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Von
Priv.-Doz. Dr. Dipl.-Psych. Hans-Jürgen Wirth
Der
vorliegende Text von Hans-Jürgen Wirth trägt den Titel
"Zeitgemässes
über Terrorismus, Krieg und Tod" und
bietet grundsätzliche, interessante und wichtige Erklärungssansätze.
Wir publizieren diesen Text, weil viele dieser grundsätzlichen
Gedankengänge sich auch auf die von der AKdH behandelten
Formen von Extremismus anwenden lassen.
Dieser Artikel ist als Schlusskapitel in dem Buch:"Narzissmus
und Macht. Zur Psychoanalyse psychischer Störungen in der
Politik" von Hans-Jürgen
Wirth erschienen, Giessen 2002, Psychosozial-Verlag,
(www.psychosozial-verlag.de),
444 Seiten, 24,90 EUR.
Hans-Jürgen Wirth ist Psychologischer Psychotherapeut, arbeitet
als Psychoanalytiker in eigener Praxis in Gießen und als
Privat-Dozent an der Universität Bremen. Er ist Verleger
des Psychosozial-Verlages.
Wir
danken Herrn Hans-Jürgen Wirth für die freundliche Genehmigung
zur Publikation.
"Die
Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in
welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der
Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions-
und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. [...] Die Menschen
haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit
gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander
bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein
gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks,
ihrer Angststimmung."
Sigmund Freud (1930): Das Unbehagen in der Kultur. In: GW, Bd.
XIV. S. 419-506.
"The
fateful question for the human species seems to me to be whether
and to what extent their cultural development will succeed in
mastering the disturbance of their communal life by the human
instinct of aggression and self-destruction. [...] Men habe gained
control over thr forces of nature to such an extent that with
their help they would have no difficulty in exterminating one
another to the last man. They know this, and hence comes a large
part of theitr current unrest, their unhappiness and their mood
of anxiety."
Sigmund Freud (1930): Civilization and ist Discontents. In: The
Standard Edition of thr Complete Psychological Work of Sigmund
Freud, Vol 21, p 145.
"Der
Narzißt muß ohne Unterlaß mit dem Göttlichen
leben."
Bela Grunberger, Pierre Dessuan, (1997): Narzißmus, Christentum,
Antisemitismus. Eine psychoanalytische Untersuchung. Stuttgart
2000 (Klett-Cotta), S. 379.
Der
monströse Anschlag vom 11. September 2001 auf das World-Trade-Center
in New York und das Pentagon in Washington hat - so könnte
man mit Freud (1930) formulieren - der ganzen Welt wieder einmal
vor Augen geführt, wie schwer es "der Menschenart"
fällt, dem "menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb
Herr zu werden" (ebd., S. 506). Freuds Hypothese vom Aggressions-,
Selbstvernichtungs- und/oder Todestrieb darf allerdings nicht
verkürzt als monokausale Interpretation destruktiven Handelns
verstanden werden, so als wäre der Terrorakt auf das World-Trade-Center
mit dem Hinweis auf die aggressiv-destruktive Triebnatur des Menschen
schon "auf den Begriff gebracht", erklärt oder
verstanden.
Vielmehr besteht die theoretische Leistung von Freuds Todestrieb-Hypothese
allein darin, darauf zu insistieren, dass die Möglichkeit
zur Destruktivität in jedem von uns vorhanden ist. Der Terrorakt
vom 11. September 2001 ist keineswegs von "unvorstellbarer"
Grausamkeit, wie es in den Kommentaren oft hieß. Vielmehr
haben sich zahlreiche kreative Köpfe aus Hollywoods Filmindustrie
ein solches Szenario bereits vor Jahren in allen Einzelheiten
ausgemalt, und ein Millionen-Publikum hat sich davon unterhalten,
faszinieren und erschaudern lassen. Die destruktive Potenzial
des Menschen ist ubiquitär: Grundsätzlich ist der Mensch
zu jeder Grausamkeit fähig, die sich die menschliche Phantasie
ausmalen kann. Wie weit der Einzelne von solchen destruktiven
Impulsen bedrängt wird und ob destruktive Phantasien in die
Tat umgesetzt werden oder im Reich der Phantasie bleiben, hängt
allerdings von vielen weiteren, komplex miteinander verwobenen
Bedingungen ab, die unter anderem mit den Begriffen maligner Narzissmus,
Größenphantasien, Ohnmachtsgefühle, individuelle
und kollektive Traumatisierungen, Fanatismus, Fundamentalismus
und paranoide Weltbilder angesprochen sind.
