Wie schlecht ausgebildete,
dogmatische und überforderte Lehrer dem Ruf der Rudolf-Steiner-Schulen
schaden
Quelle: Weltwoche 6/98, 5.2.1998
Panzer und Gewehre in der schönen heilen Welt
Fundamentalistische Strömungen nehmen an den Steinerschulen in
erschreckendem Mass zu. Es gibt Lehrer, die gnadenlos mobben
und gleichzeitig schöngeistige Vorträge halten.
Von Carin Dioda
Vision in der Krise: Psychoterror
statt moderner Pädagogik
Die Steinerschulen der Schweiz stecken in einer tiefen Krise: Die Schulbeiträge
der Eltern reichen nicht mehr aus, um die Millionendefizite einzelner
Schulen auszugleichen, die Schülerzahlen sind rückläufig,
und der fundamentalistische Kern der Lehrerschaft zementiert mit seiner
versteinerten Ideologie die gängigen Vorurteile, Anthroposophen
seien weltfremde Sektierer.
1919 gründete Anthroposoph Rudolf Steiner die erste Waldorfschule
für die Arbeiterkinder einer deutschen Zigarettenfabrik. Geprägt
von den Idealen der Romantik und des Jugendstils, wollte Steiner, dass
die Kinder in einer heilen und beschützten Umgebung lernen, angstfrei
und ohne Notendruck. Nicht nur der Intellekt, sondern auch die künstlerischen
Fähigkeiten eines Kindes müssen gefördert werden, lautete
sein Credo. Neben Rollenspiel und Tanz bilden Märchen, Fabeln,
biblische Erzählungen und griechische Mythen das Fundament des
Lehrplans. "Meine Kinder besuchen die Steiner-schule, weil sie
dort ihre Begabungen entfalten und später die Gesellschaft menschlicher
machen können", erklärt der erste PR-Manager der Steiner-schulen
Schweiz, Robert Thomas.
Während sich die Sprösslinge im Unterricht ganzheitlich entfalten
dürfen, vorausgesetzt, sie passen in das anthroposophische Weltbild
des Klassenlehrers, müssen sich ihre Eltern gefallen lassen, dass
Pädagogen ihnen die erzieherische Kompetenz absprechen und verlangen,
dass sie ihre Mündigkeit vor dem Eingang zur Steinerschule abgeben:
"Backen, basteln, blechen, solange die Eltern da brav mitmachen
und nicht aufmucken, ist die Steinerwelt in Ordnung", erklärt
die Mutter Judith Zink.
Als "geschützte Werkstatt für unfähige Lehrer"
bezeichnet Ehemann Robert Zink die Steinerschule. Traurig und zornig
erinnert er sich an die Steinerschule Adliswil. Überzeugt von der
anthroposophischen Erziehung, wollte der Arzt seinen Söhnen mehr
als normiertes Leistungsdenken und materielles Wissen mitgeben und vertraute
sie Steinerlehrern an. Sein ältester Sohn aber hatte Mühe,
sich in der schönen, heilen und weltfremden Umgebung zurechtzufinden,
und rebellierte. In die pastellfarbene Harmonie malte der Bub mit schwarzer
Farbe Gewehre und Panzer, eine Provokation mit Folgen. Die Klassenlehrerin
gab ihm zu verstehen, er sei gestört und in der Gemeinschaft nicht
länger akzeptiert. Als ihn auch noch die Mitschüler plagten,
war der Elfjährige überfordert. "Er kapselte sich ab
und war völlig verstört", erzählt seine Mutter.
Die Situation eskalierte, die moralische Verurteilung nicht nur des
ältesten Sohnes, sondern der ganzen Familie war spürbar, wurde
aber nicht offen ausgesprochen. Für Judith Zink war das Psychoterror.
Rückblickend glaubt sie, dass die Lehrerin mit der selbstauferlegten
Moral überfordert war: "Das ist die Kehrseite der Harmonie,
in den Steinerschulen herrschen oft unterschwellige Aggressionen."
Die Eltern suchten das Gespräch mit der Lehrerin, doch diese wich
aus und erklärte den Eltern lediglich, ihr Sohn sei fehlentwickelt,
denn sie hätten bei seiner Erziehung kläglich versagt. Schliesslich
weigerte sie sich, die Eltern überhaupt zu empfangen, und wartete
einfach darauf, dass sie den Sohn von der Schule nähmen. "Sie
schickte uns in die Wüste, wir sassen vor einer schwarzen Wand",
erinnert sich Robert Zink. "Wenn Eltern diskutieren wollen oder
sich kritisch äussern, werden sie vom Tisch des heiligen Grals
verstossen."
