wachsmuth beschrieb diese Tolteken als Vorläufer
aller indianischen Gruppen: Sie seien durch eine "stark einseitige
Ausbildung des Kopf- und Sinnessystems" frühzeitig der "Verknöcherung"
und "Vergreisung" verfallen. Mit dieser dritten Unterrasse
sehen Anthroposophen schon den Verfall der Atlantier einsetzen, weil
die Menschen "selbstsüchtig" wurden.
Die fünfte Unterrasse entwickelte
die logische Denkkraft und die Urteilskraft, verlor dafür aber
die Lebenskraft. Die ambivalente Haltung gegenüber rationalem Denken,
die Steiner an dieser Stelle formulierte, durchzieht das gesamte Werk,
später stilisierte er diesen Zwiespalt zum kosmischen Kampf zwischen
Ahriman und Michael. Für den Kleinbürger Steiner waren Bildung
und Wissenschaft Mittel und Ausweis des sozialen Aufstiegs, selbst seine
verrücktesten Spekulationen verkaufte er noch als Wissenschaft.
Das logische Denken bezeichnete er deshalb einerseits als wichtiges
Durchgangsstadium der menschlichen Geschichte. Andererseits teilte er
die völkische Aversion gegen den Intellektualismus als zersetzendes
Gift und personifizierte die Ratio mit dem antisemitischen Stereotyp
des Juden. Seine fünfte atlantische Unterrasse taufte er bezeichnenderweise
Ur-Semiten. Ihr begabtester Teil, so schrieb er, werde zum Keim der
arischen Rasse, "welche die vollständige Ausprägung der
denkenden Kraft mit allem, was dazugehört, zur Aufgabe hat."
Die Masse der Ur-Semiten aber trifft
der böse Fluch der Ratio, sie produzieren "unruhige Zustände"
und beherrschen obendrein Techniken wie das Feuer, aber ohne religiösen
Charakter, und gehen schließlich an "Neuerungssucht und Veränderungslust"
zugrunde. Wiederum griff Steiner ein Motiv auf, das schon die deutschen
Romantiker gegenüber der Aufklärung und der französischen
Revolution formuliert hatten. Demnach zerstört rationales Denken
die Religion als ein ideologisches Fundament von Herrschaft. Bestehende
gesellschaftliche Ordnungen werden nicht mehr als gottgegeben und ewig,
sondern als menschgemacht und veränderbar begriffen. In der Perspektive
der deutschen Romantiker und der Anthroposophen geriet damit die verklärte
mittelalterliche "ganzheitliche" Ordnung ins Wanken.
Bevor Atlantis im Ozean versank,
wanderten einzelne Gruppen aus, glauben die AnthroposophInnen. Die Nachkommen
derer, die in den Westen, nach Amerika gingen, diffamierte Steiner als
"dekadente" Abzweigung. Sie seien eine jener Gruppen, bei
denen das Knochensystem zu früh verhärtete, solche Menschen
blieben als "degenerierte Menschenrasse zurück". Sein
Schüler Wachsmuth wollte anhand des Kopffederschmuck beweisen,
daß Indianer ein "verhärtetes" Kopfsystem besäßen
und darum degeneriert seien. Bei der "malayischen Rasse" diagnostizierte
der Geisterseher Steiner ein zu früh verhärtetes Nervensystem,
bei den Schwarzen ein verhärtetes Ernährungssystem und bei
den Mongolen verhärtetes Blut sowie einen naiven Glauben an das
Leben. Er stellt Indianer, Malaien, Schwarze und Mongolen mit Tieren
auf eine Stufe, in dem er physische Verhärtung und damit spirituellen
Stillstand unterstellte. Die Indianer wurden auf dem Weg zum Arier und
zum Übermenschen "herausgesetzt" wie die Affen. Die Waldorflehrerin
Monika Neve (1989) spricht von den heutigen "sogenannten Wilden"
und behauptet, sie würden "Degenerationen vormals höherer
Kulturen darstellen."
Die Übergangsphase zwischen
Atlantiern und Ariern schilderte Steiner als Wanderung und permanente
Auslese. Die Flüchtlinge aus Atlantis seien zunächst von Westen
nach Osten gewandert und besiedelten Europa, (Nord-)Afrika und Asien.
Außer einigen Götterboten, menschlich-göttlichen Doppelwesen,
habe die große Masse in einer naturwüchsigen und dumpfen
Art vegetiert und war dem "allmählichen Aussterben geweiht."