Ereignisse wie der Terroranschlag vom 11. September 2001 sind
auch nicht "bestialisch" im ursprünglichen Sinn
des Wortes "Bestie" (= wildes Tier, Unmensch), sondern
kennzeichnen im Gegenteil die Spezies Mensch. Tiere verfügen
über eine instinktgesteuerte Tötungshemmung gegenüber
Artgenossen - von wenigen Ausnahmen, die der Arterhaltung dienen,
abgesehen. Tiere sind deshalb gar nicht in der Lage, unter ihren
Artgenossen ein Massaker anzurichten. Dies bleibt dem Menschen
vorbehalten. Die Möglichkeit zum monströsen Verbrechen
stellt einen fundamentalen Bestandteil der Conditio humana dar.
Die relative Freiheit von instinktgesteuertem Verhalten bringt
auf der einen Seite die Möglichkeit zur Freiheit, zur Kreativität,
zur freien Willensentscheidung hervor, während die andere
Seite der Medaille in der Freiheit besteht, sich auch für
das Böse entscheiden zu können. Wenn diese Freiheit
zum Bösen nicht bestünde, wäre der Mensch nicht
frei. Wir können das eine nicht haben, ohne das andere in
Kauf zu nehmen. "Das Böse ist darum das Risiko und der
Preis der Freiheit" (Safranski 1997, S. 193). Das bedeutet
keine Kapitulation vor dem Bösen. Vielmehr steht der Mensch
vor der schwierigen Aufgabe, dem Bösen entgegen zu arbeiten,
ohne es jedoch je endgültig aus dem menschlichen Leben verbannen
zu können, denn alle Versuche, dies zu tun, bringen unweigerlich
selbst wieder Böses hervor, weil sie die Freiheit zerstören.
Freuds pessimistisches Menschenbild, das in seiner Todestriebhypothese
zum Ausdruck kommt, verweist auf die Gefahr, dass auch die Opfer
destruktiver Gewalt - am 11. September 2001 waren es die Amerikaner
- nicht davor gefeit sind, mit ihrer Gegenwehr nun ihrerseits
zu einer der "Mächte der Finsternis" (Freud) zu
werden. Die Tragik besteht darin, dass der Kampf gegen das Böse
selbst wieder Böses gebiert.
Die Spaltung der Welt in "gut" und "böse"
gehört zu den zentralen psychologischen Bedingungen des Terrorismus.
Die Terroristen können ihr Über-Ich nur ausschalten,
indem sie ihren Gegner dehumanisieren und mit dem absolut Bösen
gleichsetzen. Wenn umgekehrt der amerikanische Präsident
George W. Bush zum "Kampf des Guten gegen das Böse",
gar zu einem "Kreuzzug gegen das Böse", aufruft,
dann folgt er der gleichen psychischen Spaltung, die zu den Ursachen
des Problems gehört - nicht zu seiner Lösung. Denn "in
reality" ["in Wirklichkeit"], so schrieb Freud
(1915, S. 281f) in Thoghts for the Times on War and Death [Zeitgemäßes
über Krieg und Tod],
"there is no such thing as eradicating evil.
Psychological - or, more strikly speaking, psycho-analytic - investigation
shows instead that the deepest essence of human nature consists
of instinctual impulses which are of the elementary nature, which
are similar in all men and which aim at the satisfaction od certain
primal needs. These impulses in themselves are neither good nor
bad. [...]
["gibt
es keine Ausrottung des Bösen. Die psychologische
- im strengen Sinne die psychoanalytische - Untersuchung zeigt
vielmehr, daß das tiefste Wesen des Menschen in Triebregungen
besteht, die elementarer Natur, bei allen Menschen gleichartig
sind und auf Befriedigung gewisser ursprünglicher Bedürfnisse
zielen. Diese Triebregungen sind an sich weder gut noch böse.]
[...] A human being is seldom altogether good or bad; he is usually
good in one relation and bad in another,
or good in certain external circumstances and in others
decidesly bad."
[Der Mensch ist selten im ganzen gut oder böse, meist gut
in dieser Relation, böse in einer anderen oder
gut unter solchen äußeren Bedingungen,
unter anderen entschieden böse."]
