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Die Wurzelrassen-Lehre als ein zentrales Element anthroposophischer Weltanschauung
"Die weisse Rasse ist die zukünftige, ist die am Geiste schaffende Rasse."
(Rudolf Steiner, 1923)
von Peter Bierl

Im Jahr 1994 entdeckte Angelique Oprinsen, Mutter einer Schülerin der Waldorfschule in Zutphen (Niederlande), ein Übungsbuch bei ihrer Tochter, dessen Inhalte sie schockierte. Das Werk trug den Titel "Rassenkunde" und Frau Oprinsen fand darin eine Tabelle, derzufolge die "schwarze Rasse" als kindlich, die "gelbe Rasse" als heranwachsend, die "weisse Rasse" als erwachsen und die "rote Rasse" als vergreist einzustufen sei.

Ausserdem enthielt das Buch Sätze mit Stereotypen wie: "Neger haben einen Sinn für Rhythmus und dicke Lippen" und bei "gelben" Menschen "versteckt das immerwährende Lächeln die Emotionen". Frau Oprinsen stellte den Lehrer ihrer Tochter zur Rede. Bei einem Treffen mit Lehrern und Eltern der Waldorfschule bekam sie zu hören, dass sie die Ideen Rudolf Steiners über "Rassen" nicht verstehen würde. Wäre es anders, würde sie auch den Unterrichtsstoff gutheissen.

Frau Oprinsen ließ sich nicht einschüchtern und nicht beirren. Sie informierte die Redaktion von De Volkskrant, die den Vorfall in einer ihrer Wochenendausgaben auf der ersten Seite publik machte und damit eine heftige Auseinandersetzung auslöste. Der stellvertretende Vorsitzende der niederländischen Anthroposophen, Christof Wiechert, tat die Affäre zuerst als "Einzelfall" ab und stempelte den Lehrer zum Sündenbock. Kurz darauf fabulierte er selbst im Radio über die "speziellen Qualitäten" dunkelhäutiger Fussballspieler bei Ajax Amsterdam. Wiechert trat als nächster "Einzelfall" einige Tage später von seinem Posten zurück. Der Vorstand der niederländischen Anthroposophische Gesellschaft sprach sich in Zeitungsanzeigen gegen Rassismus aus und bezog prophylaktisch den Guru mit ein: "Soweit bei Rudolf Steiner die Rede von Rassenlehre sein sollte, distanzieren wir uns davon ausdrücklich."

Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft protestierten gegen dieses Vorgehen des Vorstandes. Das heisst, sie protestierten nicht gegen den Rassismus, sondern gegen die Distanzierung von Steiner und seinen Lehren. Schliesslich beschloss die niederländische Sektion im März 1996 eine Kommission einzusetzen, die die Vorwürfe insbesondere gegen Steiner prüfen sollte. Diese Kommission bestand aus sieben Wissenschaftlern, die allesamt Mitglieder der anthroposophischen Gesellschaft sind. Von einer unabhängigen Prüfung des Steinerschen Werkes und der Anthroposophie kann also nicht die Rede sein.

Im Februar 1998 legte die Kommission einen Zwischenbericht vor: Insgesamt waren 150 Zitate Steiners untersucht worden. Dabei habe man zwölf Stellen gefunden, "die, würden sie heute ausgesprochen, geeignet wären, Menschen wegen ihrer Rassenzugehörigkeit zu diskriminieren", heißt es in dem Bericht. Diese Passagen wären nach niederländischem Recht vermutlich strafbar. In weiteren 50 Fällen attestierte die Kommission eine "unglückliche Wortwahl". Die Zitate beinhalteten entweder eine "leichte Form der Diskriminierung" oder könnten "aus ihrem Zusammenhang gerissen, zum Missverständnis einer Diskriminierung führen." Ausserdem rügten die Mitglieder, daß im Fach Geographie an den niederländischen Waldorfschulen "Rassenkunde" mit diskriminierenden Inhalten betrieben werde.

Diese Kommission ist damit das erste offizielle anthroposophische Gremium, das überhaupt öffentlich einräumt, daß es rassistische Passagen im Werk Rudolf Steiners gibt. Jedoch stellte die Kommission insofern einen Persilschein aus, als sie behauptet, Steiners Werk enthalte keine Rassenlehre. Enthalten sei lediglich "eine bestimmte Anschauungsweise, wie im Werdegang der Menschheit Unterschiede entstanden sind". Definiert wurde Rassenlehre von den niederländischen Anthroposophen als "scheinbar wissenschaftliche Theorie, aufgrund derer die angebliche Superiorität der einen Rasse auf Kosten anderer legitimiert wird". Der von Steiner gebrauchte Begriff der Wurzelrasse habe demgegenüber einen anderen Inhalt.

Das ist Haarspalterei. Zwar behauptete Steiner im Unterschied zum NS-Rassismus keine dauernde und biologisch bedingte Überlegenheit der Arier oder der Germanen. Aber er erklärte "weisse" Arier zur am Geist schaffenden Rasse und meinte, die Germanen hätten für die nächsten 1500 Jahre eine spirituelle Führung inne; das sind 500 Jahre mehr als das Tausendjährige Reich.

Die Kommissionsmitglieder selbst halten an der rassistischen Perspektive fest, dass die Menschheit in Rassen einteilbar wäre. Das belegt die oben zitierte Wortwahl, wonach Menschen aufgrund ihrer "Rassenzugehörigkeit" diskriminiert werden. Die Autoren meinen, "dass eine Rassenlehre durchaus nicht immer jene negative Bedeutung beinhaltete, die dieser Begriff seit dem Zweiten Weltkrieg bekommen hat." Heisst das, es gab vor dem Zweiten Weltkrieg "Rassenlehren" mit positiver Bedeutung? Und warum formulierten die Kommissionsmitglieder überhaupt diese Ansicht? Wo das Werk Steiners angeblich gar keine Rassenlehre enthält.

Hier geht es nicht um negative Assoziationen und Geschmacksfragen. Der Begriff der Rasse ist wissenschaftlich unhaltbar und selbst eine Erfindung von Rassisten. An dieser Erkenntnis sind auch historische Autoren wie Steiner zu messen. Das Argument der Kommission, Steiner habe nichts Strafbares formulieren können, weil das Diskriminierungsverbot in den Niederlanden erst nach seinem Tod verabschiedet wurde, ist irrelevant und eine plumpe Strategie der Verdrängung. Im Schlusskapitel des Zwischenberichtes wird der Rassismus des Meisters verteidigt. Dort heisst es, Steiner habe versucht, "anthropologische Unterschiede in einem beschreibenden Begriffsrahmen zu erklären."