Eine kleine Gruppe habe das Denken entwickelt, aus ihnen wählte
"Hauptführer" Manu, ein göttliches Wesen in Menschengestalt,
"die Befähigsten heraus, um aus ihnen eine neue Menschheit
hervorgehen zu lassen." Diese Auserlesenen wurden in Innerasien
isoliert: Sie sollten dort die göttlichen Kräfte erkennen,
denen sie bisher unbewußt gefolgt waren und sich als "ausführende
Organe der göttlichen Vorsehung" begreifen. Manu brachte ihnen
bei, sagte Steiner, "daß die unsichtbaren Mächte das
lenken, was sie sichtbar vor sich hätten." Die Mitglieder
der Gruppe müssen noch zwei Selektionen bestehen. Manu wählte
nochmals eine kleine Schar aus, von denen wiederum die "Befähigsten"
unmittelbar in seine "göttliche Weisheit" eingeweiht
werden. Aus dieser Elite entstehen die "heiligen Lehrer",
die Priesterkönige und Führer. Diese Priester seien ohne jede
Begierde, "karmafrei" gewesen und installierten kraft ihrer
"überpersönlichen Weisheit" das Kastensystem.
Auf einer zweiten Wanderung, diesmal
von Osten nach Westen, schufen die neuen Arier bei den zurückgebliebenen
Gruppen sämtliche Hochkulturen. Die Anthroposophie Steiners unterscheidet
sich in dieser rassistischen Hypothese von Guido List und dessen Schülern
Adolf Hitler Hermann Wirth dadurch, daß List glaubte, die Arier
stammten ursprünglich von einem Kontinent am Nordpol und seien
von der Eiszeit vertrieben worden, bevor sie der Menschheit die Kultur
brachten. Die Funktion der Arier, "zu denen unsere heutige Kulturmenschheit
gehört", ist laut Steiner, "die Denkkraft" zu entwickeln,
wobei der Gipfelpunkt eine "Geistesschau" ist, so daß
"ein größerer Teil der Menschheit dazu kommen wird,
einem menschlichen Manu frei zu folgen, wie das die Keimrasse dieser
fünften mit dem göttlichen getan hat." Ist dieser Zustand
erreicht, werde sich den Menschen "der größte Eingeweihte"
öffentlich enthüllen".
Die Ansicht, daß die Masse
der Menschen von spirituell erleuchteten Führern, unsichtbaren
Geistern, Götterboten oder Engeln geleitet wird und werden muß,
ist ein zentrales Dogma. Diese hierarchische und antidemokratische Auffassung
wird - soweit sich dies mit den Normen eines bürgerlichen Rechtstaates
vereinbaren läßt - in der Organisation der Anthroposophischen
Gesellschaft und den Waldorfschulen umgesetzt. Das beginnt auf dem siebenstufigen
Pfad der Erleuchtung, wo dem Novizen zuallererst Demut und Unterwerfung
abverlangt werden. Innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft installierte
Steiner eine "Freie Hochschule" in Dornach, wo der Führungskader
in einer "Esoterischen Schule" ausgebildet wird. Die Schule
sei "auf Ratschluß" der "geistigen Welt" eingerichtet
worden, ihre AbsolventInnen seien auserwählte Repräsentanten
der Bewegung, behauptete der "Menschheitsführer" Steiner.
Diese organisatorischen Strukturen ähneln Steiners Legende vom
eingeweihten Führer Manu, dem eine ausgewählte Schar folgte.
An den Waldorfschulen gibt es innerhalb der LehrerInnenkollegiums eine
"innere Konferenz" aus eingeweihten AnthroposophInnen. Das
Gremium kooptiert neue Mitglieder. Einen Personalrat gibt es nicht,
weil die Waldorfschulen den "Tendenzschutz" in Anspruch nehmen,
wie kirchliche Einrichtungen.
Menschen, die nicht europäischer
Abstammung und nicht weißer Hautfarbe sind, wurden von List, Blavatsky
und Steiner als minderwertig angesehen. Steiner sagte, schon beim Auszug
aus Atlantis sei die europäische Bevölkerung "mit der
stärksten hellseherischen Anlage begabt" gewesen. Deshalb
hätten schon die alten Europäer im Unterschied zu Afrikanern
und Asiaten ein starkes Persönlichkeits- und Freiheitsbewußtsein
gehabt. Sigismund v.Gleich, in den 20er Jahren Redakteur der Zeitschrift
Die Drei und Verfasser eines mehrbändigen Werkes, in dem er die
Kulturgeschichte aus anthroposophischer Perspektive formulierte, behauptete
schon im ersten Band, daß die Ich-Entwicklung "im fortgeschrittensten
Menschheitsteil innerhalb der ersten weißhäutigen Rasse der
Atlantier" begann.