Tatsächlich ist das Böse - gegenwärtig verkörpert
im Terrorismus - eine Hydra: Schlägt man ihr einen Kopf ab,
wachsen zehn neue Köpfe nach (vgl. Nitzschke 2001). Entsprechendes
gilt auch für die Gegenwehr Amerikas. Greift die legitime
und notwendige Gegenwehr selbst zu terroristischen Mitteln und
erfolgt sie im Rahmen einer Kreuzzugs-Ideologie, dann wird sie
sich selbst die Feinde stetig neu erschaffen, die sie zu bekämpfen
vorgibt. Eine effektive Strategie gegen den Terrorismus muss auch
an den schreienden Ungerechtigkeiten zwischen der Ersten, der
Zweiten und der Dritten Welt anknüpfen und auch die psychosozialen
Ursachen des Terrorismus bekämpfen, will sie langfristig
erfolgreich sein.
Das
Fanatismus-Syndrom
Terroristen, speziell Selbstmordattentäter, sind Fanatiker.
Auch wenn der Fanatismus als individuelle und kollektive Erscheinung
dem historischen Wandel unterliegt und ein überaus komplexes
Phänomen ist (vgl. Hole 1995, S. 36), soll hier eine kurze
Begriffsbestimmung versucht werden: Günter Hole (1995) hebt
in seinem Buch Fanatismus die "Leidenschaftlichkeit und den
"blinden Eifer" des Fanatikers hervor, mithilfe derer
jener "kompromisslos" und "starr" seine "überwertige
Idee" (ebd., S. 37) vertritt:
"Fanatismus ist eine durch die Persönlichkeitsstruktur
mitbedingte, auf einengende Inhalte und Werte bezogene persönliche
Überzeugung von hohem Identifizierungsgrad, die mit stärkster
Intensität, Nachhaltigkeit und Konsequenz festgehalten oder
verfolgt wird, wobei Dialog- und Kompromißunfähigkeit
mit anderen Systemen und Menschen besteht, die als Außenfeinde
auch unter Einsatz aller Mittel und in Konformität mit dem
eigenen Gewissen bekämpft werden können" (ebd.,
S. 39).
Wurmser (1989, S. 167) hat - Haynal und Puymège zitierend
- die Merkmale des Fanatismus wie folgt zusammengefasst:
"Glauben, ein Übermaß an Eifer, Exklusivität,
automatische Reinheit, völlige, bis zum Selbstmord und Verbrechen
getriebene Involvierung [in eine überwertige Ideologie],
die Gewißheit, die Wahrheit zu besitzen, die Kenntnis
von gut und böse, die als absolut angesehen werden, ein dichotomisierendes
und vereinheitlichendes Denken, eine Aversion gegen alles, was
sich dieser Wahrheit entgegenstellt oder diese in Frage stellt,
ein absoluter Glaube, der gewisse Ideale als heilig ansieht und
Vervollkommnung und Harmonie im Diesseits oder Jenseits verspricht,
die Vernichtung dessen, was fremd sei oder sich ihm widersetze."
Erich
Fromm (1961, S. 61) betont ausdrücklich, man dürfe nicht
jeden Menschen, der einen "tiefen Glauben" besitze oder
sich einer "geistigen oder wissenschaftlichen Überzeugung"
verpflichtet fühle, gleich als Fanatiker klassifizieren.
Tatsächlich erkenne man den Fanatiker "leichter an gewissen
Eigenschaften seiner Persönlichkeit als am Inhalt seiner
Überzeugungen" (ebd.). Der Fanatiker habe alle Gefühle
für andere Menschen in sich abgetötet und diese auf
die Partei oder die Gruppe, deren Ideologie ihm nahe steht, projiziert.
Er vergöttert das Kollektiv und die gemeinsame Ideologie,
denen er sich selber als Sklave ausgeliefert hat. Die völlige
Unterwerfung unter diesen Götzen lässt in ihm eine Leidenschaft
entstehen, deren emotionale Qualität Fromm als "kaltes
Feuer", als "brennendes Eis", als "Leidenschaftlichkeit,
die ohne Wärme ist" (ebd.), charakterisiert. Der Fanatiker
"handelt, denkt und fühlt im Namen seines Idols"
(ebd.) und ist dafür bereit, alles, was ihm sonst noch im
Leben wertvoll ist, zu opfern. Beispielsweise bekennt der Palästinenser
Nizzar Iyan in einem Zeit-Interview (vgl. Schirra 2001), er sehe
die höchste Erfüllung darin, dass seine Söhne sich
als Selbstmordattentäter im Kampf gegen die Israelis opferten.
Als sein 17-jähriger Sohn Ibrahim, den er "zum Töten
abgerichtet hat, zum heiligen Killer im Namen Gottes" (ebd.,
S. 15) tatsächlich bei einem Selbstmord-Attentat ums Leben
kommt, sagt der Vater: "Mein Sohn Ibrahim ist tot. Nie war
ich glücklicher als in dem Moment, als sie kamen und mir
sagten: Die Juden haben deinen Sohn getötet."