In dem Zwischenbericht werden einzelne Passagen aufgelistet und für jede eine rechtfertigende Erklärung angeboten. Zwei Beispiele: Steiner behauptete, schwangere weisse Frauen sollten keine "Negerromane" lesen, weil dadurch das Kind ein Mischling würde, was er als negativ ansah. Die Kommission interpretiert dies als einprägsames "überzogenes Beispiel", anhand dessen Steiner sein Publikum davon überzeugen wollte, dass die Wahrnehmungen einer Mutter die geistigen und körperlichen Eigenschaften des werdenden Kindes beeinflussen. Auch die Charakterisierung der Indianer durch Steiner als dekadent sei nicht rassistisch gemeint. Sie müsse im Kontext der anthroposophischen Evolutionslehre betrachtet werden und beziehe sich nur auf die "Bewusstseinsentwicklung". Steiner habe die Indianer als dekadent bezeichnet, weil sie die "nachatlantische Bewusstseinsentwicklung" vom "Traumbewusstsein" zum "Tagesbewusstsein" nicht mitvollzogen haben.

Die von der niederländischen Anthroposophen-Kommission aufgelisteten 150 rassistischen Passagen aus dem Werk Steiners sind keine 150 Ausrutscher oder Einzelfälle. Tatsächlich enthält die Anthroposophie eine Rassenlehre, die Steiner aus der Theosophie Helena P. Blavatskys übernahm und weiterentwickelte. Diese Lehre von den sogenannten Wurzelrassen beinhaltet ein esoterisch-rassistisches Evolutionskonzept und ist als solches ein zentraler Bestandteil der anthroposophischen Weltanschauung. Die Lehre von den Wurzelrassen und ihren Unterrassen, ihrem Entstehen und "Verfall" sowie ihren jeweiligen "Missionen" wurde von Steiner selbst, und anderen führenden Anthroposophen formuliert. Die Wurzelrassenlehre wird bis heute von AnthroposophInnen vertreten, wobei oft verschleiernd von "Kulturepochen" die Rede ist.

Im folgenden werde ich diese Rassenlehre skizzieren und ihren Stellenwert innerhalb der Anthroposophie als einer religiösen Heilslehre bestimmen. Anschliessend stelle ich anhand von drei anthroposophischen Publikationen aus den 90er Jahren dar, dass diese Lehre bis heute verfochten wird, und gebe Hinweise, wie die Rassenlehre in die Waldorfpädagogik einfliesst.

Anthroposophie ist eine religiöse Heilslehre, die ihren AnhängerInnen Gesundheit, Seelenheil, übersinnliche Fähigkeiten (und damit Macht) durch eine spirituelle Höherentwicklung des Geistes verspricht. Das Weltbild der Anthroposophie besteht aus Elementen des Hinduismus, des Christentums sowie der Gnosis. Wie viele andere Richtungen der modernen Esoterik bzw. des New Age glauben die AnhängerInnen, dass einst eine göttliche Alleinheit existierte, die sich jedoch mit der Materie vermischte und in lauter Einzelteile zerfiel. Diese einzelnen "göttlichen Funken" können sich im Lauf der Geschichte als solche selbst erkennen, die Bindung an die Materie - das böse, negative Prinzip - abstreifen und sich am Ende wieder zum göttlichen Einen fügen. Nach Auffassung der antiken Gnostiker, etwa der Manichäer, attackieren die Dämonen der Finsternis das Lichtreich, das Göttliche und die Materie vermischen sich. Diese Verstrickung kann theoretisch jeder Mensch erkennen und sich durch asketisches Handeln reinigen. In Steiners Werken drückt sich dies als extrem sexual- und körperfeindliche Haltung aus. Sexualität ist eigentlich nur gestattet als Mittel der Fortpflanzung zwecks evolutionärer Höherentwicklung.

Steiner behauptete, dass die Entwicklung der "geistigen Funken" sich in einer langen Kette von Wiedergeburten abspielt, auf sieben Planeten, die ebenfalls reinkarnieren. Die "geistigen Funken" oder vereinfacht gesagt, der menschliche Geist, entwickelt sich dabei von der Stufe des Minerals auf dem Saturn bis zum Obererzenegel auf dem Vulkan - sofern er sich von der Anthroposophie erleuchten lässt.

Der menschliche Geist wird auf seinem Weg abgelenkt von allerlei bösen Geistern und Dämonen, besonders von Ahriman, der den Materialismus verkörpert, und von Luzifer (Intellektualismus). Auf der anderen Seite stehen den Menschen die "grossen Eingeweihten" bei sowie Engel und Erzengel. Als besonderer Schutzengel der Deutschen und der Anthroposophen gilt nach Steiner der Erzengel Michael: Er führt die erleuchteten Anthroposophen im Kampf gegen die Mächte der Finsternis. Michael spielt deshalb in der Waldorfschule eine grosse Rolle: Es gibt Michaelsfeiern, allerlei Gemälde mit Michael, z.B. als Drachentöter, sowie Geschichten und Sprüche, die von dem Erzengel handeln.

Die Gegenwart spielt sich demnach auf dem vierten Planeten, der Erde ab. Am Ende der Erdenzeit werden die anthroposophisch erleuchteten Geister ihre physische Hülle abstreifen und zu Engeln mutieren, während die "Materialisten" zu Tiermenschen degenerieren. Die menschliche Entwicklung auf dem Planeten Erde vollzieht sich in sieben aufeinanderfolgende Wurzelrassen. Wobei der Geist sich in den ersten Wurzelrassen immer mehr mit der Materie verbindet, bis er in der "atlantischen Epoche" eine menschliche körperliche Gestalt annimmt. Der Geist verliert das intuitive Wissen um seine Göttlichkeit sowie magische Künste, entwickelt dafür aber neue Fähigkeiten.