Für den Begründer der
Antroposophie stand fest: "Die weiße Rasse ist die zukünftige,
ist die am Geiste schaffende Rasse", während Schwarze "alles
Lichte und alle Wärme vom Weltenraum aufsaugen" und im Hinterhirn
und Rückenmark verarbeiten. "Der Neger", schwafelte Steiner
weiter, werde "drinnen fortwährend gekocht" und habe
deshalb, was an jedem Stammtisch auch ohne "Geistesschau"
bekannt ist, ein "starkes Triebleben". Der Arzt und anthroposophische
Völkerkundler Richard Karutz (1930) rückte die Menschen "primitiver"
Rassen, vor allem Afrikaner, auf die Stufe der Tiere. Sie hätten,
schrieb er im Sinn der anthroposophischen Evolutionslehre, "ihre
seelische Entwicklung durch den Ich-Impuls zu früh unterbrochen",
und verfügten deshalb über kein richtiges Ich, sondern haben
eine Gruppenseele in der Geisterwelt, die sie von außen führt.
Physisch zeige der "Primitive" deshalb tierische Züge,
sei widerstandsfähig gegen Schmerzen und rhythmisch veranlagt.
Die Ich-Entwicklung Schwarzer bedürfe der "Erziehung"
durch Weiße und einer Reinkarnation als Weißer.
Steiner glaubte, im Blut finde das
göttliche Ich seinen körperlichen Ausdruck. Das Ich präge
sein Wesen im Blut aus und gestalte auf diese Weise den menschlichen
Leib. Blut sei "ein ganz besonderer Saft", meinte der Guru,
weil in ihm "das Prinzip für die Ich-Werdung" liege.
Früher hätten die Menschen mithilfe des Blutes die Erlebnisse
ihrer Ahnen nachempfinden können. Die Reinheit des Blutes ist für
die Anthroposophie zwar zweitrangig gegenüber der spirituellen
Ich-Entwicklung. Allerdings behauptete beispielsweise Friedrich Rittelmeyer,
Gründer und Führer, Titel "Erzoberlenker", der Christengemeinschaft,
daß sogenannte "entartete" Musik wie der Jazz das Blut
und darüber auch das Ich vergifte. Karutz wandte sich gegen "Rassenmischung"
von Weißen und Schwarzen. Steiner behauptete, der Mensch als erdgebundenes
Wesen sei abhängig von den Kräften der Erde, die durch den
jeweiligen Ort bestimmt seien, in ihm wirkten und seinen "Rassencharakter"
prägten. Das Ergebnis: Die Asiaten denken mit der Seele, in Europa
hätte der Boden die Bewohner körperlich vorbereitet, "Träger
des intelligenten Wesens zu werden". Selbst das Klischee vom blonden
Germanen ließ der "Menschheitsführer" nicht aus.
Die besondere Abneigung von Steiner,
Karutz und dem Biologen Hermann Poppelbaum galt den Menschen brauner
bzw. dunklerer Hautfarbe, die sie als erstarrte Nachkommen, als Überbleibsel
längst vergangener Wurzelrassen einsortierten. Indianer bezeichnete
Steiner als ausgewanderte "eigentlich zugrunde gehende Neger".
Weil sie in Amerika nicht soviel Licht und Wärme aufnehmen können,
würden sie aussterben. Der Völkermord an den Indianern wird
spirituell gerechtfertigt. Die Malaien wiederum seien ausgewanderte
Mongolen, die zuviel Wärme und Licht kriegen und "am Menschenkörper
zerbröckeln", eine "absterbende Rasse."
Die AnthroposophInnen haben sich
bis heute weder von der Wurzelrassenlehre noch von den antisemitischen
und völkischen Elementen dieser Weltanschauung distanziert. Im
Gegenteil: Auf die wachsende Kritik von außen entwickelten die
Anthroposophen eine aus der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus
bekannte Strategie: Einerseits wird geleugnet, daß es sich bei
den Äußerungen Steiners und anderer um Rassismus handelt,
andererseits wird die (falsche) Einteilung von Menschen in Rassen sowie
das Modell verschiedener "Kulturepochen" und "Missionen"
offensiv verteidigt.
