Täter,
Mitläufer und Apologeten:
Wer
ist an dem Bösen Schuld?
Können
wir es in Zukunft verhindern?
Dr. Erich H. Loewy
Professor
and Endowed Alumni Association Chair of Bioethics
Associate in Philosophy
University of California, Davis
Präsident – Hans Jonas Verein – Wien
Zusammenfassung
Die sogenannte
Kindereuthanasie am Spiegelgrund die nahtlos zu der T-4 Aktion und später
zu dem Holocaust geführt hat zwingt uns nicht nur das Geschehene historisch
auf zu arbeiten sondern uns mit der Frage der Schuld und der Verantwortung
auseinander zu setzen. In diesem Vortrag werde ich: 1) zwischen was
es heißt schuldig sein oder für etwas Verantwortung zu haben unterscheiden;
2) verschiedene Abstufungen von Schuld und Verantwortung heraus arbeiten
(z.B. zwischen etwas nicht wissen und schuldig für etwas nicht wissen
zu sein); 3) Unter Tätern, Mitläufern, Zuschauern und Helfern unterscheiden;
4) Die Beweggründe dieser verschiedenen Gruppen vergleichen; und 5)
über die heutige politische Situation, ihre Gefahren und mögliche Verhinderungsmaßnahmen
zu sprechen. Die heutige politische Situation in Österreich macht so
eine Untersuchung besonders wichtig und pregnant.
Das Thema, dem dieses Symposium gewidmet ist, ist das Thema der sogenannten
“Kindereuthanasie”. Euthanasie ist ein geschickt gewähltes Wort, ein
Hüllwort hinter dem sich das tatsächliche Verbrechen zu verstecken sucht.
Unter Euthanasie versteht man fast überall etwas ganz Anderes als man
in Nazideutschland darunter verstanden hat. Euthanasie – wie immer man
auch über dieses Thema denken will – bedeutet Töten eines Anderen ausschließlich
in dessen Interesse und gewöhnlich auf dessen Verlangen. Was hier geschehen
ist war nicht Euthanasie – es war schlicht und einfach Mord, Mord an
hilflosen und schwachen Menschen im Interesse einer Ideologie, im Interesse
des Staats, im Interesse einer perversen sogenannten “Wissenschaft”
-- aber ganz und gar nicht im Interesse der Toten. Das Wort Euthanasie,
wie es von den Nazis verwendet worden ist, ist ein Tarnwort, ein Beispiel
von dem, was Klemperer unter Lingua Tertia Imperii so gut beschrieben
hat.1
Dieser Kindermord war ja bekanntlich nur ein und auch nicht der erste
Schritt in der Tragödie, die schließlich mit dem Holocaust ihren Gipfel
erreichte. So etwas kann nur in einer Gesellschaft die es zuläßt vorkommen.
Nur einige Fanatiker, einige böse Menschen können so etwas nicht ohne
die Masse, die es schweigend oder halb zustimmend zuläßt durchführen.
Der bureaukratische und technische Aufwand, um so etwas machen zu können
ist viel zu groß. Nicht nur die die töten oder das Töten befehlen sind
hier schuldig – um so etwas durchzuführen müssen Viele mitarbeiten,
viele die Räder schmieren.2
Die Vergangenheit aufzudecken, Details ausfindig zu machen, Vorgänge
zu beschreiben, u.s.w. ist die Aufgabe von Historikern. Der Versuch,
was geschah zu erklären und es zu verstehen (nicht zu entschuldigen,
zu verstehen), ist die nächste, sich auf historische Tatsachen stützende
Aufgabe. Es ist die Aufgabe von Historikern, Soziologen, Psychologen,
Philosophen und Ethikern – es ist eine Arbeit die wir miteinander zusammen
schaffen müßen. Und sich dann weitgehend damit auseinanderzusetzen ist,
falls man so etwas in der Zukunft verhindern will, unentbehrlich. Meines
Erachtens ist eine unserer Hauptaufgaben hier bei diesem Symposium “Zur
Geschichte der NS-Euthanasie in Wien” nicht nur das Geschehene zu beschreiben
sondern zu versuchen, daraus Schlüsse zu ziehen, um das Wiedervorkommen
dieser, oder einer ähnlichen Tragödie zu verhindern. Denn mir scheint,
daß wir hier in Österreich bereits die ersten Schritte in diese Richtung
getan haben.