Die ersten fünf Wurzelrassen sowie einige Unterrassen schilderte Steiner in dem Buch Aus der Akasha-Chronik. Diese Akasha-Chronik gilt Esoterikern als eine Art lebende Schrift, die nur die Eingeweihten verstehen. In dieser Schrift, so sagte Steiner, spielen sich die Vorgänge "in vollem Leben" ab, und man kann auf diese Weise in ferne Vergangenheiten blicken, die weiter zurückreichen als die bekannte "äussere Geschichte". Was die Zukunft und Prognosen über noch folgende Rassen betrifft, verstand sich der Mann als Prophet.

Die ersten beiden, die "polarische" und die "hyperboräische" Rasse, hatten kaum menschliche Züge. Bei den Hyperboräern, sagte Steiner, schwand die Fähigkeit zur Selbstbefruchtung, die Ernährungs- und Fortpflanzungsorgane wandelten sich zu Sprech- und Denkorganen. Die irdische Materie verdichtete sich, weshalb die Seele den Körper nicht mehr beliebig formen konnte. Die dritte Wurzelrasse, die sogenannten "Lemurier", lebten südlich des heutigen Asien: Sie hausten in Erdhöhlen und atmeten eine wässrige milchartige Substanz ein. Sie waren ursprünglich geborene Magier, konnten Gedanken lesen und ungeheure Lasten durch blossen Willen heben. Ihr Aufgabe war es, den Willen auszubilden, wofür nach Steiner eine gewisse Brutalität notwendig war.

Für den Untergang der Lemurier lieferte Steiner zwei Erklärungen, nämlich Vulkanausbrüche und/oder zuviel Sex. Er schrieb den Lemuriern zu, anstelle der Selbstbefruchtung die zweigeschlechtliche Fortpflanzung ausgebildet zu haben. Die spirituelle Evolution habe die Lemurier überrollt und ihr wenig entwickeltes Inneres in die äussere körperliche Starrheit gezwängt, erklärte Steiner. Die Charakteristik der äusseren Starre bedeutet in der anthroposophischen Terminologie immer, dass ein Lebewesen, ein Mensch oder ein Tier, nicht mehr entwicklungsfähig ist und degeneriert. Die lemurische Rasse verfiel, die meisten sanken herab, gemäss Steiners Regel, dass der Aufstieg einer Minderheit immer den Abstieg der Mehrheit bedeutet, "bis zur Stufe der Wildheit." Unter dem Einfluss höherer Wesen entwickelte sich nur eine kleine Gruppe zum Keim der atlantischen Wurzelrasse.

Diese vierte Wurzelrasse benannte Steiner nach der mythischen Insel Atlantis, die nach der Legende einst zwischen Europa und Amerika lag. Plato hatte einst einen Inselstaat Atlantis beschrieben, heute gelten alle Lokalisierungsversuche als widerlegt, was einen echten Esoteriker nicht beirren kann. Für Anthroposophen ist Atlantis eine historische Realität, die sie verteidigen und die in den Waldorfschulen auch als solche gelehrt wird. Der Generalsekretär der Anthroposophischen Gesellschaft, Günther Wachsmuth, fertigte in den 50er Jahren Skizzen von Atlantis an.

Die Ordnung auf Atlantis war laut Steiner theokratisch. Führer mit enormen Fähigkeiten, die sie "von höheren, nicht unmittelbar zur Erde gehörenden Wesenheiten", von Götterboten, erhalten hatten, herrschten über die Masse der Bewohner. Die Einweihung der Führer erfolgte in Mysterientempeln. Die Religion ist das neue spirituelle Element, das auf Atlantis entsteht. Ominöse "hochentwickelte Wesenheiten" waren am Werk, die mit den "Gesetzen der Rassenbildung" bekannt waren. Auch die Masse der Atlantier verfiel. Wieder bildete nur ein kleiner Teil den Kern für die fünfte arische Wurzelrasse.

Bei Atlantiern und Ariern schilderte Steiner auch die Eigenarten und Aufgaben der jeweiligen sieben "Unterrassen". So schuf etwa die dritte Unterrasse, die Tolteken, Staaten mit Regierungen und führten die Erbfolge für die natürlich spirituell eingeweihten Herrscher ein. Wachsmuth beschrieb diese Tolteken als Vorläufer aller indianischen Gruppen: Sie seien durch eine "stark einseitige Ausbildung des Kopf- und Sinnessystems" frühzeitig der "Verknöcherung" und "Vergreisung" verfallen. Mit dieser dritten Unterrasse sehen Anthroposophen schon den Verfall der Atlantier einsetzen, weil die Menschen "selbstsüchtig" wurden.

Die fünfte Unterrasse entwickelte die logische Denkkraft und die Urteilskraft, verlor dafür aber die Lebenskraft. Die ambivalente Haltung gegenüber rationalem Denken, die Steiner an dieser Stelle formulierte, durchzieht das gesamte Werk, später stilisierte er diesen Zwiespalt zum kosmischen Kampf zwischen Ahriman und Michael. Für den Kleinbürger Steiner waren Bildung und Wissenschaft Mittel und Ausweis des sozialen Aufstiegs, selbst seine verrücktesten Spekulationen verkaufte er noch als Wissenschaft. Das logische Denken bezeichnete er deshalb einerseits als wichtiges Durchgangsstadium der menschlichen Geschichte. Andererseits teilte er die völkische Aversion gegen den Intellektualismus als zersetzendes Gift und personifizierte die Ratio mit dem antisemitischen Stereotyp des Juden. Seine fünfte atlantische Unterrasse taufte er bezeichnenderweise Ur-Semiten. Ihr begabtester Teil, so schrieb er, werde zum Keim der arischen Rasse, "welche die vollständige Ausprägung der denkenden Kraft mit allem, was dazugehört, zur Aufgabe hat."

Die Masse der Ur-Semiten aber trifft der böse Fluch der Ratio, sie produzieren "unruhige Zustände" und beherrschen obendrein Techniken wie das Feuer, aber ohne religiösen Charakter, und gehen schließlich an "Neuerungssucht und Veränderungslust" zugrunde. Wiederum griff Steiner ein Motiv auf, das schon die deutschen Romantiker gegenüber der Aufklärung und der französischen Revolution formuliert hatten. Demnach zerstört rationales Denken die Religion als ein ideologisches Fundament von Herrschaft. Bestehende gesellschaftliche Ordnungen werden nicht mehr als gottgegeben und ewig, sondern als menschgemacht und veränderbar begriffen. In der Perspektive der deutschen Romantiker und der Anthroposophen geriet damit die verklärte mittelalterliche "ganzheitliche" Ordnung ins Wanken.