Der PR-Beauftragte Robert Thomas, der selbst an der Plattenstrasse in
Zürich unterrichtet, bedauert, dass solche Konflikte so häufig
vorkommen: "Wir waren in der unglücklichen Situation, dass
Klassenlehrer bei Problemen mit Eltern als Partei und Richter in einer
Person auftraten." Aufgeschreckt durch die immer lauter werdende
Kritik und deren Konsequenzen, üben sich die Steinerschulen in
Schadensbegrenzung.
"Zur Sicherung der pädagogischen und schulischen Qualität"
wurde ein Gremium gegründet, bestehend aus Eltern, Lehrern und
Vorstandsmitgliedern der Schule. Nach anderthalb Jahren Aufbauarbeit
ist das Gremium inzwischen an sechs der siebenunddreissig Steinerschulen
eingeführt.
Auch der jüngere Sohn der Familie Zink, der bis zu diesem Zeitpunkt
keine Probleme in der Schule hatte, musste büssen: Nach einer Konferenz
stellte sich der Klassenlehrer vor den Zweitklässler und warnte
ihn: "Wenn du nicht aufpasst, geht es dir wie deinem Bruder."
Für die Mutter, selbst ehemalige Steinerschülerin und überzeugte
Anthroposophin, brach eine Welt zusammen. Heute zweifelt sie an dem
starren Schulsystem, das für sie nur noch wenig mit Steiners Pädagogik
zu tun hat. Um so mehr, als sie sieht, dass ihr ältester Sohn,
der heute eine öffentliche Sekundarschule besucht, keine Probleme
mehr hat.
"Wenn die Steinerschule so weitermacht, schaufelt sie sich ihr
eigenes Grab", prophezeit die Architektin und Mutter Gertrud Bauer*.
Sie kämpft seit Jahren für einen offenen Dialog und wünscht
sich kritikfähige Lehrer: Die engagierte Mutter wagt nicht, mit
ihrem richtigen Namen aufzutreten, weil sie ihre Kinder schützen
will. Sie befürchtet, mit ihrer Kritik gewisse Lehrer zu verärgern,
deren Zorn dann die Kinder anstatt sie selbst treffen würde. "Allein
in Adliswil kenne ich fünf Familien, die ihre Kinder aus der Schule
nehmen mussten, weil die Lehrer unfähig sind, sich Konflikten zu
stellen", erzählt Robert Zink und fragt sich, wie eine private
Schule sich das leisten kann. Auch Gertrud Bauer kennt dies nur zu gut:
"Es läuft wirklich so: Plötzlich verschwinden Kinder
von der Schule, meist kurz vor den Sommerferien." Robert Thomas
findet es grundsätzlich falsch, wenn ein Kind kurzfristig und ohne
Vorgespräche die Schule verlassen muss, bezweifelt aber, dass ein
Rausschmiss wirklich so abläuft: "Oft erinnern sich die Eltern
einfach nicht mehr an die Vorgespräche."
Wiederholt weigerten sich Lehrer, mit Gertrud Bauer über ihre Anliegen
zu diskutieren, doch sie will nicht klein beigeben - weiterhin glaubt
sie an das ursprüngliche Prinzip Steiner, allen Schwierigkeiten
zum Trotz. Sie bedauert, dass Eltern, die ihre Kinder aus der Schule
nehmen müssen, nur die Faust in der Tasche machen. Sie fordert
sie auf, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen und erstarrte Anthroposophen
wachzurütteln, auch wenn es sehr viel Energie kostet.
Die Primarlehrerin Johanna Brunner* wollte ihr Verständnis von
anthroposophischer Pädagogik ins verstaubte Anthroposophenstübchen
tragen und im Unterricht umsetzen. Doch ihr Engagement war nicht gefragt:
Die Intrigen des Lehrerkollegiums wurden unerträglich. Heute unterrichtet
die staatlich ausgebildete Lehrerin wieder an einer öffentlichen
Schule und ist entsetzt, was Lehrer im Namen Steiners anrichten: "Das
Kernproblem ist die fundamentalistische Strömung, die an Steinerschulen
in erschreckendem Mass zunimmt." Es gebe Lehrer, die gnadenlos
mobben und gleichzeitig schöngeistige Vorträge halten. "Diese
Anthroposophen verbarrikadieren sich, wollen die Realität nicht
sehen und handeln im Widerspruch zu Steiner."