Die Gefahr von Veranstaltungen dieser Art sowie von Gedenkstätten oder
Denkmälern ist, daß sie leicht zu einer Art “Sich die Hände Waschen”
werden. Wir haben uns erinnert, wir haben schöne Worte gesprochen und
damit haben wir unsere Pflicht getan. Wir fühlen uns tugendhaft, überzeugt
davon, daß wir eben gute und die Täter böse Menschen sind. Ich denke
daß dieses Erinnern, dieses Sprechen von Worten sehr wichtig sein kann
– aber nur falls es uns dazu bringt, etwas gegen das wiederholte Aufflackern
solcher Greuel in allen Weltteilen und besonders zu Hause zu unternehmen.
Sonst wird es leicht zu einem Sich-die-Hände-waschen und zu einer Sentimentalität,
die nichts bringt – oder, noch ärger, die einen dazu bringt zu glauben,
daß man jetzt doch schon seine Pflicht getan hat. Und Sentimentalität
ist ja oft die Kehrseite der Brutalität.
Gleichfalls – über Schuld oder über Verantwortung zu sprechen darf nicht
zu einem Abwälzen dieser Verantwortung die wir alle tragen werden. Falls
wir wirklich etwas gegen Greuel wie die, die hier geschehen sind unternehmen
wollen, so ist es wichtig, daß wir uns nicht mit der Frage wer Schuld
war begnügen, sondern daß wir uns auch unserer eigenen Verantwortung klar
werden. Es ist deswegen wichtig den Unterschied zwischen Schuld und Verantwortung
auszuarbeiten und daraus Konsequenzen zu ziehen.
Um ethisch schuldig zu sein, müssen gewisse Kriterien
erfüllt werden. Leute, die wir schuldig heißen müssen: 1) was sie tun
bewußt tun; 2) wissen, daß was sie tun verwerflich, oder schlecht ist
und 3) die Möglichkeit, es anders zu tun haben. Falls meine Bremse, die
ich gut instandgehalten habe, trotzdem versagt und ich daher in einen
anderen Wagen fahre, oder sogar Jemanden töte, so bin ich zwar verantwortlich,
aber nicht (außer im engsten juridischen Sinn) “schuldig”. Ich wußte zwar,
daß man nicht das Hab und Gut eines anderen beschädigen darf, hatte aber
keine Wahl. Wenn ich etwas unwissend tue – mir nicht klar ist, daß Mord
ein Verbrechen ist – so werde ich nicht für schuldig, sondern für Geisteskrank
erklärt werden.
Schuld kann größer, oder kleiner sein. Wenn man unter schwerem Zwang steht,
so tut man zwar was man tut wissend, aber man hat allenfalls weniger Wahl
– etwas Anderes tun zu können wird erschwert. Wenn man allerdings etwas
anderes hätte tun können, so hat man die Wahl – mit einer Pistole konfrontiert
könnte man sich zwar weigern mitzumachen, aber wenn man es unter solchem
Druck tut, so wäre es vielleicht verständlich. Allerdings wird diese “Pistole”
in der Nazizeit überschätzt: die Wahl war öfters nicht zwischen mittun,
oder sterben, sondern zwischen mittun, oder seine Karriere nicht fördern.
Bekannterweise hatten selbst SS-Leute in KZ’s die Möglichkeit, nicht weiter
mitzumachen, sondern transferiert zu werden. Und in der Tat – die johlende
Menge, die sich den Bauch vollgelacht hat während jüdische Ärzte und Rechtsanwälte
das Trottoir schruben mußten, unterlagen keinerlei Zwang.
Falls man etwas tut, von dem man die Folge nicht wirklich weiß, wäre die
Schuld eine viel kleinere. Der Mann, der die Fahrpläne für Züge nach Auschwitz
gemacht hat, ohne zu wissen, wo diese Züge hingehen sollten, wäre nicht
in demselben Sinne schuldig wie der Kollege, der es sehr wohl wußte. Leider
aber wußten es die Meisten die die Fahrpläne machten genau, oder sie haben
es absichtlich nicht wissen wollen.
Obwohl Unwissen als mildernder, oder sogar entschuldigender, Umstand gelten
kann, so kann Unwissen an und für sich schuldig oder unschuldig sein.