Und auf die Frage des Interviewers: "Aber Sie sind doch sein
Vater, es muss Ihnen doch wehtun", antwortet der Vater ungerührt:
"Ich bin ganz ehrlich, ich sage das aus Überzeugung,
ich empfinde keine Trauer, ich empfinde Freude, wirkliche Freude,
dass das, was wir geglaubt haben, mein Sohn ein Stück weit
realisiert hat. Das Leben hat keinen Geschmack, wenn man seine
Träume, seine Ziele nicht realisieren kann" (ebd., S.
16).
Für diesen palästinensischen Vater gilt das, was Hole
(1995) über den Fanatiker schreibt: Typische Fanatiker "lieben
Ideen mehr als Menschen, die Hingabe an Ideen ist abnorm stark,
die Hingabe an Menschen jedoch eigenartig blockiert oder gebrochen"
(ebd., S. 93). Dem Fanatiker fehlt "die Fähigkeit zur
Empathie", zur "Einfühlung", zur "Sympathie",
die "prinzipiell Liebesfähigkeit, Offenheit, ein An-Sich-Heranlassen
anderer Menschen" (ebd., S. 94) voraussetzt. Der Fanatiker
hat seine innere Leere, Depression und Verzweiflung "in einer
völligen Unterwerfung unter das Idol und in der gleichzeitigen
Vergottung seines eigenen Ich ertränkt, das er zu einem Bestandteil
des Idols gemacht hat" . [...] Theoretisch gesprochen ist
der Fanatiker eine stark narzißtische Persönlichkeit"
(Fromm 1961, S. 61).
Mit der Abtötung seiner Empathie, seiner mitmenschlichen
Sympathie und seiner libidinösen Bindungen an seine nächsten
Angehörigen hat der Fanatiker sich vor allem seiner eigenen
Gefühle, die er als die bedrohlichste aller Gefahren fürchtet,
entledigt. Der Fanatiker empfindet eine panische Angst vor allen
Gefühlen, vor den "unangenehmen" Gefühlen
der Reue, der Schuld, der Scham ebenso wie vor den "angenehmen"
Gefühlen der Liebe, der Dankbarkeit, des Berührt- und
des Gerührtseins, des Zusammengehörigkeitsgefühls.
Es handelt sich um eine grundlegende Angst vor der eigenen emotionalen
Innenwelt, vor der Tiefe des Gefühlslebens. Sich dieser Welt
zu öffnen, bedeutet, sich eine Blöße geben, sich
berührbar und damit verwundbar zu machen. Insbesondere ist
die Liebe überaus gefährlich, da sie immer mit einer
Art Selbstverlust, einer Selbstpreisgabe an den anderen, einer
Selbsthingabe, einer Auflockerung der Ich-Grenzen, einem Aufgeben
von Machtansprüchen und einer emotionalen Abhängigkeit
vom geliebten Objekt einhergeht. "Der Fanatismus ist stets
das Resultat der Unfähigkeit zu echter Bezogenheit"
(ebd.). Die Abhängigkeit vom anderen und das Ausgeliefertsein
an die Eigendynamik der Gefühle wird als die Gefahr schlechthin
empfunden. Du sollst keine Gefühle zeigen! Du sollst keine
Gefühle haben! Du darfst dich nicht berühren lassen!
Du darfst dich keinen Liebesgefühlen hingeben! Du darfst
einzig und allein auf die reine Lehre, deine eigene Macht und
die Macht deines Führers und deiner Organisation bauen! Du
darfst nur den Führer und die heilige Lehre lieben! - so
könnte das Motto des Fanatikers lauten.
Diese These wird auch nicht durch die Tatsache widerlegt, dass
einige der Terroristen in Deutschland als unauffällige Studenten
lebten und zumindest der Terrorist Mohamed Atta eine Freundin
hatte, die ihn bei der Polizei als vermisst meldete. Bezeichnend
ist jedoch, dass er bereit war, seine Freundin ohne ein Wort des
Abschieds zu verlassen und zu seiner tödlichen Mission aufzubrechen,
von der er wusste, dass sie mit seinem eigenen Tod enden würde.
Es kennzeichnet Fanatiker vom Schlage Attas, dass sie nicht nachempfinden
können, "wie andere Menschen unter ihrem Verhalten und
dessen Folgen leiden. Ungerührt ist es ihnen so möglich
Leid und Schmerz zuzufügen oder in Kauf zu nehmen, ethisch
gerechtfertigt und geboten durch die Beglückungsideologie
des fanatischen Systems" (ebd., S. 94).