Bevor Atlantis im Ozean versank, wanderten einzelne Gruppen aus, glauben die AnthroposophInnen. Die Nachkommen derer, die in den Westen, nach Amerika gingen, diffamierte Steiner als "dekadente" Abzweigung. Sie seien eine jener Gruppen, bei denen das Knochensystem zu früh verhärtete, solche Menschen blieben als "degenerierte Menschenrasse zurück". Sein Schüler Wachsmuth wollte anhand des Kopffederschmuck beweisen, daß Indianer ein "verhärtetes" Kopfsystem besäßen und darum degeneriert seien. Bei der "malayischen Rasse" diagnostizierte der Geisterseher Steiner ein zu früh verhärtetes Nervensystem, bei den Schwarzen ein verhärtetes Ernährungssystem und bei den Mongolen verhärtetes Blut sowie einen naiven Glauben an das Leben. Er stellt Indianer, Malaien, Schwarze und Mongolen mit Tieren auf eine Stufe, in dem er physische Verhärtung und damit spirituellen Stillstand unterstellte. Die Indianer wurden auf dem Weg zum Arier und zum Übermenschen "herausgesetzt" wie die Affen. Die Waldorflehrerin Monika Neve (1989) spricht von den heutigen "sogenannten Wilden" und behauptet, sie würden "Degenerationen vormals höherer Kulturen darstellen."

Die Übergangsphase zwischen Atlantiern und Ariern schilderte Steiner als Wanderung und permanente Auslese. Die Flüchtlinge aus Atlantis seien zunächst von Westen nach Osten gewandert und besiedelten Europa, (Nord-)Afrika und Asien. Außer einigen Götterboten, menschlich-göttlichen Doppelwesen, habe die große Masse in einer naturwüchsigen und dumpfen Art vegetiert und war dem "allmählichen Aussterben geweiht." Eine kleine Gruppe habe das Denken entwickelt, aus ihnen wählte "Hauptführer" Manu, ein göttliches Wesen in Menschengestalt, "die Befähigsten heraus, um aus ihnen eine neue Menschheit hervorgehen zu lassen." Diese Auserlesenen wurden in Innerasien isoliert: Sie sollten dort die göttlichen Kräfte erkennen, denen sie bisher unbewußt gefolgt waren und sich als "ausführende Organe der göttlichen Vorsehung" begreifen. Manu brachte ihnen bei, sagte Steiner, "daß die unsichtbaren Mächte das lenken, was sie sichtbar vor sich hätten." Die Mitglieder der Gruppe müssen noch zwei Selektionen bestehen. Manu wählte nochmals eine kleine Schar aus, von denen wiederum die "Befähigsten" unmittelbar in seine "göttliche Weisheit" eingeweiht werden. Aus dieser Elite entstehen die "heiligen Lehrer", die Priesterkönige und Führer. Diese Priester seien ohne jede Begierde, "karmafrei" gewesen und installierten kraft ihrer "überpersönlichen Weisheit" das Kastensystem.

Auf einer zweiten Wanderung, diesmal von Osten nach Westen, schufen die neuen Arier bei den zurückgebliebenen Gruppen sämtliche Hochkulturen. Die Anthroposophie Steiners unterscheidet sich in dieser rassistischen Hypothese von Guido List und dessen Schülern Adolf Hitler Hermann Wirth dadurch, daß List glaubte, die Arier stammten ursprünglich von einem Kontinent am Nordpol und seien von der Eiszeit vertrieben worden, bevor sie der Menschheit die Kultur brachten. Die Funktion der Arier, "zu denen unsere heutige Kulturmenschheit gehört", ist laut Steiner, "die Denkkraft" zu entwickeln, wobei der Gipfelpunkt eine "Geistesschau" ist, so daß "ein größerer Teil der Menschheit dazu kommen wird, einem menschlichen Manu frei zu folgen, wie das die Keimrasse dieser fünften mit dem göttlichen getan hat." Ist dieser Zustand erreicht, werde sich den Menschen "der größte Eingeweihte" öffentlich enthüllen".

Die Ansicht, daß die Masse der Menschen von spirituell erleuchteten Führern, unsichtbaren Geistern, Götterboten oder Engeln geleitet wird und werden muß, ist ein zentrales Dogma. Diese hierarchische und antidemokratische Auffassung wird - soweit sich dies mit den Normen eines bürgerlichen Rechtstaates vereinbaren läßt - in der Organisation der Anthroposophischen Gesellschaft und den Waldorfschulen umgesetzt. Das beginnt auf dem siebenstufigen Pfad der Erleuchtung, wo dem Novizen zuallererst Demut und Unterwerfung abverlangt werden. Innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft installierte Steiner eine "Freie Hochschule" in Dornach, wo der Führungskader in einer "Esoterischen Schule" ausgebildet wird. Die Schule sei "auf Ratschluß" der "geistigen Welt" eingerichtet worden, ihre AbsolventInnen seien auserwählte Repräsentanten der Bewegung, behauptete der "Menschheitsführer" Steiner. Diese organisatorischen Strukturen ähneln Steiners Legende vom eingeweihten Führer Manu, dem eine ausgewählte Schar folgte. An den Waldorfschulen gibt es innerhalb der LehrerInnenkollegiums eine "innere Konferenz" aus eingeweihten AnthroposophInnen. Das Gremium kooptiert neue Mitglieder. Einen Personalrat gibt es nicht, weil die Waldorfschulen den "Tendenzschutz" in Anspruch nehmen, wie kirchliche Einrichtungen.

Menschen, die nicht europäischer Abstammung und nicht weißer Hautfarbe sind, wurden von List, Blavatsky und Steiner als minderwertig angesehen. Steiner sagte, schon beim Auszug aus Atlantis sei die europäische Bevölkerung "mit der stärksten hellseherischen Anlage begabt" gewesen. Deshalb hätten schon die alten Europäer im Unterschied zu Afrikanern und Asiaten ein starkes Persönlichkeits- und Freiheitsbewußtsein gehabt. Sigismund v.Gleich, in den 20er Jahren Redakteur der Zeitschrift Die Drei und Verfasser eines mehrbändigen Werkes, in dem er die Kulturgeschichte aus anthroposophischer Perspektive formulierte, behauptete schon im ersten Band, daß die Ich-Entwicklung "im fortgeschrittensten Menschheitsteil innerhalb der ersten weißhäutigen Rasse der Atlantier" begann.