“Ich wußte es nicht, weil ich es nicht hätte wissen können” ist etwas
ganz anderes als “ich hätte es mehr oder weniger leicht wissen können,
wollte es aber nicht wissen – um nicht zu wissen habe ich mich abgewendet.”
Es ist klar daß in dem “ich wollte es nicht wissen” bereits ein Wissen
oder wenigsten ein Ahnen steckt. Falls ich etwas tatsächlich nicht hätte
wissen können, so wäre ich nicht schuldig – ich habe nichts bewußt getan.
Falls ich es aber nicht wissen wollte so wußte ich ja bereits etwas –
genug allenfalls um zu wissen daß ich davon nichts wissen will. Falls
ich etwas nicht wissen will, so habe ich meinen Willen zwischen das Wissen
können und das sehr wohl Wissen mit voller Absicht gestellt. Und dann
bin ich allerdings schuldig – schuldig nicht nur für was geschehen ist
sondern auch schuldig weil ich absichtlich Wissen abgelehnt habe. Wissen
ablehenen heißt einem Willen Ausdruck geben.
Es stellt sich die Frage: was ist das was man gewußt, oder nicht gewußt
hat? Jeder der in Nazideutschland gelebt hat mußte manche Dinge wissen,
hat andere fast unvermeidlich gewußt und hat einige vielleicht tatsächlich
nicht gewußt. Niemand hat “nichts” von Judenverfolgung gewußt – jedes
Kind in Wien 1938 mußte unvermeidlich die Mißhandlung von Juden auf den
Straßen sehen und viele haben sich auf den Straßen oder in den Schulen
beteiligt. Die KZ’s waren allgemein bekannt – in der Tat: der Zweck der
KZ’s war Terror. Die Drohung, in ein KZ zu kommen, wäre ohne von KZ’s
zu wissen unmöglich gewesen. Der Terror war wohl bekannt – die Witze,
die in dieser Zeit verbreitet waren können einen über den Stand der Dinge
aufklären: man kann nicht über etwas, von dem man nichts weiß Witze machen.
Und Witze über die KZ’s und was drinnen geschieht waren weit verbreitet.
Verantwortung für etwas zu haben heißt, für etwas zu sorgen, für etwas
zuständig zu sein. Es ist eine bestimmte Beziehung zu Anderen, zur Gesellschaft,
zur Natur und zu sich selbst. Man kann das Wort verschieden verstehen.
Kausalverantwortung bedeutet, daß man in die Kausalkette ohne, oder mit
Schuld verstrickt ist. Kausalverantwortung kann schuldig sein – etwa “ich
habe es mit voller Absicht getan”, oder “es war was geschehen ist zwar
nicht meine Absicht, aber ich konnte was geschehen wird voraussehen und
habe es trotzdem getan”. Andererseits kann Kausalverantwortung unschuldig
sein “ich konnte es nicht verhindern (oder voraussehen), aber es ist durch
mein Tun oder Lassen geschehen – meine Bremsen haben versagt und ich bin
in ein anderes Auto hineingefahren.”
Andererseits kann Verantwortung eine Rollenverantwortung sein – als Lehrer
oder Arzt habe ich gewisse Verantwortungen. Im Fall Omofuma, z.B., war
der Innenminister zwar vielleicht nicht daran Schuld, daß dieser Mann
geknebelt und erstickt wurde, aber als Innenminister ist er wie auch der
Polizeichef dafür verantwortlich. Als Arzt hat man einem Patienten gegenüber
eine Verantwortung die ein Laie nicht hat. Ein Ehegatte hat Verantwortungen,
die jemand anderer nicht hat.
Und vor allem haben wir als Menschen menschliche Verantwortung -- als
Mensch bin ich für meine Mitmenschen verantwortlich. Wie weit diese Verantwortung
geht – ob ich nur verantwortlich bin ihnen nicht zu schaden sondern auch
Verantwortung ihnen zu helfen habe, liegt nicht im Thema dieses Vortrag’s.
Diese verschiedenen Verantwortungen sind nicht von einander absonderbar
– sie kommen selten einzeln. Man hat, erstens, immer eine menschliche
Verantwortung – selbst wenn meine sogenannte Pflicht als Konzentrationslagerwärter
mir eingeben will daß ich mich inhuman zu benehmen habe, so ist daß kein
Grund solch ein Benehmen zu entschuldigen. Ein Führerbefehl genügt nicht,
um menschliche Verantwortung zunichte zu machen.