Am Tag der Anschläge auf das World-Trade-Center wurde am
Bostoner Flughafen das nicht rechtzeitig umgeladene Gepäck
des Terrorpiloten Muhamed Atta gefunden (vgl. Der Spiegel 40/2001,
S. 32-33). Es enthielt u. a. das Testament des Selbstmordattentäters,
ein psychologisch aufschlussreiches Dokument, das Attas innere
Welt offenbart. Von den 18 Punkten seines Testaments beschäftigen
sich allein drei mit seiner Angst vor der Unreinheit der Frauen:
"5. Weder schwangere Frauen noch unreine Personen sollen
von mir Abschied nehmen - das lehne ich ab.
6. Frauen sollen nicht für meinen Tod Abbitte leisten. [...]
11. Frauen sollen weder bei der Beerdigung zugegen sein noch irgendwann
später sich an meinem Grab einfinden" (ebd.).
Die Angst vor der Frau - speziell der emanzipierten, der selbstbewussten,
der sexuell aktiven Frau - ist nicht nur ein individuelles Merkmal
von Atta, sondern ein in der islamischen Welt weit verbreitetes
Phänomen. Der Narzissmus der islamischen Männer erfuhr
in der traditionell patriarchalisch orientierten Kultur des Islam
eine enorme Aufblähung durch die Überhöhung der
Männer und die Abwertung der Frauen. Unter dem Einfluss des
Westens und seiner egalitären Orientierung fühlen sich
viele männliche Muslime in ihrem Selbstwertgefühl gekränkt
und suchen Halt im islamistischen Fundamentalismus, der ihnen
Selbstbestätigung durch die Erhebung über die Frau und
deren Erniedrigung verspricht, so wie dies im System der Taliban
besonders drastisch deutlich wird. Lloyd (2002 a; 2002b) hat die
These aufgestellt, dass die extreme soziale Isolation, Unterdrückung,
Erniedrigung und körperliche Misshandlung der Frauen, die
in vielen islamischen Ländern die gesellschaftliche Norm
darstellt, als indirekte psychische Ursache des Terrorismus anzusehen
ist. Die durch die Klitoris-Beschneidungen, Vergewaltigungen,
Schläge und andere körperliche Misshandlungen traumatisierten
Frauen geben ihr eigenes Trauma an ihre Kinder weiter. Sie leiden
selbst unter Depressionen, selbstverletzendem Verhalten und anderen
posttraumatischen Belastungsstörungen und fügen nun
ihren Kindern - nicht nur, aber gerade auch den Jungen - die Erniedrigungen
zu und versetzen sie in die panischen Ängste, unter denen
sie selbst gelitten haben. Die auf diese Weise traumatisierten
und mit (sexuellen) Ängsten befrachteten Jungen entwickeln
ein von Verschmelzungsangst und Verschmelzungssehnsucht, von Verachtung
und Hass geprägtes Frauenbild und flüchten - sobald
sie alt genung sind - in die Welt der Männer, die von der
der Frauen streng getrennt ist. Der Kreis schließet sich,
wenn die Männer - um ihre eigene Identität zu stabilisieren
- ihre Frauen entwerten und demütigen, so wie sie von ihren
traumatisierten Müttern entwertet und gedemütigt worden
sind. Aus Angst vor der als sadistisch phantasierten Frau (= Mutter)
werden kleine Jungen häufig von erwachsenen Männern
sexuell missbraucht, um den sexuellen Kontakt mit den gefürchteten
und zugleich verachteten Frauen zu vermeiden (deMause 2002a, S.
42). Wie sich auch in der Biographie von Osama bin Laden zeigen
lässt, wurden die sexuellen Freiheiten, die mit den Öl-Dollars
und der westlichen Kultur in einige der arabischen Länder
schwappten, von vielen fundamentalistischen Männern zunächst
als grosse Versuchung begrüsst. In einem zweiten Schritt
reagierten viele aber mit Schuldgefühlen und einer panischen
Angst vor der Rache der verinnerlichten bösen Mutter-Imago.
Die westliche Zivilisation wurde zum Repräsentanten für
das eigene "böse Selbst" und musste mit allen Mitten
bekämpft werden (vgl. ebd., S. 43). Es ist kein Zufall, dass
in den Rechtfertigungen und Anschuldigungen der Terroristen die
sexuellen Freizügigkeiten des Westens regelmäßig
eine hervorragende Rolle spielen.