Für Brunner sind es unsichere Menschen, die hartnäckig die
Weiterentwicklung der Welt achtzig Jahre nach Steiner ignorieren. Sie
beten dem Gründer nach, blättern verzweifelt in seinen Schriften
und erheben ihn ins Dogmatische, was Steiner nie beabsichtigt hatte.
Auf der krampfhaften Suche nach einer Stütze werden sie fundamentalistisch:
"Wenn dann jemand kommt und die Haltegriffe abschrauben will, ist
er ein Ketzer." Der PR-Beauftragte Robert Thomas spricht von hohen
Idealen und Ansprüchen Steiners, denen Anthroposophen nur durch
selbständiges Denken gerecht werden können: "Ist das
nicht der Fall, haben wir es mit Dogmatik zu tun, das war aber bei Gandhis
Lehre genauso."
In jeder Steinerschule gibt es einen inneren Kern, dem etwa zehn Prozent
der Lehrer angehören. "Dieser Kern besitzt eine unglaubliche
Macht, obwohl gemäss Statuten alle Lehrer gleichberechtigt sind",
weiss Brunner. Zu diesem Kern gehört man als Sohn oder Neffe eines
Schulgründers oder wenn die Mutter Steiner noch persönlich
kannte. Es existiert eine Art Adelshierarchie, und wenn es einer aus
dem Fussvolk versteht, dem Clan zuzudienen, wird er, wenn er Glück
hat, in den erlauchten Kreis aufgenommen, ansonsten einfach ausgenützt.
Steiners Vision beim Aufbau der Anthroposophischen Gesellschaft war
aber gerade eine Gemeinschaft, in der nicht Hierarchien zählen,
sondern die Beziehung gleichwertiger Menschen, die gemeinsam nach geistiger
Erkenntnis streben. Doch der innere Kern beansprucht Macht und Wahrheit
für sich. Wer nicht spurt, muss gehen. "Während meiner
Steinerschulzeit wurde die Hälfte des Kollegiums ausgewechselt,
und ich behaupte, achtzig bis neunzig Prozent wurden vom inneren Kern
gemobbt", so Brunner. Meist trifft es junge, engagierte Lehrer,
die es wagen, die selbsternannten Hohepriester des Systems zu kritisieren.
Doch schlecht ausgebildete Lehrer ohne Matura müssen kuschen, denn
ihre Existenz hängt von der Schule ab: "Es ist tragisch, sie
sind wie Sklaven, denn in der Privatwirtschaft haben sie keine Chance
und als Lehrer ausserhalb der Steinerschule schon gar nicht." Auch
Robert Zink zweifelt an der Kompetenz gewisser Lehrer und beschwert
sich: "Es fehlt jede Transparenz über die Lehrerausbildung.
Als ich nachfragte, erhielt ich keine Antwort." Während Primarlehrer,
die an öffentlichen Schulen unterrichten wollen, nach der Matura
eine dreijährige Seminarausbildung vorweisen müssen, besitzen
viele Steinerschullehrer im besten Fall ein Diplom auf anthroposophischer
Stufe. Andere Lehrer haben lediglich einen Abendkurs intern in einer
Steinerschule absolviert. "Doch die Kantone tolerieren, dass solche
Lehrer unterrichten", erklärt Johanna Brunner.
Heftig widerspricht Robert Thomas dem Vorwurf, diese interne Schmalspur-Ausbildung
genüge nicht, denn ausschlaggebend seien die künstlerischen
Fähigkeiten eines Lehrers, und nicht allein intellektuelle und
handwerkliche Begabung. Und die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich
begründet ihre liberale Haltung gegenüber den Steinerschulen
mit dem Argument, diese setzten andere thematische Schwerpunkte als
die öffentlichen Schulen. Deshalb sei es nur logisch, dass die
Lehrkräfte diesen Bedürfnissen entsprechend ausgebildet würden.
Inzwischen gibt es eine Alternative zur Steinerschule: Sie befindet
sich in der Aufbauphase und wird diesen Frühling in Zürich
offiziell eröffnet. Der Sekundarlehrer Hanspeter Diboky, überzeugt
von Steiners Pädagogik, unterrichtete sieben Jahre an einer Steinerschule,
weil er an eine Reform glaubte. Doch auch er biss sich am fundamentalistischen
Kern die Zähne aus. Er zog die Konsequenzen und gründete die
Delta-Primar- und -Sekundarschule. Der Unterricht wird auf die individuellen
Bedürfnisse der Schüler abgestimmt, so dass auch Hochbegabte
ihren Weg gehen können. Die Schule enthält den Impuls Steiners,
will aber keine weitere anthroposophische Missionsstation sein.
* Namen von der Redaktion geändert