Schuld
ist immer persönlich, Kollektivschuld ist absurd. Verantwortung kann,
allerdings, eine kollektive sein. Da ich in einer gewissen Gesellschaft
lebe, bin ich für das, was diese Gesellschaft tut oder läßt verantwortlich.
Dieß ist besonders in einer Demokratie der Fall, stimmt aber ebenfalls
in einer Diktatur. In einer Diktatur habe ich zwar weniger zu sagen,
aber ohne tatsächliche oder stillschweigende Kooperation könnte kein
Staat weitermachen. Ein Krieg wider den Volkswillen ist ein verlorener
Krieg.
Man
kann für etwas keine Schuld haben (also nicht selbst in die Kausalkette
verstrickt sein), aber trotzdem dadurch, daß etwas auch ohne sein Dazutun
geschehen ist verantwortlich sein. Da ich nicht in der Sklavenzeit gelebt
habe, trage ich für die Sklaverei keinerlei persönliche Schuld. Da ich,
allerdings, als weißes, männliches in Amerika wohnendes Wesen täglich
und ohne es zu wollen durch die Tatsache und durch die historischen
Gegebenheiten bevorzugt werde, habe ich die Pflicht, Alles um die Benachteiligung,
die Folge der Sklaverei ist gut zu machen – wenn ich das nicht tue,
so werde ich für die weitere Benachteiligung Schuld tragen.
Als Miglied einer Gesellschaft, die Kinder,
Behinderte und andere Schwache, als “lebensunwert” deklariertes Leben
ermordet hat, trage ich eine gewisse Verantwortung. Wie ein Land heute
ausschaut (ob es arm, reich, fortgeschritten oder zurückgeblieben ist)
ist unabdingbar mit der Geschichte dieses Landes verbunden. Als Österreicher
z.B., tragen Menschen, die nach der Nazizeit geboren wurden, oder während
der Nazizeit Kinder waren keine Schuld – aber sie sind sowohl für mögliches
Wiedergutmachen wie auch dafür, daß sich so etwas in dieser Gesellschaft
nicht wiederholt verantwortlich. Es ist an der Zeit, uns endlich klar
der Vergangenheit zu stellen: Österreich war kein Opfer des Nationalsozialismus
– es war nicht nur mitschuldig, sondern zumindest nicht minder schuldig
als Deutschland.
Wenn wir noch immer heute Leute behaupten hören, daß entweder sie, oder
ihre Eltern und Großeltern “von nichts gewußt haben”, so muß man sich
fragen, was dieses “nichts” eigentlich war. Obwohl man daran zweifeln
kann, so ist es möglich, daß Einige oder Mehrere nichts von den Vernichtungslagern
gewußt haben. Zu bezweifeln ist es, weil genug Menschen in dieses Tun
verstrickt waren, Fotos gemacht und Briefe geschrieben haben, zu Weihnachten
nach Hause kamen, sich betrunken haben, u.s.w. Wie dem auch sei: es ist
möglich. Es ist unmöglich, es ist schlicht eine Lüge, daß Leute, die damals
gelebt haben gar nichts von der Brutalität, mit der ihre Mitmenschen behandelt
wurden, mitgekriegt haben. Die Judenausweisungen, Judenverfolgungen, Judenverschleppungen
und andere Greuel waren viel zu sichtbar. Jeder, der in Wien zu der Zeit
gewohnt hat, hat das mitgekriegt. Vom Jubeln am Heldenplatz, zu den Angriffen
auf den Straßen, zu den immer ärgeren Beschränkungen des täglichen Lebens,
zu der Kindervernichtung, Behindertenausrottung und schließlich zum Holocaust
ging es schrittweise vor. Und fast jeder Schritt wurde entweder begrüßt,
gleichgültig hin genommen oder allenfalls ohne viel Wiederstand akzeptiert.
Es gab Ausnahmen – aber nicht all zu Viele.
Als
Zeitzeuge kann ich Ihnen versichern, daß Alle was in Wien unmittelbar
nach dem Anschluß geschehen ist sehen haben können, ja sehen haben müssen
und daß es viele gut geheißen haben. Der Versuch, so etwas zu leugnen
scheitert an einer überwältigenden Masse von Dokumenten und Zeitzeugenberichten.
