aktuell

archiv

home

 

Warum Jugendliche rechtsextrem werden
QU: Basler Zeitung, 07.03.2002

«Gewalttätiger Jugendextremismus» war das Thema einer Podiumsveranstaltung, die von der «Aktion Kinder des Holocaust» veranstaltet wurde. Die Anziehungskraft von rechtsextremen Gruppen habe vor allem psychosoziale Gründe und sei selten politisch motiviert.

cf. Gewalttätiger Extremismus gedeiht in einem Umfeld, das viele Lebensmöglichkeiten bietet, aber wenig Orientierung liefert. In dieser Orientierungslosigkeit gewinnt die Gruppe gleichaltriger Jugendlicher an Bedeutung. Sie ist für Heranwachsende eine Schicksalsgemeinschaft auf der Suche nach sozialer Identität. Sie ist aber auch ein Familienersatz als Zwischeninstanz zwischen der Herkunftsfamilie und der Perspektive einer eigenen Familie.
Dies ist nur einer von verschiedenen Erklärungsansätzen des Sozialarbeiters und Mitglieds der Eidgenössischen Kommission für Jugendfragen, Franz Kohler, wie Rechtsextremismus bei Jugendlichen Fuss fassen kann. Er betonte in seinem Referat mit dem Titel «Diagnose Jugendextremismus», das er im Rahmen einer Podiumsveranstaltung der «Aktion Kinder des Holocaust» im Bürgerlichen Waisenhaus hielt, dass sich genau daraus die dramatischsten Formen von jugendlichem Extremismus in Gruppen entwickeln. Kohler ortet jugendlichen Rechtsextremismus vor allem im Freizeitbereich: Sie biete den einzigen Rahmen ohne Leitungsverpflichtung, mit der Möglichkeit der Selbstdefinition, mit der Möglichkeit, die Inhalte des persönlichen Tuns auch selbst zu bestimmen. Gerade für Männer stelle die Freizeit den Ort dar, «wo Emotionen unkontrolliert zugelassen werden können». Kohler nannte in diesem Zusammenhang die Fan-Eskalationen bei Fussballspielen oder Massenbesäufnisse. Auf dem Weg zur integrierten, auf positiven Werten beruhenden sozialen Identität sieht Kohler verschiedene Stolpersteine: statt der Bildung einer eigenen Identität die Bildung einer «anderen» Identität; das Suchen von Vereinfachungen etwa im Populismus, im Konsumismus, im Extremismus; die Fokussierung von Fremdem als Behinderung der eigenen Identität.
Das Ausbleiben eines Dialoges mit der Öffentlichkeit könne zu einer Eskalation des Provokationsverhaltens, zu aggressivem Verhalten gegen aussen führen. Es könne jedoch auch genau das Gegenteil eintreffen: nämlich der Rückzug ins Private, «vom psychischen Rückzug bis hin zum Missbrauch von Genuss- beziehungsweise Suchtmitteln» - also aggressives Verhalten, das gegen sich selbst gerichtet ist. Ihm als Sozialarbeiter sei ein gegen aussen gerichtetes aggressives Verhalten «bei weitem lieber». Denn dieses lasse die Chance, in den Dialog zu treten und etwas zu bewirken.
Als Mittel öffentlicher Reaktionen zur Deeskalation gewalttätiger Jugendlicher nennt Kohler die Möglichkeit der Intervention polizeilicher und pädagogischer Art, aber auch die Mediation zwischen Konfliktparteien. Jugendextremismus habe psychosoziale Ursachen und sei, so Kohler, in den seltensten Fällen politisch oder ideologisch motiviert. Vielmehr dienten politische oder ideologische Äusserungen dazu, «provokativ den Appell zu unterstützen. Nicht individualisierte Ursachenforschung, sondern ein Erkennen des appellativen Charakters solch jugendlichen Verhaltens sollte demnach als Fokus für die Analyse und die Entwicklung von Massnahmen dienen.»
Roman Studer vom Bundesamt für Polizei lieferte im Anschluss an Kohlers Ausführungen ein Lagebild zum Rechtsextremismus in der Schweiz. In den vergangenen Jahren ist die Zahl rechtsextremer Jugendlicher in der Schweiz auf etwa 900 angestiegen. Rund die Hälfte davon leben in den Kantonen Aargau und Bern. Sorgen machten jedoch die Eskalationen zwischen jugendlichen Rechtsextremisten und linksradikalen Gruppierungen.
Der Ausstieg aus der Szene sei, so der Sektenspezialist Hugo Stamm, «sehr, sehr schwierig». Denn die Aussteiger müssten in die Welt zurück, vor der sie geflüchtet seien. Und da gebe es in der Regel keine Arbeit, keine Geborgenheit, keine ökonomische Basis und kein soziales Umfeld. Stamm: «Hier gibt es keine Boni, sondern nur Haue.»

 





 



© Aktion Kinder des Holocaust