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Rechnen ungenügend

Von Maja Peter
QU: Weltwoche, Ausgabe 48/01

Die Steiner-Schulen stecken in einer existenzbedrohenden Krise: überzahlte Liegenschaften, rasant steigende Schulgelder, mieses Image. Jetzt muss bereits die fünfte Schule schliessen


Die kreative Entfaltung ihrer Kinder wird für viele in Wil SG zum unbezahlbaren Luxus. Drei Millionen Franken müssen sie und andere private Gönner der Steiner-Schule Wil abschreiben, weil die Trägerstiftung der Liegenschaftkurz vor dem Konkurs steht. Dazu kommen die Jahr für Jahr steigenden Schulgelder für die Kinder. «Die Situation ist prekär», räumt Schulvorstand Claudio Parizzi ein. Die Zukunft des Institutes mit seinen 160 Schülerinnen und Schülern ist ungewiss.

Die Schule in Wil reisst zwar das bisher grösste Loch ins Portemonnaie von Gönnern und Stiftung, doch sie ist kein Einzelfall. Zu hohe Mietkosten und sinkende Schülerzahlen zwingen die mit rund vierzig Kindern vergleichsweise kleine Steiner-Schule in Zürich Albisrieden, den Betrieb Ende Jahr einzustellen. Und die verschuldete Schule Marbach im Rheintal schliesst im nächsten Sommer ihre Pforten. Nach den Instituten in Chur, Neuenburg und Steckborn verschwindet mit Marbach die fünfte Steiner-Schule innert einem Jahr.

Die Waldorfschulen, wie die anthroposophischen Lehrinstitute in Anlehnung an Steiners erste Schule in Stuttgart genannt werden, stecken in der Schweiz in einer schweren Krise. Die Zahl der Schüler und der zahlenden Eltern nimmt seit 1993 rasant ab: 1999/2000 besuchten noch 7894 Knaben und Mädchen die alternativen Privatschulen - rund sechs Prozent weniger als 1993. Obwohl ihre Eltern im gleichen Zeitraum elf Prozent höhere Schulgelder bezahlt haben und mit durchschnittlich 9519 Franken pro Jahr an die Grenze ihrer Möglichkeiten stossen, wachsen die Defizite der Schulen von Jahr zu Jahr. In der vergangenen Periode war es eine halbe Million, die Jahre zuvor zwischen 0,8 und einer Million Franken.

Dass betriebswirtschaftliches Rechnen nicht zu den Stärken von Rudolf Steiners Nachfahren zählt, ist kein Geheimnis. Das Ziel der Waldorfschulen war es noch nie, Geld zu verdienen. Vielmehr arbeiten Lehrer und Eltern gemeinsam mit jenen finanziellen Mitteln, die sie aufwerfen können. Der projektorientierte Unterricht im Stil einer Gesamtschule mit Frühfranzösisch, musischer Förderung und Selbstverantwortung der Kinder verlangt von Eltern und Lehrern Idealismus und persönliches Engagement.

Ein Teufelskreis

Doch jetzt werden die vernachlässigten Rechenkünste zur existenziellen Bedrohung der Waldorf-Institute. Die Sanierung der Liegenschaft in St. Gallen bringt nicht nur die Schule in Wil ins Schlingern, sondern hinterlässt auch in der Kasse der Schweizer Stiftung zur Förderung der Rudolf-Steiner-Pädagogik ein Loch von 620 000 Franken. Das entspricht fünf Prozent jenes Kapitals, mit dem die Stiftung allen Schulen jährlich bis zu einer halben Million Franken zinslose Darlehen gewährt.

Eine fatale Entwicklung: Je grösser die finanziellen Probleme der Schulen, desto mehr müssen die Eltern einschiessen. Je mehr die Eltern bezahlen müssen, desto weniger Schüler besuchen die Schulen. Umso grösser sind die finanziellen Sorgen. Ein Teufelskreis.

Kein Wunder, hat Robert Thomas, Leiter der Koordinationsstelle der Schulen, die Notbremse gezogen. «Mit verschiedenen Massnahmen wollen wir die äusserst schwierige Situation in den Griff bekommen.» Die Schulen werden zum Beispiel in Zukunft nicht mehr eigenmächtig Kredite aufnehmen können. Ab nächstem Jahr wird eine Finanzberatungsgruppe alle Kreditbegehren an die Stiftung zur Förderung der Steiner-Pädagogik und an andere Geldgeber prüfen. Neu geregelt werden soll auch die Höhe des Schulgeldes. Die Eltern sollen nicht mehr alleine bestimmen, wie viel ihnen die Ausbildung ihrer Kinder wert ist. Neu müssen alle abhängig von ihrem Einkommen Beiträge leisten.

Um die Leitung der Schulen zu professionalisieren, werden die Lehrer während ihrer Ausbildung besser in Selbstverwaltung und Personalentwicklung geschult. Auch das Image von Steiners Pädagogik soll verbessert werden. Nach Vorwürfen von Schülern im Baselbiet, Lehrer wendeten Gewalt an, und nach der Verurteilung eines Lehrers wegen sexueller Übergriffe in Zürich wurde im September eine zentrale Meldestelle für Gewalt und sexuelle Übergriffe eingerichtet. Im Zeichen von Transparenz werden die Vor-fälle in anonymisierter Form im Schulblatt veröffentlicht.

Attraktiver soll auch der Schulabschluss werden: Es sind Diskussionen mit Behörden im Gang, damit das Diplom der Steiner-Schüler von den Fachhochschulen anerkannt wird.

Die Geldsorgen sind damit allerdings nicht vom Tisch. Geld für Privatschulen, wie es das vor einem halben Jahr von 18 000 Personen unterschriebene Basler Manifest forderte, wurde von der Konferenz der Erziehungsdirektoren abgelehnt. Nur Baselland, Zug und Luzern bezahlen Beiträge an die Rudolf-Steiner-Schulen. Die Verantwortlichen müssen den Nachhilfeunterricht im Rechnen also schnell durchpeitschen. Sonst sind die Schulzimmer bald leer.



© Aktion Kinder des Holocaust