Wir, die entkommen sind, sind durch Zufall und mit einem äusserst bitterem
Geschmack im Mund davongekommen. Man muß allerdings auch hervorheben
-- es gab anständige Menschen, die wo sie konnten geholfen haben und
die man nicht vergessen darf. Aber es gab ihrer blutwenige.
Wer also waren die Täter, wer die Mitläufer, wer die Zuschauer und wer
die, die aktiv geholfen haben? Unter Tätern will ich nicht nur die SA,
SS, Gestapo, u.s.w. verstehen. Täter waren ebenfalls die, die aufgehört
haben einem “Guten Morgen” zu wünschen. Genau wie es mehr oder weniger Schuldige gibt, so gibt es auch Täter verschiedenen Grades.
Waren auch die, die stehen geblieben sind, um zuzuschauen, wie jüdische
Ärzte das Trotoir säubern mußten Täter? Waren es nur die, die gejohlt
und geklatscht haben? Waren es auch die, die sich “nur” ergötzt haben?
Täter sind auch die, die sich durch Ariesierung bereichert haben. So
wie scheinbar die Ahnen der Herren Haider und Prinzhorn, die “dadurch
Juden doch so geholfen haben”!! Eine unverschämte Lüge, übrigens, die
man gar nicht so selten hört.
Leute wie Herr Haider, die von der Waffen-SS als ehrbare Leute sprechen,
der die Arbeitspolitik des 3. Reich’s lobt, dessen Partei mit denselben
hasserfüllten Vokabeln gegen Ausländer hetzen wie Hitler einst gegen
Juden, sind ebenfalls in der Tat Täter. Man kann sie zwar nicht für
was geschehen ist schuldig heißen – aber man kann sie dafür daß sie
es (wenn auch nur teilweise) gut heißen verantwortlich machen und vor
Allem: man muß sie für das Wiederkommen ähnlichem Hasses und für das
eventuelle Wiederkommen ähnlicher Greuel verantwortlich halten. So wie
Alle die sich nicht gegen solchen Haß stellen.
Mitläufer waren diejenigen, die entweder weggeschaut, aber nicht
geholfen haben, oder diejenigen, die sich einfach weigerten “gegen den
Strom zu schwimmen.” Apologeten waren diejenigen, die bereits zur Nazizeit
alles minimieren oder verschönern wollten; Apologeten heute entschuldigen,
minimieren, verschönern oder relativieren was geschehen ist, was heute
geschieht und was möglicher Weise vorbereitet wird. Sie tun es, weil
sie dadurch “ihre Ruhe” haben, ihr Seidl Bier, oder ihren Kaffee mit
Schlag trinken können; weil sie dadurch ihrer Karriere weiterhelfen;
weil sie nicht möglicherweise mehr Steuern für Unterstützung von Armen
zahlen müssen – der Entschuldigungen gibt es kein Ende!
Man muß aber auch über die anständigen Leute sprechen. Es
gab zwar nicht viel, aber doch Opposition gegen die Nationalsozialisten – bekanntereise sind es diese Leute,
die Herr Haider einst als Verräter bezeichnet hat. Und Opposition wurde
auch von denen, die einen weiterhin gegrüßt haben, die weiterhin Mitbürger
als Menschen behandelt haben, die getan haben was sie eben konnten.
In Deutschland, oder Österreich, hätte ohne die aktive und passive Hilfe
vieler solcher Menschen kein Jude überleben können; noch weniger hätten
herauskommen können. Wir schulden solchen Menschen ewigen Dank. Sie
sind die – wie Herr Haider sie so schön nennt – Verräter, auf die wir
stolz sein können. Heute sind die, die in Österreich gegen die FPÖ protestieren
ihre Erben.
Wenn wir über Täter, Mitläufer, Apologeten und anständige Leute die
den Opfern in irgend einer Weise geholfen haben sprechen, so müßen wir
uns auch klar sein daß diese Kategorien oft nicht wasserdicht trennbar
waren. Es gab Täter oder Mitläufer die manchmal auch den Opfern geholfen
haben – es gab sogar solche in der SS. Diese Tatsache erschwert es Einem
ein wahres Urteil geben zu können.