Ich möchte dies anhand von
drei Publikationen aus den 90er Jahren verdeutlichen, die allesamt in
Reaktion auf Rassismus-Vorwürfe entstanden sind. Es handelt sich
erstens um eine Serie von Beiträgen von Michael Klußmann,
die im Herbst 1996 im Zentralorgan der internationalen Anthroposophischen
Gesellschaft, Das Goetheanum, veröffentlicht wurden. Die zweite
Schrift ist ein Sonderheft, das die Redaktion der Mitteilungen aus der
anthroposophischen Arbeit in Deutschland, Herausgeber ist die deutsche
Anthroposophische Gesellschaft, im Sommer 1995 publizierte. Bereits
im Editorial schreibt Karl Martin Dietz von "haltlosen Anwürfen",
mit denen Steiner als Rassist diffamiert werde, und wertet diese Kritik
als "Zeichen eines verkommenen Geisteslebens." Zwei Jahre
zuvor (1993) widmete die Redaktion der Flensburger Hefte dem Thema Anthroposophie
und Rassismus ein ganzes Heft.
Die Redaktion der Flensburger Hefte
gilt als der "linksliberale" Flügel der Bewegung und
vertritt die Auffassung, "daß einige (!) Aussagen Rudolf
Steiners aus heutiger (!) Sicht und für die heutige (!) Zeit tatsächlich
keine Berechtigung mehr haben und abgelehnt werden müssen."
In welcher Zeit war es denn nach Ansicht heutiger AnthroposophInnen
berechtigt, Afrikaner als erhitzte Triebtäter, Indianer als erstarrt,
Asiaten als senil, Franzosen als dekadent, Polen als schlampig und Russen
als kindlich und brutal zu schmähen?
In allen drei Publikationen wird
das Thema Rassismus folgendermaßen behandelt:
1.) Die Autoren beschränken
sich auf Steiner und übergehen seine Mitstreiter aus der Führungsriege
2.) In den Flensburger Heften und
in den Mitteilungen wird - wie in dem holländischen Bericht - eingeräumt,
daß es rassistische Passagen gibt (Thomas Höfer , Wolfgang
Weirauch ). Allerdings werden diese als "problematische Einzelheiten"
gewertet (Wenzel Michael Götte ), die durch die Zeitumstände
bedingt sind (Bernd Hansen , Wolfgang Schad/Klaus Peter Endres , Zwischenbericht
).
Das Problem für die Anthroposophen
ist, daß einerseits der Rassismus ein tragendes Element ihrer
Evolutionslehre ist, ohne die wiederum von ihrer Weltanschauung nichts
originelles übrigbleibt. Andererseits beruht das Wahnsystem vollständig
auf der "Geistesschau" des Führers. Wer Steiner mit dem
Hinweis der Zeitbedingtheit entlasten will, unterminiert damit dessen
Anspruch, ein Seher und Prophet zu sein.
3.) Die Autoren gehen davon aus,
daß Rassen existieren.
So glaubt Klußmann, daß
der Erzengel Michael seit rund einhundert Jahren daran feilt, die Rassentrennung
zu überwinden, dennoch steht für ihn fest, daß Steiner
"die natürliche Ungleichheit der "Populationen"
nicht anders erklärt als die moderne Biologie und Anthropologie."
Der Bund der Waldorfschulen hat in einer Stellungnahme an die Kultusministerien
im März 1997 betont, der große Inspirator habe "Differenzierungen
in der Naturanlage von Menschengruppen nicht geleugnet." Klußmann
und die Waldorflehrer umgehen zwar den Begriff Rasse, meinen aber wie
alle ordinären Rassisten, man könne Menschen in verschiedene
Schubladen sortieren und bestimmte Merkmale zuteilen.
4.) Grundsätzlich verteidigt
wird das Evolutionskonzept Steiners und damit (wenngleich nicht immer
so benannt) die Wurzelrassenlehre.
Weirauch beharrt auf jener wirren
Evolutionslehre Steiners, wonach sich "die einzelnen Arten und
Rassen von der fortschreitenden Entwicklungslinie abspalteten".
Je eher sich eine "Rasse" abspaltete, desto früher sei
sie "in die Verhärtung" geraten, wiederholt Weirauch.