Die Angst vor der Verschmelzung mit der Frau und die "Entstehung
des Panzers gegen die Frau" hat Klaus Theweleit (1977; 1978)
eingehend für den Typus des "soldatischen Mannes"
beschrieben. In seiner psychoanalytisch-psychohistorischen Analyse
zeigt er auf, welche psychische und psychosomatische Funktion
der militärische Kampf für das Ich und für den
Körper des soldatischen Mannes hat: Einerseits führt
der militärische Drill zur Erzeugung eines "stählernen
Leibes", einer "Körpermaschine", einer Ernst
Jünger'schen "Stahlgestalt" (Theweleit 1978, S.
185), andererseits wird "der Moment der Sprengung des Körperpanzers,
des Verschwindens des starren Körper-Ichs [...] ja ersehnt"
(ebd., S. 208):
"Kaltes Metall sein, keine Gefühle haben
und doch zuckend in die Leiber einschlagen - Machtrausch, Grenzüberschreitung.
[...] Mit allen Mitteln suchen die angreifenden soldatischen Männer
den Übergang, den Ausbruch aus sich selbst. Am intensivsten
ist die Erwartung der Sensation, wenn sie schließlich selbst
die Bewegung der Kugel übernehmen und als Geschosse aus der
Militärmaschine auf die gesuchten Leiber zurasen. Die Beschwörung
der eigenen Geschwindigkeit, die nirgends fehlt, ist notwendig,
um die Ausbrüche, die Durchbrüche, das Ankommen beim
Körper des Feindes, das Einschlagen in diesen plausibel zu
machen. [...] Der Durchbruch erfolgt nicht zu einem Zustand intensiver
Lust, sondern zu einem Zustand intensiver Selbstbeobachtung. Vor
allem dazu brauchen sie ihr eisklares Hirn: daß
ihm nicht entgeht, was am eigenen Leib geschieht. Und geschehen
darf an diesem Leib nur etwas, wenn er tötet oder wenn er
stirbt. Eiskaltes Denken - Wahrnehmung des eigenen Leibes in der
Erwartung des Tötungsaktes oder des eigenen Todes. (Ich töte,
also bin ich. Ich sterbe, also war ich.)" (ebd., S. 209-223).
Theweleits
Ausführungen lassen sich auch lesen als mögliche Interpretation
der psychischen Vorgänge, die sich bei den Terrorpiloten
abgespielt haben könnten, allerdings mit der Einschränkung,
dass wir über das, was diese Menschen während ihres
Todesfluges empfunden haben, kaum etwas sicher wissen. Die Analogie
mit Theweleits "soldatischen Männern" bleibt gleichwohl
frappierend. Wie Hole (1995) schreibt, zeichnet sich der Fanatiker
durch eine "Erstarrung und Rigidität im affektiven Bereich"
(ebd., S. 93) aus, die durch "eine gestörte Beziehung
zum eigenen Körper" - ja eine "ausgeprägte
Körperfeindlichkeit" (ebd.) - ergänzt wird. Körperfeindlichkeit,
Reinheitsideale, das Streben nach vollständiger Vergeistigung,
die Entwertung der realen Existenz, die überwertige Idee
vom Jenseits, der Wunsch, das eigene Leben vollständig einer
illusionären Idee zu weihen und schließlich sogar zu
opfern, bilden ein Syndrom, das Fanatismen aller Couleur eigen
ist.
Auch in dieser Hinsicht weist Attas Testament Übereinstimmungen
mit dem von Theweleit beschriebenen Typus des soldatischen Mannes
auf: Der Reinheitskult der Nationalsozialisten, die die "Reinheit
der arischen Rasse" und die "Reinheit des Blutes"
auf ihre Fahnen schrieben, findet seine Entsprechung im Reinheitsideal
der islamistischen Fanatiker. Atta schreibt unter Punkt neun seines
Testaments:
"9. Derjenige, der meinen Körper rund um meine Genitalien
wäscht, sollte Handschuhe tragen, damit ich dort nicht berührt
werde" (Der Spiegel 40/2001, S. 32).
Und in dem Leitfaden für das Verhalten von Selbstmordattentätern
"am Abend bevor du deine Tat verübst" (Der Spiegel
40/2001, S. 38), der ebenfalls in Attas Gepäck gefunden wurde,
heißt es:
"Du sollst rezitieren, dass du für Gott stirbst. Rasiere
das gesamte überflüssige Haar von deinem Körper,
parfümiere deinen Körper und wasche deinen Körper.
[...] Reinige dein Herz von allen schlechten Gefühlen, die
du hast, und vergiss alles über dein weltliches Leben"
(ebd., S. 38).