Die Greuel der Nazis haben klein angefangen. Man hat den ersten Schritt
nicht begrüßt, hat ihn sogar als ungerecht empfunden: aber er war ja nicht
an und für sich so arg. Und der Zweite war ja nur ein klein wenig ärger;
und der dritte, der vierte, der fünfte – und dann irgend wann einmal kam
Spiegelgrund und Auschwitz: aber dann war es zu spät.3
Tragödien die schließlich zu den Greueln führen, mit denen wir uns heute
konfrontieren, kommen immer in drei Schritten:
1.
Du sollst nicht als einer von uns leben (soziale Ausgrenzung)
2.
Du sollst nicht mit, oder unter uns leben (Ghettoisierung)
3.
Du sollst nicht leben. (Ausrottung)
Es ist der erste Schritt, den man immer verhindern müßte – Mitmenschen,
ob Juden, Christen, Mohammedaner, Ausländer oder Bürger sind gleichwertige
Mitmenschen. Wer daß nicht anerkennt, kann sich schließlich und endlich
für ein neues Auschwitz schuldig machen. Es scheint mir, daß wir hier
in Österreich wieder den ersten Schritt gegangen sind und gar nicht so
ungern den zweiten tun würden.
Manche behaupten, daß wir nicht zu verstehen oder, zu erklären versuchen
sollten – indem wir das tun nähern wir uns den Tätern. Aber das stimmt
nicht – oft haßt und verachtet man etwas noch mehr wenn man es versteht.
Wie Menschen auf Greuel (in der Vergangeheit oder Heute) reagieren ist
aufschlußreich. Es sind drei Stufen:
1.
Es ist doch gar nicht so arg, oder das stimmt doch gar nicht
(ein Verleugnen oder zumnidest Verschönern der Tatsachen)
2.
Es ist doch ihre eigene Schuld – “sie” waren, oder sind anstössig,
dumm, u.s.w., u.s.f. (was man “victim blaming” nennt – so wie etwa “hätte
sie nicht so ein kurzes Kleid getragen, wäre sie nicht vergewaltigt
worden”)
3.
Und was soll ich denn machen? (wenn man einmal zugeben muß, daß
die Tatsachen so sind und es nicht die Schuld der Opfer ist, dann protestiert
man gegen seine eigene Unfähigkeit irgend etwas zu tun und lehnt Verantwortung
ab.)
Wie
Täter, Mitläufer, Apologeten und die, die in der Opposition waren, erklären
was sie getan, oder nicht getan haben, ist aufschlußreich. Es kam in
drei Stufen;
1.
Es waren arge Zeiten
2.
Es war gefährlich anders zu tun oder Opfern zu helfen.
3.
Was hätte ich den tun können? Das war doch selbstverständlich.
Die Worte sind aufschlußreich – wie ich mich selbst verstehe, wer ich
als Mensch bin. In einem Video über Rassismus in den Vereinigten Staaten,
daß alle meine Studenten vor ihrer Promotion sehen müssen, kommt eine
Stelle vor, in der ein Lynchmob einen jungen Schwarzen aufhängen soll.
Die ersten zwei (die mit irgend etwas tatsächlich involviert waren)
waren bereits aufgehängt und man war gerade im Begriff den dritten aufzuhängen.
Ein Mann (Einer!!) hatte den Mut zu rufen “Laßt den Buben in Ruh! Der
hat nichts getan”. Und, in der Tat, der dritte wurde nicht gelyncht.
Daß soll nicht Lynchen gut heißen – Jemand der sich an einem Lynchmob
beteiligt ist kaum ein edler Mensch. Aber es soll heißen daß der Einzelne
seine eigenen Grenzen hat, sie erkennen und danach handeln muß – selbst
falls es gefährlich oder unangenehm werden könnte. Der Einzelne der
sich daran beteiligt oder nicht falls er es könnbte dagegen spricht
macht sich schuldig – dagegen zu sprechen wird zur Verantwortung gegenüber
sich slebst und sein Menschsein.
Wie können wir heute in Österreich und in der Welt so etwas in der Zukunft
verhindern? Erstens denke ich, daß wir uns endlich der Vergangenheit
stellen müßen – daß wir zugeben müßen, was geschehen ist, daß wir unsere
Rolle in dem Geschehenen bekennen müssen und trachten müssen, nicht
nur “wieder gut” zu machen, sondern auch denen, die heute ähnlich betroffen
worden sind, unsere Hilfe zuzusprechen. Wir können nur verhindern, wenn
wir klar zugeben was geschehen ist, was heute geschieht.