Für den Begründer der Antroposophie stand fest: "Die weiße Rasse ist die zukünftige, ist die am Geiste schaffende Rasse", während Schwarze "alles Lichte und alle Wärme vom Weltenraum aufsaugen" und im Hinterhirn und Rückenmark verarbeiten. "Der Neger", schwafelte Steiner weiter, werde "drinnen fortwährend gekocht" und habe deshalb, was an jedem Stammtisch auch ohne "Geistesschau" bekannt ist, ein "starkes Triebleben". Der Arzt und anthroposophische Völkerkundler Richard Karutz (1930) rückte die Menschen "primitiver" Rassen, vor allem Afrikaner, auf die Stufe der Tiere. Sie hätten, schrieb er im Sinn der anthroposophischen Evolutionslehre, "ihre seelische Entwicklung durch den Ich-Impuls zu früh unterbrochen", und verfügten deshalb über kein richtiges Ich, sondern haben eine Gruppenseele in der Geisterwelt, die sie von außen führt. Physisch zeige der "Primitive" deshalb tierische Züge, sei widerstandsfähig gegen Schmerzen und rhythmisch veranlagt. Die Ich-Entwicklung Schwarzer bedürfe der "Erziehung" durch Weiße und einer Reinkarnation als Weißer.

Steiner glaubte, im Blut finde das göttliche Ich seinen körperlichen Ausdruck. Das Ich präge sein Wesen im Blut aus und gestalte auf diese Weise den menschlichen Leib. Blut sei "ein ganz besonderer Saft", meinte der Guru, weil in ihm "das Prinzip für die Ich-Werdung" liege. Früher hätten die Menschen mithilfe des Blutes die Erlebnisse ihrer Ahnen nachempfinden können. Die Reinheit des Blutes ist für die Anthroposophie zwar zweitrangig gegenüber der spirituellen Ich-Entwicklung. Allerdings behauptete beispielsweise Friedrich Rittelmeyer, Gründer und Führer, Titel "Erzoberlenker", der Christengemeinschaft, daß sogenannte "entartete" Musik wie der Jazz das Blut und darüber auch das Ich vergifte. Karutz wandte sich gegen "Rassenmischung" von Weißen und Schwarzen. Steiner behauptete, der Mensch als erdgebundenes Wesen sei abhängig von den Kräften der Erde, die durch den jeweiligen Ort bestimmt seien, in ihm wirkten und seinen "Rassencharakter" prägten. Das Ergebnis: Die Asiaten denken mit der Seele, in Europa hätte der Boden die Bewohner körperlich vorbereitet, "Träger des intelligenten Wesens zu werden". Selbst das Klischee vom blonden Germanen ließ der "Menschheitsführer" nicht aus.

Die besondere Abneigung von Steiner, Karutz und dem Biologen Hermann Poppelbaum galt den Menschen brauner bzw. dunklerer Hautfarbe, die sie als erstarrte Nachkommen, als Überbleibsel längst vergangener Wurzelrassen einsortierten. Indianer bezeichnete Steiner als ausgewanderte "eigentlich zugrunde gehende Neger". Weil sie in Amerika nicht soviel Licht und Wärme aufnehmen können, würden sie aussterben. Der Völkermord an den Indianern wird spirituell gerechtfertigt. Die Malaien wiederum seien ausgewanderte Mongolen, die zuviel Wärme und Licht kriegen und "am Menschenkörper zerbröckeln", eine "absterbende Rasse."

Die AnthroposophInnen haben sich bis heute weder von der Wurzelrassenlehre noch von den antisemitischen und völkischen Elementen dieser Weltanschauung distanziert. Im Gegenteil: Auf die wachsende Kritik von außen entwickelten die Anthroposophen eine aus der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bekannte Strategie: Einerseits wird geleugnet, daß es sich bei den Äußerungen Steiners und anderer um Rassismus handelt, andererseits wird die (falsche) Einteilung von Menschen in Rassen sowie das Modell verschiedener "Kulturepochen" und "Missionen" offensiv verteidigt.

Ich möchte dies anhand von drei Publikationen aus den 90er Jahren verdeutlichen, die allesamt in Reaktion auf Rassismus-Vorwürfe entstanden sind. Es handelt sich erstens um eine Serie von Beiträgen von Michael Klußmann, die im Herbst 1996 im Zentralorgan der internationalen Anthroposophischen Gesellschaft, Das Goetheanum, veröffentlicht wurden. Die zweite Schrift ist ein Sonderheft, das die Redaktion der Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland, Herausgeber ist die deutsche Anthroposophische Gesellschaft, im Sommer 1995 publizierte. Bereits im Editorial schreibt Karl Martin Dietz von "haltlosen Anwürfen", mit denen Steiner als Rassist diffamiert werde, und wertet diese Kritik als "Zeichen eines verkommenen Geisteslebens." Zwei Jahre zuvor (1993) widmete die Redaktion der Flensburger Hefte dem Thema Anthroposophie und Rassismus ein ganzes Heft.

Die Redaktion der Flensburger Hefte gilt als der "linksliberale" Flügel der Bewegung und vertritt die Auffassung, "daß einige (!) Aussagen Rudolf Steiners aus heutiger (!) Sicht und für die heutige (!) Zeit tatsächlich keine Berechtigung mehr haben und abgelehnt werden müssen." In welcher Zeit war es denn nach Ansicht heutiger AnthroposophInnen berechtigt, Afrikaner als erhitzte Triebtäter, Indianer als erstarrt, Asiaten als senil, Franzosen als dekadent, Polen als schlampig und Russen als kindlich und brutal zu schmähen?

In allen drei Publikationen wird das Thema Rassismus folgendermaßen behandelt:

1.) Die Autoren beschränken sich auf Steiner und übergehen seine Mitstreiter aus der Führungsriege

2.) In den Flensburger Heften und in den Mitteilungen wird - wie in dem holländischen Bericht - eingeräumt, daß es rassistische Passagen gibt (Thomas Höfer , Wolfgang Weirauch ). Allerdings werden diese als "problematische Einzelheiten" gewertet (Wenzel Michael Götte ), die durch die Zeitumstände bedingt sind (Bernd Hansen , Wolfgang Schad/Klaus Peter Endres , Zwischenbericht ).