Nur daß der Meister nach den Affen die Indianer als nächste
dekadente Abzweigung auf dem Weg zum Europäer an die Tafel zeichnete
sei "unsensibel" gewesen: "Man stelle sich nur vor, unter
diesen theosophischen Zuhörern hätten auch einige Indianer
gesessen."
Der Goetheanum-Autor Klußmann
ist weniger sensibel. So sei das Verdikt der "Dekadenz", das
Steiner über Indianer fällte, "kein überhebliches
Urteil einer weißen Herrenschicht", sondern entspringe "okkulten
Tatsachen". Demnach sei die "gewaltige Geistigkeit des indianischen
Menschen mit einer vorzeitigen Verhärtung des physischen Leibes
verbunden gewesen." Aufgrund des Hirngespinstes, Indianer hätten
frühzeitig "verhärtete" Körper, gelangt Klußmann
zu dem Schluß, die späteren "Entwicklungskräfte"
könnten an der indianischen "Saturnrasse" nicht "plastizieren".
Eingeweihte wissen, das nach anthroposophischer Lehre, die Geister und
das göttliche Ich eine indianische Körperhülle im Unterschied
zu einer weißen-arischen nicht formen können, weshalb das
Ich erst in einem weißen Körper inkarnieren muß.
Ein weiterer offensiver Vertreter
des anthroposophischen Rassismus ist Wolfgang Schad. Er war lange Jahre
Waldorflehrer sowie Dozent am Lehrerseminar in Stuttgart und Leiter
der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der freien Waldorfschulen
und lieferte für die Sonderausgaben der Mitteilungen und der Flensburger
Hefte je einen Beitrag. Schad behauptet, es gebe Rassen und die "Rassengliederung"
würde von den Naturwissenschaften als "Beschreibung eines
objektiv nicht zu leugnenden Sachverhaltes" vertreten. In ihrem
gemeinsamen Artikel in den Mitteilungen behaupten Schad und sein Kollege
Klaus-Peter Endres sogar, Rassen seien karmisch bedingt und vertreten
eine "Rassenkunde" als "abstrahierende Wissenschaft".
Wolfgang Schad wurde 1993 an die
Privatuniversität Witten-Herdecke berufen, um dort ein neugestiftetes
Institut für Evolutionsbiologie und Morphologie zu übernehmen.
Klaus-Peter Endres ist Biologe und fungiert am gleichen Institut als
wissenschaftlicher Mitarbeiter. Er hat von 1989 bis 1991 im Auftrag
der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der freien Waldorfschulen
das "Problem der menschlichen Rassen natur- und geisteswissenschaftlich
bearbeitet". Das Projekt wurde zuletzt von der Anthroposophischen
Gesellschaft finanziert. Nimmt man die hier besprochenen Beiträge
von Schad und Endres zum Maßstab ihrer Tätigkeit in Herdecke,
sollte das Institut in "Richard Karutz-Institut für anthroposophische
Rassenkunde" umgetauft werden.
Der Begriff der Rasse ist, sofern
er auf den Menschen angewandt wird, in den vergangenen 50 Jahren auch
von der bürgerlichen Wissenschaft als Irrtum entlarvt worden: Der
Genetiker Luca Cavalli-Sforza lehnt die Rasseneinteilung ab und führt
äußere Unterschiede auf klimatische Bedingungen zurück.
Den Verlust der Hautpigmente bei Weißen erklärt er durch
Vitamin-D-Mangel als Folge einer einseitigen Getreidekost der frühen
Europäer. Anthroposophen sollte dies hinsichtlich des Speisezettels
in ihren Einrichtungen zu denken geben. Wulf D.Hund hat vor einigen
Jahren beschrieben, wie im Lauf der Jahrhunderte die Farben rot, gelb,
schwarz und weiß den Indianer, Asiaten, Afrikanern und Europäern
zugeteilt wurden. Diese Zuordnung schwankte jahrhundertelang, erst der
Botaniker Carl v.Linné nahm Mitte des 18.Jahrhunderts jene bis
heute gebrauchte starre Einteilung vor, wonach beispielsweise ein Indianer
rot und ein Afrikaner schwarz zu sein hat. Der Anthropologe Jonathan
Marks weist die "Rassengliederung", wie sie Schad vertritt,
als rassistisches Konzept zurück: Nicht die Biologie, sondern die
wirtschaftliche Lage bestimme die Kategorien.