Die Angst vor dem Tod, die Angst vor der Ungeheuerlichkeit des
geplanten Verbrechens wird auf die Angst vor dem eigenen Körper
verschoben und dort durch Reinlichkeits-Rituale gebannt. Mit Hilfe
der rituellen Handlungen wird nicht nur die gesamte Sphäre
der Körperlichkeit, sondern auch das gesamte "weltliche
Leben" entwirklicht. Mit der peniblen Reinigung des Körpers
soll auch das "Herz von allen schlechten Gefühlen",
d. h. von Liebesgefühlen, Mitleid, mitmenschlicher Sympathie,
Schuldgefühlen, Gewissensängsten, Todesängsten,
Schamgefühlen usw. gereinigt und die Monstrosität des
geplanten Massenmordes derealisiert werden. Was schlechterdings
unvorstellbar erscheint, wird durch die emotionale Derealisation
und Entwirklichung zu einem minuziös planbaren Unternehmen.
Grunberger (1984) hat die Reinheit als ein narzisstisches Ideal
beschrieben, das durch die Verleugnung von Triebhaftigkeit, ja
die Aufhebung von Körperlichkeit schlechthin, den Zustand
narzisstischer Vollkommenheit zu erlangen sucht. Grunberger definiert
Reinheit als "an absolute and autonomous narcissistic ideal
ein
"narzisstisches Ideal von Allmacht und absoluter Souveränität
[...], aus dem die Triebdimension völlig ausgeschlossen wird"
(ebd., S. 114). Reinheit ist "jedes fleischlichen Elementes
entkleidet" (ebd., S. 116); sie ist "triebleer",
gefühlsleer, sogar "materieleer" (ebd.). Indem
der Fanatiker die Reinheit zum Ideal erhebt, entfernt er sich
von der realen Welt, zu der immer auch der Schmutz, das Unreine,
die Exkremente als Teil des Lebens gehören und weiht sein
Dasein einer illusionären reinen Heiligkeit. Um sein Reinheitsideal
zu verwirklichen, findet eine Projektion der "nicht in das
Selbst integrierten Analität" (Grunberger, Dessuant
1997, S. 272) auf die als unrein phantasierten Außenfeinde
statt. In Kriegen, speziell denen, die als "heilige Kriege"
("Dschihad") bezeichnet werden, sollen das absolut Schmutzige,
das Böse, die Ungläubigen vernichtet und im Namen eines
"Narzißmus der Reinheit" (ebd.) aus der Welt verbannt
werden. Das "Doppelgespann Terror und Reinheit" (Grunberger
1984, S. 119) findet sich bei Robespierre ebenso wie bei den Christen
der Kreuzzüge, in Hitlers Rassenlehre und seinem Antisemitismus
und schließlich auch bei den islamistischen Fanatikern.
Konsequenterweise verfügte der Terrorist Atta unter Punkt
drei seines Testamentes das Verbot, über seinen Tod zu trauern:
"Niemand soll meinetwegen weinen, schreien oder gar seine
Kleider zerreißen und sein Gesicht schlagen - das sind törichte
Gesten."
Das Trauerverbot gilt nicht nur für ihn selbst, sondern soll
auch für alle anderen gelten. Es liegt hier eine Panzerung
gegen die eigene Gefühlswelt vor und gegen die Gefühle
anderer Menschen, sowohl gegen diejenigen, die ihm nahe stehen
und erst recht gegen seine Opfer. Diese seelische Verfassung basiert
auf einer kühlen Fassade der Unempfindlichkeit, der Ablehnung,
des Hasses und der Verachtung durch die Errichtung der narzisstischen
Gegenideale der Macht, der Kontrolle, der Reinheit, der Gefühllosigkeit
(vgl. Wurmser 1989). Angebetet wird die Macht als ein Wert an
sich. Der Terrorist unterwirft sich der absoluten Macht seiner
Gemeinschaft und erlebt dadurch, dass die Terror-Organisation
ihn für einen Selbstmord-Anschlag auswählt, eine narzisstische
Gratifikation, eine ungeheure Erhöhung seines Grandiositätsgefühls.
Das grandiose Selbst des Terroristen, der für die Aufgabe
auserwählt wird, die Rolle des heiligen Kriegers zu übernehmen,
erlebt dies wie eine Seligsprechung. Es kommt zu einer Verschmelzung
von Ich und Ich-Ideal, zu einem Aufgehen des Selbst im grandiosen
Selbst, das als unsterblich phantasiert wird, weshalb der eigene
reale Tod nicht als Bedrohung, sondern sogar als Erlösung
erlebt werden kann. Das mit Hass erfüllte Ressentiment gegen
den Feind bildet das psychische Gerüst der paranoid-narzisstischen
Charakter-Abwehr, die sich gegen humanitäre Ideale, gegen
libidinöse Regungen, gegen Gefühle der Trauer und gegen
die Wahrnehmung des Seelenlebens an sich richtet.