Das Problem für die Anthroposophen ist, daß einerseits der Rassismus ein tragendes Element ihrer Evolutionslehre ist, ohne die wiederum von ihrer Weltanschauung nichts originelles übrigbleibt. Andererseits beruht das Wahnsystem vollständig auf der "Geistesschau" des Führers. Wer Steiner mit dem Hinweis der Zeitbedingtheit entlasten will, unterminiert damit dessen Anspruch, ein Seher und Prophet zu sein.

3.) Die Autoren gehen davon aus, daß Rassen existieren.

So glaubt Klußmann, daß der Erzengel Michael seit rund einhundert Jahren daran feilt, die Rassentrennung zu überwinden, dennoch steht für ihn fest, daß Steiner "die natürliche Ungleichheit der "Populationen" nicht anders erklärt als die moderne Biologie und Anthropologie." Der Bund der Waldorfschulen hat in einer Stellungnahme an die Kultusministerien im März 1997 betont, der große Inspirator habe "Differenzierungen in der Naturanlage von Menschengruppen nicht geleugnet." Klußmann und die Waldorflehrer umgehen zwar den Begriff Rasse, meinen aber wie alle ordinären Rassisten, man könne Menschen in verschiedene Schubladen sortieren und bestimmte Merkmale zuteilen.

4.) Grundsätzlich verteidigt wird das Evolutionskonzept Steiners und damit (wenngleich nicht immer so benannt) die Wurzelrassenlehre.

Weirauch beharrt auf jener wirren Evolutionslehre Steiners, wonach sich "die einzelnen Arten und Rassen von der fortschreitenden Entwicklungslinie abspalteten". Je eher sich eine "Rasse" abspaltete, desto früher sei sie "in die Verhärtung" geraten, wiederholt Weirauch. Nur daß der Meister nach den Affen die Indianer als nächste dekadente Abzweigung auf dem Weg zum Europäer an die Tafel zeichnete sei "unsensibel" gewesen: "Man stelle sich nur vor, unter diesen theosophischen Zuhörern hätten auch einige Indianer gesessen."

Der Goetheanum-Autor Klußmann ist weniger sensibel. So sei das Verdikt der "Dekadenz", das Steiner über Indianer fällte, "kein überhebliches Urteil einer weißen Herrenschicht", sondern entspringe "okkulten Tatsachen". Demnach sei die "gewaltige Geistigkeit des indianischen Menschen mit einer vorzeitigen Verhärtung des physischen Leibes verbunden gewesen." Aufgrund des Hirngespinstes, Indianer hätten frühzeitig "verhärtete" Körper, gelangt Klußmann zu dem Schluß, die späteren "Entwicklungskräfte" könnten an der indianischen "Saturnrasse" nicht "plastizieren". Eingeweihte wissen, das nach anthroposophischer Lehre, die Geister und das göttliche Ich eine indianische Körperhülle im Unterschied zu einer weißen-arischen nicht formen können, weshalb das Ich erst in einem weißen Körper inkarnieren muß.

Ein weiterer offensiver Vertreter des anthroposophischen Rassismus ist Wolfgang Schad. Er war lange Jahre Waldorflehrer sowie Dozent am Lehrerseminar in Stuttgart und Leiter der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der freien Waldorfschulen und lieferte für die Sonderausgaben der Mitteilungen und der Flensburger Hefte je einen Beitrag. Schad behauptet, es gebe Rassen und die "Rassengliederung" würde von den Naturwissenschaften als "Beschreibung eines objektiv nicht zu leugnenden Sachverhaltes" vertreten. In ihrem gemeinsamen Artikel in den Mitteilungen behaupten Schad und sein Kollege Klaus-Peter Endres sogar, Rassen seien karmisch bedingt und vertreten eine "Rassenkunde" als "abstrahierende Wissenschaft".

Wolfgang Schad wurde 1993 an die Privatuniversität Witten-Herdecke berufen, um dort ein neugestiftetes Institut für Evolutionsbiologie und Morphologie zu übernehmen. Klaus-Peter Endres ist Biologe und fungiert am gleichen Institut als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Er hat von 1989 bis 1991 im Auftrag der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der freien Waldorfschulen das "Problem der menschlichen Rassen natur- und geisteswissenschaftlich bearbeitet". Das Projekt wurde zuletzt von der Anthroposophischen Gesellschaft finanziert. Nimmt man die hier besprochenen Beiträge von Schad und Endres zum Maßstab ihrer Tätigkeit in Herdecke, sollte das Institut in "Richard Karutz-Institut für anthroposophische Rassenkunde" umgetauft werden.

Der Begriff der Rasse ist, sofern er auf den Menschen angewandt wird, in den vergangenen 50 Jahren auch von der bürgerlichen Wissenschaft als Irrtum entlarvt worden: Der Genetiker Luca Cavalli-Sforza lehnt die Rasseneinteilung ab und führt äußere Unterschiede auf klimatische Bedingungen zurück. Den Verlust der Hautpigmente bei Weißen erklärt er durch Vitamin-D-Mangel als Folge einer einseitigen Getreidekost der frühen Europäer. Anthroposophen sollte dies hinsichtlich des Speisezettels in ihren Einrichtungen zu denken geben. Wulf D.Hund hat vor einigen Jahren beschrieben, wie im Lauf der Jahrhunderte die Farben rot, gelb, schwarz und weiß den Indianer, Asiaten, Afrikanern und Europäern zugeteilt wurden. Diese Zuordnung schwankte jahrhundertelang, erst der Botaniker Carl v.Linné nahm Mitte des 18.Jahrhunderts jene bis heute gebrauchte starre Einteilung vor, wonach beispielsweise ein Indianer rot und ein Afrikaner schwarz zu sein hat. Der Anthropologe Jonathan Marks weist die "Rassengliederung", wie sie Schad vertritt, als rassistisches Konzept zurück: Nicht die Biologie, sondern die wirtschaftliche Lage bestimme die Kategorien.