Die Einteilung von Menschen in Rassen,
an der Anthroposophen eisern festhalten, ist eine Erfindung europäischer
und nordamerikanischer Intellektueller, die auf das Zeitalter der Aufklärung
zurückgeht. Die Ideologen der aufstiegsorientierten Bourgeoisie
attackierten damals die feudale Vorstellung von der gottgewollten herrschenden
Ordnung mit Erfolg. Nur brauchte die Bourgeoisie Ersatz, eine neue Legitimation
für die koloniale und imperialistische Ausbeutung von nicht-europäischen
Menschen in den Ländern Afrikas, Lateinamerikas, Asiens und Ozeaniens
und den Sklavenplantagen der USA.
5.) Die Autoren verteidigen Steiner,
weil dieser eine "Überwindung" der Rassen durch die spirituelle
Entwicklung prophezeit habe.
Das ist ein beliebter Trick von
Anthroposophen: Steiner habe gesagt, Rassen würden künftig
eine immer geringere Rolle spielen, die Individuen würden sich
aus Blut und Rasse hinausentwickeln. Diese Interpretation ist formal
korrekt, hat allerdings einige Tücken: Sie basiert erstens auf
der rassistischen Prämisse, daß der Mensch durch Rasse und
Blut gebunden sei und zweitens meinte Steiner gewaltige Zeiträume,
die zehntausende von Jahren dauern, nämlich die Phase von der dritten
lemurischen bis zum Anfang der sechsten Wurzelrasse.
Vor allem können sich laut
Steiner nicht alle von der Rasse lösen. Die Träger des Heils
sind zuerst blonde Germanen, die zu Anthroposophen mutieren. Die Rassenzugehörigkeit
als physische Prägung überwinden nur Anthroposophen, die schon
bei der nächsten Reinkarnation eine eigene spirituell fundierte
Rasse bilden, behauptete Steiner 1924: "Und indem der Mensch in
dieser Erdeninkarnation, in der er jetzt hier Anthroposoph wird, vom
Spirituellen ergriffen wird, wird er vorbereitet dazu, eben nicht mehr
nach solchen äußeren Merkmalen, sondern so, wie er in seiner
jetzigen Inkarnation war, zu sein. Es wird einmal der Geist an diesem
Mensch zeigen (...) wie er physiognomiebildend sein kann, menschengestaltend
sein kann." Diese Ansicht wird von seinen Anhängern geteilt,
die - wie der führende österreichische Anthroposoph Hans Erhard
Lauer in den 30er Jahren - glauben, in Zukunft würde aus spirituell
Erleuchteten die sogenannte "Michaels-Rasse" entstehen.
Stefan Leber (1998), Vorstandsmitglied
im Bund der freien Waldorfschulen und tätig am Lehrerseminar in
Stuttgart, bezieht sich ausdrücklich auf Steiners Wort, wonach
die AnthroposophInnen die sechste planetarische Epoche vorbereiten und
dabei den "Rassencharakter" abstreifen. Des Meisters Ansicht,
wonach die Europäer die am Geist schaffende Rasse seien, meint
Leber relativieren zu können, indem er darauf verweist, daß
Denken auch gefährlich ist, weil man intellektuell und materialistisch
werden könne. Insofern hätten auch Weiße ihr Päckchen
zu tragen, schlußfolgert der Waldorfpädagoge.
Steiner forderte "vorurteilsfreies
Verständnis", dann könne man die "objektive Charakteristik"
einer Rasse oder eines Volkes nicht "persönlich" nehmen.
Dank Karma und Reinkarnation würden wir alle "an den Sonnen-
oder vielleicht auch Schattenseiten aller Rassen, aller Volkstümer"
teilnehmen und jedes, auch das kleinste Volk, liefere seinen Beitrag
zur "Gesamtharmonie der Menschheitsevolution". Bis heute rechtfertigen
Anthroposophen wie die Autoren der Beiträge in den Mitteilungen,
alle acht Akademiker, den Rassismus mit Verweis auf die Wiedergeburt.
Steiner gab die Linie vor: "Da alle Menschen in verschiedenen Reinkarnationen
durch die verschiedenen Rassen durchgehen, so besteht, obgleich man
uns entgegenhalten kann, daß der Europäer gegen die schwarze
und gelbe Rasse einen Vorsprung hat, doch eigentlich keine Benachteiligung."