Veranstaltungen dieser Art haben nur
dann einen Sinn, wenn sie konkrete Folgen haben. Die Vergangenheit ist
nicht mehr in unseren Händen – wir müssen uns ihr stellen, wir müssen,
m.E., die nicht wenigen Schuldigen, wie Herr Gross z.B., die noch frei
herumlaufen vor Gericht bringen. Aber daß ist nur der Anfang. Solche
Leute vor Gericht zu bringen sollte nicht ein Racheakt sondern sollte
ein Sich-darüber- auseinander-zu-setzen sein. Wir müssen uns vorallem
der Zukunft stellen und wir müssen uns dem stellen: unsere Zukunft und
die Zukunft unseres Landes und unserer Gesellschaft ist unsere Verantworung.
Was uns heute droht ist ein Wiederaufflackern
von Menschenhaß – gleich, ob gegen Juden, Ausländer, Schwarze, oder wen
immer gerichtet. Wenn man die Vokabeln, die Leute wie die Freiheitlichen
verwenden, untersucht, wenn man sie mit dem, was war, vergleicht, so bekommt
man vor dem was kommen mag Angst. Es scahuert einem! Leute die hassen
wird es immer geben – man findet sie in allen Kulturen, bei allen Rassen,
bei allen Religionen. Aber es sind nicht wirklich die, die hassen, es
sind nicht die, die wir als Übeltäter anprangern: es sind nicht die Hitler’s,
Eichman’s, Mengele’s, Gross, oder Haider’s. Es sind - und das ist schmerzhaft
zuzugeben – wir selbst. Es sind wir, die mitlaufen, die Opportunisten
sind, die ihre Ruhe haben wollen – es sind eher die Herr Karl’s dieser
Welt, die das Böse erst möglich machen.
In allen von uns steckt schließlich und endlich ein SS-Mann, alle von
uns sind fähig Greueltäter zu sein. Aber die meisten von uns sind auch
fähig Wohltäter und anständige Menschen zu sein. Nur indem wir uns dieser
zwei miteinander streitenden Fähigkeiten klar sind, können wir die eine
fördern, die andere unterdrücken.
Unsere sozialen Umstände sind fähig Böses zu fördern, oder zu unterdrücken.
Bei manchen Menschen ist das leichter als bei anderen. Eine wahre Demokratie,
eine gute Ausbildung, eine Kultur die zivilen Ungehorsam schätzt und Kadavergehorsam
verabscheut und die sich nicht jeder Autroität beugt, eine Umwelt die
Menschlichkeit schätzt und Unmenschlichkeit verabscheut, kann viel dazu
beitragen, solche Greuel zu verhindern. Der Preis (wie Jefferson einmal
sagte) der Freiheit ist unausgesetzte Wachsamkeit. Und, möchte ich dazu
fügen, Zivilcourage – etwas daß traditionell oft fehlt.
Um aber eine echte Demokratie zu verwirklichen – und ich halte das für
die einzige Möglichkeit, sich dem Bösen zu stellen – müssen drei Grundbedingungen
erfüllt werden.
Eine politische Demokratie ist nur der Gipfel einer Pyramide und ohne
die Grundbedingungen erfüllt zu haben kann eine politische Demokratie
gefährlich sein: denn allzu leicht wird sie durch Machthaber und Demagogen
bestimmt werden. Die Grundbedingungen sind also(wie Dewey es vor langer
Zeit ausgedrückt hat) drei: 1) eine persönliche Demokratie in der wir
bereit sind mit einander zu diskutieren, andere Ansichten ernst zu nehmen
und andere Menschen und ihre Ansichten zu respektieren; 2) eine oekonomische
Demokratie, in der es keine Blutarme und Steinreiche gibt; und 3) eine
Bildungsdemokrate, in der alle Menschen gut ausgebildet sind und vollen
Zugang zur freien Ausbildung haben.4
Wenn wir von “Allen” sprechen – von “Allen”, die sich am Aufrechterhalten
so einer Demokratie beteiligen müssen – so müssen die Schwachen genauso
wie die Starken einen hohen Stellenwert haben. Alle, die in unserer Gesellschaft
leben und die betroffen werden sind gleichberechtigt hier mitzusprechen.