Die Einteilung von Menschen in Rassen, an der Anthroposophen eisern festhalten, ist eine Erfindung europäischer und nordamerikanischer Intellektueller, die auf das Zeitalter der Aufklärung zurückgeht. Die Ideologen der aufstiegsorientierten Bourgeoisie attackierten damals die feudale Vorstellung von der gottgewollten herrschenden Ordnung mit Erfolg. Nur brauchte die Bourgeoisie Ersatz, eine neue Legitimation für die koloniale und imperialistische Ausbeutung von nicht-europäischen Menschen in den Ländern Afrikas, Lateinamerikas, Asiens und Ozeaniens und den Sklavenplantagen der USA.

5.) Die Autoren verteidigen Steiner, weil dieser eine "Überwindung" der Rassen durch die spirituelle Entwicklung prophezeit habe.

Das ist ein beliebter Trick von Anthroposophen: Steiner habe gesagt, Rassen würden künftig eine immer geringere Rolle spielen, die Individuen würden sich aus Blut und Rasse hinausentwickeln. Diese Interpretation ist formal korrekt, hat allerdings einige Tücken: Sie basiert erstens auf der rassistischen Prämisse, daß der Mensch durch Rasse und Blut gebunden sei und zweitens meinte Steiner gewaltige Zeiträume, die zehntausende von Jahren dauern, nämlich die Phase von der dritten lemurischen bis zum Anfang der sechsten Wurzelrasse.

Vor allem können sich laut Steiner nicht alle von der Rasse lösen. Die Träger des Heils sind zuerst blonde Germanen, die zu Anthroposophen mutieren. Die Rassenzugehörigkeit als physische Prägung überwinden nur Anthroposophen, die schon bei der nächsten Reinkarnation eine eigene spirituell fundierte Rasse bilden, behauptete Steiner 1924: "Und indem der Mensch in dieser Erdeninkarnation, in der er jetzt hier Anthroposoph wird, vom Spirituellen ergriffen wird, wird er vorbereitet dazu, eben nicht mehr nach solchen äußeren Merkmalen, sondern so, wie er in seiner jetzigen Inkarnation war, zu sein. Es wird einmal der Geist an diesem Mensch zeigen (...) wie er physiognomiebildend sein kann, menschengestaltend sein kann." Diese Ansicht wird von seinen Anhängern geteilt, die - wie der führende österreichische Anthroposoph Hans Erhard Lauer in den 30er Jahren - glauben, in Zukunft würde aus spirituell Erleuchteten die sogenannte "Michaels-Rasse" entstehen.

Stefan Leber (1998), Vorstandsmitglied im Bund der freien Waldorfschulen und tätig am Lehrerseminar in Stuttgart, bezieht sich ausdrücklich auf Steiners Wort, wonach die AnthroposophInnen die sechste planetarische Epoche vorbereiten und dabei den "Rassencharakter" abstreifen. Des Meisters Ansicht, wonach die Europäer die am Geist schaffende Rasse seien, meint Leber relativieren zu können, indem er darauf verweist, daß Denken auch gefährlich ist, weil man intellektuell und materialistisch werden könne. Insofern hätten auch Weiße ihr Päckchen zu tragen, schlußfolgert der Waldorfpädagoge.

Steiner forderte "vorurteilsfreies Verständnis", dann könne man die "objektive Charakteristik" einer Rasse oder eines Volkes nicht "persönlich" nehmen. Dank Karma und Reinkarnation würden wir alle "an den Sonnen- oder vielleicht auch Schattenseiten aller Rassen, aller Volkstümer" teilnehmen und jedes, auch das kleinste Volk, liefere seinen Beitrag zur "Gesamtharmonie der Menschheitsevolution". Bis heute rechtfertigen Anthroposophen wie die Autoren der Beiträge in den Mitteilungen, alle acht Akademiker, den Rassismus mit Verweis auf die Wiedergeburt. Steiner gab die Linie vor: "Da alle Menschen in verschiedenen Reinkarnationen durch die verschiedenen Rassen durchgehen, so besteht, obgleich man uns entgegenhalten kann, daß der Europäer gegen die schwarze und gelbe Rasse einen Vorsprung hat, doch eigentlich keine Benachteiligung."

Steiner verwendete im Lauf der Jahre fast jedes Stereotyp, das europäische Rassisten bis dahin erfunden hatten: Den Mythos von Blut und Boden, die Zuschreibung bestimmter Eigenschaften und die phrenologische Methode, wonach das Äußere eines Menschen dessen Charakter, Temperament und - als esoterische Komponente - Karma ausdrückt. Die phrenologische Methode war um die Jahrhundertwende verbreitet, ihre Anhänger behaupten, genetische Wertigkeit, rassische Zugehörigkeit und Eigenschaften eines Menschen nach dessen Äußerem bestimmen zu können. Steiner übernahm diese rassistische Hilfswissenschaft in seine Wurzelrassen- und seine Karmalehre. Über einen Waldorfschüler behauptete er einmal, man könne an ihm eine "ausgesprochene Anlage zum Verbrechertypus" ausmachen, der Junge könne ein Schriftfälscher werden.

Die AnthroposophInnen verknüpfen die mittelalterliche, abergläubische Lehre von den vier menschlichen Temperamenten, die Karmalehre, die Idee vom viergliederigen Menschen sowie die Phrenologie. Sie bilden die Grundlage der Waldorfpädagogik als eine Art karmischer Bewährungshilfe. Auf einer internationalen Tagung von WaldorflehrerInnen an Ostern 1996 in Dornach formulierte der bereits erwähnte Stefan Leber kategorisch, die Lehre von Karma und Reinkarnation sei "Grundlage allen wahrhaften Erziehens". Er und andere Referenten pflegen eine esoterische Phrenologie, wonach aus dem Aussehen eines Kindes auf dessen Charakter, seine Eigenschaften und Fähigkeiten sowie dessen frühere Erdenleben geschlossen werden kann. Ernst-Michael Kranich, ebenfalls Vorstandsmitglied im Bund der Waldorfschulen und am Lehrerseminar Stuttgart tätig, beispielsweise begreift den Kopf eines Kindes als "Offenbarung von Ich und Seele", in dessen Form sich dessen "inneres Wesen aus dem vergangenen Erdenleen" ausdrücke. Pirkko Helkangas und Robert Thomas zitierten vor den versammelten WaldorfpädagogInnen die Ansicht des Meisters, Menschen, die sich nicht für Musik begeistern, würden im nächsten Leben unter Lungenkrankheiten leiden, während an Malerei interessierte Menschen einen sympathischen Gesichtsausdruck bekämen.