Steiner verwendete im Lauf der Jahre
fast jedes Stereotyp, das europäische Rassisten bis dahin erfunden
hatten: Den Mythos von Blut und Boden, die Zuschreibung bestimmter Eigenschaften
und die phrenologische Methode, wonach das Äußere eines Menschen
dessen Charakter, Temperament und - als esoterische Komponente - Karma
ausdrückt. Die phrenologische Methode war um die Jahrhundertwende
verbreitet, ihre Anhänger behaupten, genetische Wertigkeit, rassische
Zugehörigkeit und Eigenschaften eines Menschen nach dessen Äußerem
bestimmen zu können. Steiner übernahm diese rassistische Hilfswissenschaft
in seine Wurzelrassen- und seine Karmalehre. Über einen Waldorfschüler
behauptete er einmal, man könne an ihm eine "ausgesprochene
Anlage zum Verbrechertypus" ausmachen, der Junge könne ein
Schriftfälscher werden.
Die AnthroposophInnen verknüpfen
die mittelalterliche, abergläubische Lehre von den vier menschlichen
Temperamenten, die Karmalehre, die Idee vom viergliederigen Menschen
sowie die Phrenologie. Sie bilden die Grundlage der Waldorfpädagogik
als eine Art karmischer Bewährungshilfe. Auf einer internationalen
Tagung von WaldorflehrerInnen an Ostern 1996 in Dornach formulierte
der bereits erwähnte Stefan Leber kategorisch, die Lehre von Karma
und Reinkarnation sei "Grundlage allen wahrhaften Erziehens".
Er und andere Referenten pflegen eine esoterische Phrenologie, wonach
aus dem Aussehen eines Kindes auf dessen Charakter, seine Eigenschaften
und Fähigkeiten sowie dessen frühere Erdenleben geschlossen
werden kann. Ernst-Michael Kranich, ebenfalls Vorstandsmitglied im Bund
der Waldorfschulen und am Lehrerseminar Stuttgart tätig, beispielsweise
begreift den Kopf eines Kindes als "Offenbarung von Ich und Seele",
in dessen Form sich dessen "inneres Wesen aus dem vergangenen Erdenleen"
ausdrücke. Pirkko Helkangas und Robert Thomas zitierten vor den
versammelten WaldorfpädagogInnen die Ansicht des Meisters, Menschen,
die sich nicht für Musik begeistern, würden im nächsten
Leben unter Lungenkrankheiten leiden, während an Malerei interessierte
Menschen einen sympathischen Gesichtsausdruck bekämen.
Das Resultat solchen Aberglaubens
ist ein starres Schema, in das die Kinder gepreßt werden. Ein
hagerer und knochiger Mensch mit vorgebeugter Körperhaltung gilt
als Melancholiker und ist von seinem physischen Leib geprägt, der
Choleriker hat demnach einen kurzen Hals und kurze Beine und wird vom
Ich beherrscht, der Sanguiniker ist dank des ihn bestimmenden Ätherleibes
zartgliedrig und wohlproportioniert und Phlegmatiker sind wohlgenährt
und rund, ihre astralische Seele prägt Gewohnheit und Gedächtnis.
Der Waldorflehrer bestimmt die Temperamente und die Sitzordnung der
Klasse. Sympathien zwischen den Schülern sind nebensächlich,
Phlegmatiker und Choleriker sollen außen sitzen und die Melancholiker
und Sanguiniker in die Mitte nehmen. Welches der vier Temperamente einen
Menschen bestimmt, ist karmisch bestimmt. Kranich zitiert Steiner, wonach
der Melancholiker im vorigen Leben für sich allein leben mußte,
während der Choleriker viel erlebt hat, wer ein angenehmes und
oberflächliches Leben geführt hat, wird Phlegmatiker oder
Sanguiniker. Ihrem Selbstverständnis nach ist die Waldorfschule
eine "Schicksalsgemeinschaft", weil das Karma jeden Lehrer
oder Schüler in eine bestimmte Einrichtung gebracht hat.
Das Grundlagenwerk des anthroposophischen
Rassismus, Steiners Phantasieprodukt Aus der Akasha-Chronik, wird von
AnthroposophInnen bis heute anerkannt. Die Akasha-Chronik gehört
zur Vorbereitung des Geschichtsunterrichts an den Waldorfschulen, der
Mythos von Atlantis wird als reale Tatsache behandelt. Die Schüler
sollen die einzelnen Epochen nacherleben und zum Beispiel in der fünften
Klasse wie Griechen und Römer empfinden. Benutzt werden Märchen,
Legenden, biblische Erzählungen, Heilige und Märtyrer, Götter
und Heldenfiguren, um anthroposophische Weltanschauung zu vermitteln.