Indem wir miteinander ins Gespräch kommen, uns gegenseitig schätzen und
mit einander als gleiche Partner unsere Zukunft aushandeln, schaffen wir
eine evolutionäre Ethik – eine Ethik die Habermas “Diskursethik” nennt.5
Wir haben schon viel zu lange eine Ethik der Starken und wenn es gut geht,
eine Ethik für die Schwachen betrieben. Es ist an der Zeit, daß wir in
einer Demokratie eine Ethik mit den Schwachen betreiben.
Die Kultur einer Gesellschaft wird zum Teil davon bestimmt, wie sie mit
den Schwachen umgeht – mit den Kranken, den Behinderten, den Alten, den
Ausländern. Wie wir uns als Bürger einer Demokratie zu den Schwachen,
den Armen, den Behinderten, den Ausländern, den Kranken stellen, bestimmt
wer wir sind, was für uns selbstverständlich und was für uns nicht selbstverständlich
ist. Es ist an der Zeit, daß wir den Mut aufbringen aufzustehen und NEIN
zu sagen – nein zur Wiederkehr des braunen Übels, welches heute vielleicht
nur blau ausschaut. NEIN zum Menschenhaß, zur Ausländerfeindschaft und
zum Rassismus. Und letzendlich NEIN zu uns selbst, sollten wir in Versuchung
kommen, Täter, Mitläufer, oder Apologeten zu sein.
FUSSNOTEN UND LITERATURANGABE
1.
Klemperer
V: LTI (Lingua Tertii Imperii) Leipzig, Deutschland: Reclam 1975
2. Burleigh M: Death and Deliverance: ‘Euthanasia’
in Germany 1900-1945.New York, NY: Cambridge University Press 1994
3. Eine äusserst gute Beschreibung dieses schrittweisen
Vorgangs kann man bei einem Interview eines Akademikers in Deutschland
kurz nach dem Kireg vor finden. Siehe: Mayer M: They Thought the were
Free Chicago, IL: University of Chicago Press, 1966 (Seite: 168
– 173)
4. Dewey
J: Creative Democracy: the work before us. IN: John Dewey: the later
works 1939-1941. (JA Boydston & A. Sharpe, eds) Carbondale,
IL: Southern Illinois University Press; 1991.
5.
Habermas
J: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln Frankfurt a/M: Suhrkamp,
1992
Das
Referat von Prof. E. Loewy wurde anlässlich des 2. Symposions „zur Geschichte
der NS-Euthanasie in Wien“ ,das am 8. und 9. Mai 2000 im Psychiatrischen
Krankenhaus der Stadt Wien stattgefunden hat, gehalten.
Siehe auch:
NS- Euthanasie in Wien.
Eberhard Gabriel, Wolfgang Neugebauer
Taschenbuch - 138 Seiten (2000)
Verl. Böhlau, Wien
ISBN: 3205989511
In diesem Band wird das volle Ausmaß
und der spezifische Charakter der NS-Euthanasiemaßnahmen in Wien
ebenso sichtbar gemacht wie das Verdrängen nach 1945, das die Nachkriegskarrieren
der Täter und die Diskriminierung der Opfer ermöglichte. Namhafte
Beiträger behandeln grundsätzliche Fragen der NS-Medizin,
der Erinnerung und der Aufarbeitung (William Seidelmann, Klaus Dörner),
geben einen Überblick über Motive, Formen und Konsequenzen
der NS-Euthanasie (Henry Friedlander), legen ihre Ergebnisse über
die T4-Aktion und die Kindereuthanasie in Wien-Steinhof vor (Susanne
Mende, Matthias Dahl), analysieren das Schicksal der 1943 bis 1945 in
Wien-Steinhof umgekommenen Hamburger Patientinnen (Michael Wunder) und
diskutieren psychiatrische Traditionen und Kontinuitäten bzw. den
Umgang mit der NS-Euthanasie nach 1945 (Michael Hubenstorf, Wolfgang
Neugebauer). Berichte von Zeitzeugen und Betroffenen ergänzen und
veranschaulichen die wissenschaftlichen Analysen.
|