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Anthroposophie in Bedrängnis
Die Kontroverse um die Anthroposophie reisst nicht ab. Steiner-Anhänger reagieren heftig auf Kritik - auch mit rechtlichen Schritten.

Tages-Anzeiger, 2000 05 10
Seite: 12 , Schweiz
Von Hugo Stamm

Das Goetheanum in Dornach (Solothurn), Zentrum der Anthroposophie, erlebt ungewohnt turbulente Zeiten. Die Diskussion um Rudolf Steiners rassistische Aussagen über die "Neger" und Arier will nicht verstummen. In den Strudel sind auch Steiner-Schulen geraten, weil angeblich verschiedene Lehrer die umstrittene anthroposophische Mythologie von der ausserplanetarischen Herkunft des Menschen und antisemitische Tendenzen in den Unterricht einfliessen lassen.

Der Streit begann mit einer kontradiktorischen Veranstaltung, die die "Aktion Kinder des Holocaust" (akdh) in Basel organisieren wollte. Ein Streit im Vorfeld entzweite die Anthroposophen und Steiner-Kritiker so sehr, dass der gemeinsame Auftritt platzte. Das Goetheanum ging in die Offensive und führte selbst eine Diskussionsveranstaltung durch. (TA vom 20. Jan.) Die gemässigten Kritiker kamen dabei zum Schluss, dass Steiner zwar kein Rassist gewesen sei, aber ein paar Äusserungen gemacht habe, die aus heutiger Sicht rassistisch seien. So etwa: "Das Judentum als solches hat sich aber längst ausgelebt, hat keine Berechtigung innerhalb des modernen Völkerlebens, und dass es sich dennoch erhalten hat, ist ein Fehler der Weltgeschichte."

Steiners Sündenregister
Bei einer Veranstaltung der akdh vom 1. Februar 2000 in Basel listete Peter Bierl, Autor des Buches "Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister", eine lange Sündenliste von Steiner und den dogmatischen Anthroposophen auf. Steiner-Anhänger protestierten darauf heftig und laut, worauf der Basler Theologieprofessor Ekkehard Stegemann, Referent der vormaligen Veranstaltung im Goetheanum, mit einer lauten Unmutsäusserung über die Anthroposophen den Saal verliess.

Das Goetheanum wollte das Bild von Steiner korrigieren und führte eine Pressekonferenz durch. In der Dokumentation dazu wurde der Gründer der Anthroposophie wieder auf den Sockel gestellt, als sei nichts geschehen.

Die Medien kratzten aber weiter am Lack des Gründers der Anthroposophie. Das Fass definitiv zum Überlaufen brachte ein Beitrag des SWR-Magazins "Report" vom 28. Februar, in dem Eltern von Steiner-Schülern, ehemalige Lehrer und Schüler den Vorwurf des Antisemitismus wiederholten. Einträge in einzelnen Schulheften stützten die Aussagen.

Vorwurf des jüdischen Zentralrats
Den nächsten Schlag mussten die Anthroposophen von Paul Spiegel einstecken. Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland erklärte in der SWR-Sendung "Wortwechsel" vom 19. März, dass ihm in letzter Zeit aus verschiedenen Städten von antisemitischen Vorfällen in Steiner-Schulen berichtet worden sei.

Diese Vorwürfe wollten die Anthroposophen nicht auf sich sitzen lassen. In einer Pressemitteilung der deutschen Steiner-Schulen (Waldorfschulen genannt) ist von "diffamierender Meinungsmache" die Rede. Und in einer Stellungnahme heisst es, bei der kleinen Gruppe hartgesottener Steiner-Kritiker handle es sich um Ideologen der linken Szene und um dogmatische Atheisten. "Wo die Grenze zwischen freier Meinungsäusserung und Volksverhetzung zu ziehen ist, dürfte in nächster Zeit die Gerichte beschäftigen", hiess es.

Zielscheibe der heftigen Reaktionen war neben der "Report"-Redaktion vor allem der Basler Samuel Althof von der akdh, der im Beitrag kritisch Stellung genommen hatte. Seine Aussagen seien ausgesprochen infam. Eine ehemalige Steiner-Schülerin liess in der "Weltwoche" und in mehreren deutschen Zeitungen Inserate schalten. Im Aufruf an die Anthroposophen hiess es, die gezielte Diffamierung und Verleumdung der Steiner-Schulen als rassistisch und antisemitisch sei ihr unerträglich. Sie nannte Althof namentlich.

Protestschreiben von Schülern
Via Internet wurden ausserdem Steiner-Schüler aufgefordert, Protestschreiben an den SWR zu schicken. Weiter gingen die Anthroposophen wie angekündigt rechtlich gegen den SWR und Althof vor. Der Bund der Freien Waldorfschulen verlangte mit einer superprovisorischen Verfügung vom Bezirksgericht Arlesheim, dass Althof verschiedene Äusserungen nicht mehr verbreiten dürfe. Unter anderem sollten ihm die Aussagen verboten werden, an Waldorfschulen würde physische und psychische Gewalt gegen jüdische Kinder angewendet und versucht, den Holocaust zu rechtfertigen. Doch das Bezirksgericht Arlesheim wies den Antrag am 24. März ab.

Die Waldorfschulen zogen auch den SWR in Frankfurt vor den Kadi und wollten ihm mit einer einstweiligen Verfügung verbieten lassen, verschiedene Aussagen weiter zu verbreiten. Die Anthroposophen drangen aber auch hier nicht durch.

Die Anthroposophie sieht sich jedoch nicht nur in der Schweiz und in Deutschland wachsender Kritik ausgesetzt. Der Sektenvorwurf ist auch in Frankreich und Belgien laut geworden. So erwähnen staatliche Kommissionen Steiners Bewegung in ihren Sektenberichten. Die heftigen Reaktionen der Anthroposophen zeigen, dass eine kritische Auseinandersetzung (noch) nicht möglich ist.



© Aktion Kinder des Holocaust