Caroline v.Heydebrand empfahl in ihrem Standardwerk (1928/10.Auflage
1996) über den Lehrplan die "Völker- und Rassenkunde"
außerdem als Lehr und Erzählstoff für den deutschsprachigen
Unterricht.
Ein Ergebnis eines Unterrichts,
der sich aus anthroposophischen Rassenwahn speist, ist folgende Eintragung
einer Schülerin aus dem Geschichtsunterricht: "Dort wo heute
die Wogen des atlantischen Ozeans rollen lag einst der Erdteil den wir
Atlantis nennen. Das Feste war vom Flüssigen noch nicht eindeutig
getrennt. (...) Manu, der ein erleuchteter Sonnenpriester und König
war, wurde von Brahma ausersehen, nach der Flut ein Menschenführer
zu werden. (...)" Das Mädchen schreibt weiter über die
Wanderung nach Osten, die Einweihung der sieben Rishis und die "Wiege
der Arier" nordwestlich von Indien, über Ahriman und den "großen
Führer und Propheten" Zarathustra.
Die Anthroposophen teilen mit anderen
völkischen Gruppen den Affekt gegen den Westen, der als Synonym
steht für das, was die deutsche Rechte haßt: Materialismus,
Intellektualismus, Aufklärung, Revolution, Demokratie - bis hin
zu modernen Sportarten, Rock- und Popmusik. An den Waldorfschulen ist
bis heute Fußballspielen ausdrücklich verboten.
In ihrem Kern enthält die Anthroposophie
eine Rassenlehre, die Menschen anhand von zugeschriebenen biologischen,
spirituellen und charakterlichen Eigenheiten selektiert. Den dadurch
konstruierten Rassen und Völkern schreibt die Anthroposophie verschiedene
Aufgaben oder "Missionen" zu. Dabei haben die Germanen, heute
wird die Chiffre "Mitteleuropa" favorisiert, in der Gegenwart
die besondere Aufgabe der "Ich-Entwicklung". Vor dem Hintergrund
der Wurzelrassen lehre sind auch eine Reihe von Beiträgen zu verstehen,
die in den Zeitschriften Das Goetheanum, Info 3 und Der Europäer
erschienen sind und sich mit Osteuropa, der NATO-Osterweiterung und
dem Jugoslawienkrieg befassen. Die Ereignisse werden verschwörungstheoretisch
interpretiert: als ein Versuch des "Westens", den spirituellen
Stafettenlauf zu unterbrechen, indem Mitteleuropa/Deutschland von Osteuropa,
nach Steiner der kommenden sechsten arischen Unterrasse der Westslawen,
getrennt oder Deutschland als Kulturbringer der Slawen geschädigt
wird. Die deutschnationalen Einkreisungs- und Verschwörungsphantasien
Steiners und seiner Anhänger aus der Zeit des Ersten Weltkrieges
werden, bezogen auf die aktuelle Situation, reformuliert.
Insofern war und ist die Anthroposophie
Teil des völkischen Sumpfes in Deutschland und als solches zu bekämpfen.
Den hier zitierten Publikationen aus den 90er Jahren nach zu schließen
- und es handelt sich dabei um zentrale Organe der Bewegung und teilweise
hohe Funktionäre - sowie einer ganzen Reihe von "Einzelfällen"
gewinnt der rassistische Flügel innerhalb der Anthroposophie zusehends
an Boden. In der Bewegung spiegelt sich damit, ausgedrückt in der
Sprache dieser Subkultur, die Regression des Massenbewußtseins
wieder. sie beruht sowohl auf den Krisenängsten insbesondere bürgerlicher
Schichten, spiegelt aber auch den Übergang zu neuen (Herrschafts-)
Techniken wider, bei deren Anwendung traditionelle humanistische, christliche
und aufklärerisch-demokratische Werte hinderlich sind. Insbesondere
die Idee von der grundsätzlichen Gleichwertigkeit aller Menschen
wird durch die Lehren von Karma, Wurzelrassen und ihren Missionen, sowie
vom Glauben an große spirituelle Führer ausgehebelt. Hier
zeichnen sich historische Parallelen zur Periode vor 1933 ab. Das Verdrängte
kehrt zurück.