Das Resultat solchen Aberglaubens ist ein starres Schema, in das die Kinder gepreßt werden. Ein hagerer und knochiger Mensch mit vorgebeugter Körperhaltung gilt als Melancholiker und ist von seinem physischen Leib geprägt, der Choleriker hat demnach einen kurzen Hals und kurze Beine und wird vom Ich beherrscht, der Sanguiniker ist dank des ihn bestimmenden Ätherleibes zartgliedrig und wohlproportioniert und Phlegmatiker sind wohlgenährt und rund, ihre astralische Seele prägt Gewohnheit und Gedächtnis. Der Waldorflehrer bestimmt die Temperamente und die Sitzordnung der Klasse. Sympathien zwischen den Schülern sind nebensächlich, Phlegmatiker und Choleriker sollen außen sitzen und die Melancholiker und Sanguiniker in die Mitte nehmen. Welches der vier Temperamente einen Menschen bestimmt, ist karmisch bestimmt. Kranich zitiert Steiner, wonach der Melancholiker im vorigen Leben für sich allein leben mußte, während der Choleriker viel erlebt hat, wer ein angenehmes und oberflächliches Leben geführt hat, wird Phlegmatiker oder Sanguiniker. Ihrem Selbstverständnis nach ist die Waldorfschule eine "Schicksalsgemeinschaft", weil das Karma jeden Lehrer oder Schüler in eine bestimmte Einrichtung gebracht hat.

Das Grundlagenwerk des anthroposophischen Rassismus, Steiners Phantasieprodukt Aus der Akasha-Chronik, wird von AnthroposophInnen bis heute anerkannt. Die Akasha-Chronik gehört zur Vorbereitung des Geschichtsunterrichts an den Waldorfschulen, der Mythos von Atlantis wird als reale Tatsache behandelt. Die Schüler sollen die einzelnen Epochen nacherleben und zum Beispiel in der fünften Klasse wie Griechen und Römer empfinden. Benutzt werden Märchen, Legenden, biblische Erzählungen, Heilige und Märtyrer, Götter und Heldenfiguren, um anthroposophische Weltanschauung zu vermitteln. Caroline v.Heydebrand empfahl in ihrem Standardwerk (1928/10.Auflage 1996) über den Lehrplan die "Völker- und Rassenkunde" außerdem als Lehr und Erzählstoff für den deutschsprachigen Unterricht.

Ein Ergebnis eines Unterrichts, der sich aus anthroposophischen Rassenwahn speist, ist folgende Eintragung einer Schülerin aus dem Geschichtsunterricht: "Dort wo heute die Wogen des atlantischen Ozeans rollen lag einst der Erdteil den wir Atlantis nennen. Das Feste war vom Flüssigen noch nicht eindeutig getrennt. (...) Manu, der ein erleuchteter Sonnenpriester und König war, wurde von Brahma ausersehen, nach der Flut ein Menschenführer zu werden. (...)" Das Mädchen schreibt weiter über die Wanderung nach Osten, die Einweihung der sieben Rishis und die "Wiege der Arier" nordwestlich von Indien, über Ahriman und den "großen Führer und Propheten" Zarathustra.

Die Anthroposophen teilen mit anderen völkischen Gruppen den Affekt gegen den Westen, der als Synonym steht für das, was die deutsche Rechte haßt: Materialismus, Intellektualismus, Aufklärung, Revolution, Demokratie - bis hin zu modernen Sportarten, Rock- und Popmusik. An den Waldorfschulen ist bis heute Fußballspielen ausdrücklich verboten.

In ihrem Kern enthält die Anthroposophie eine Rassenlehre, die Menschen anhand von zugeschriebenen biologischen, spirituellen und charakterlichen Eigenheiten selektiert. Den dadurch konstruierten Rassen und Völkern schreibt die Anthroposophie verschiedene Aufgaben oder "Missionen" zu. Dabei haben die Germanen, heute wird die Chiffre "Mitteleuropa" favorisiert, in der Gegenwart die besondere Aufgabe der "Ich-Entwicklung". Vor dem Hintergrund der Wurzelrassen lehre sind auch eine Reihe von Beiträgen zu verstehen, die in den Zeitschriften Das Goetheanum, Info 3 und Der Europäer erschienen sind und sich mit Osteuropa, der NATO-Osterweiterung und dem Jugoslawienkrieg befassen. Die Ereignisse werden verschwörungstheoretisch interpretiert: als ein Versuch des "Westens", den spirituellen Stafettenlauf zu unterbrechen, indem Mitteleuropa/Deutschland von Osteuropa, nach Steiner der kommenden sechsten arischen Unterrasse der Westslawen, getrennt oder Deutschland als Kulturbringer der Slawen geschädigt wird. Die deutschnationalen Einkreisungs- und Verschwörungsphantasien Steiners und seiner Anhänger aus der Zeit des Ersten Weltkrieges werden, bezogen auf die aktuelle Situation, reformuliert.

Insofern war und ist die Anthroposophie Teil des völkischen Sumpfes in Deutschland und als solches zu bekämpfen. Den hier zitierten Publikationen aus den 90er Jahren nach zu schließen - und es handelt sich dabei um zentrale Organe der Bewegung und teilweise hohe Funktionäre - sowie einer ganzen Reihe von "Einzelfällen" gewinnt der rassistische Flügel innerhalb der Anthroposophie zusehends an Boden. In der Bewegung spiegelt sich damit, ausgedrückt in der Sprache dieser Subkultur, die Regression des Massenbewußtseins wieder. sie beruht sowohl auf den Krisenängsten insbesondere bürgerlicher Schichten, spiegelt aber auch den Übergang zu neuen (Herrschafts-) Techniken wider, bei deren Anwendung traditionelle humanistische, christliche und aufklärerisch-demokratische Werte hinderlich sind. Insbesondere die Idee von der grundsätzlichen Gleichwertigkeit aller Menschen wird durch die Lehren von Karma, Wurzelrassen und ihren Missionen, sowie vom Glauben an große spirituelle Führer ausgehebelt. Hier zeichnen sich historische Parallelen zur Periode vor 1933 ab. Das Verdrängte kehrt zurück.



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