Selbstmord-Attentäter stellen sich zur Verfügung. Sie
geben sich selber auf und werden zum willenlosen Instrument der
Gruppe, für die sie kämpfen. Als solches sind sie sogar
bereit, ihr eigenes Leben zu opfern. Gleichwohl sind sie nicht
gewissenlos, sondern haben ein starres, übermächtiges,
ein fanatisches Gewissen. Sie haben von sich die Auffassung, für
eine gute und gerechte Sache zu kämpfen. Ihr Gewissen gibt
ihnen den Auftrag, für ihren fanatischen Glauben zu sterben
(vgl. Hilgers 2001a; 2001b).
"Den anderen mag die von einem solchen Ideal bestimmte Persönlichkeit
gewissenlos erscheinen. In Wirklichkeit handelt es
sich aber um eine Art rücksichtsloser innerer Autorität,
eine innere Henkerfigur, die ausschließlich nach dem Maßstab
von Macht und Ohnmacht, Reinheit und Unreinheit, Willensbehauptung
und Schwäche urteilt, und zwar das eigene Selbst wie alle
anderen. Es ist ein grausames kategorisches Gewissen - ein anal-sadistisches,
prä-ödipales Über-Ich -, in dem gleichsam die ganze
Traumatisierung einer bösen Vergangenheit haust und weiterwirkt"
(Wurmser 1989, S. 157f).
Aber vor allem werden Fanatiker von ihrem Ich-Ideal gesteuert.
Ihr Ich-Ideal ist vollständig bestimmt von der fundamentalistischen
Ideologie, der sie ihr Leben geweiht haben. So wähnen Islamisten
im Gesetz des Koran das absolut Gute und im Lebensstil der westlichen
Kultur das absolut Böse verkörpert, das es mit allen
Mittels zu bekämpfen gilt. Ziel ist es, dem Feind möglichst
viel Schaden zuzufügen und ihn symbolisch zu verletzten,
zu beschädigen, zu erniedrigen. Gelingt dies, erfüllt
sich das Ziel der Gruppe. Das eigene Ideal und das Gruppen-Ideal
sind in diesem Moment in höchster Übereinstimmung. Und
als Lohn für seine Selbstaufopferung winkt dem Attentäter,
der sein eigenes Leben opfert, ein Platz im Jenseits.
"Es ist das Ideal vom Menschen, der völlig für
die Macht lebt, von jemandem, der niemals von Gefühlen berührt
werden kann, sich nie eine Schwäche gibt und sich aller anderen
Menschen lediglich als Mittel zum Zweck seiner eigenen Machtbehauptung
bedient, ein Mann der Kälte und der berufsmäßig
ausgeübten Grausamkeit, der weder Treue noch Liebe zeigt.
Es ist der Typus des Berufskriegers und Massenmörders. [...]
In der psychoanalytischen Terminologie ist es ein rein narzißtisches
Ideal - eine Idealgestalt, die eben sowohl der Liebe wie jeder
anderen Form der Schwäche diametral entgegengesetzt
sein will" (Wurmser 1989, S. 157).
Der Fanatiker entwickelt ein narzisstisch übersteigertes
Selbstbild, so als wollte er sagen: "Ich bin etwas ganz Besonderes,
Ungewöhnliches, Einzigartiges. Ich bin eine Lichtgestalt,
ein Erlöser. Ich bin mit einer unermesslichen Machtfülle
ausgestattet. Die Menschen sollen mich nicht lieben, sondern bewundern
oder noch besser mich fürchten. Ich gebe mir keine Blöße,
ich zeige keinerlei Gefühl noch Schwäche. Deshalb bin
ich auf niemanden angewiesen. Ich habe alles unter Kontrolle und
vertraue auf nichts und niemanden außer auf die allein selig
machende Idee, der ich mich mit Haut und Haaren verpflichtet habe.
Auch wenn ich selbst ein Nichts bin, so bin ich doch Teil einer
größeren, göttlichen Macht und kann mich somit
auch grandios fühlen."
Kohut (1973, p 635) verweist darauf, dass
"human aggression is most dangerous when it is attached to
the two great absolutarian constellations: the grandiose self
and the archaic omnipotent object."
"die menschliche Aggression [...] dann am gefährlichsten
[ist], wenn sie an die zwei großen absolutistischen psychologischen
Konstellationen geknüpft ist: das grandiose Selbst und das
archaische allmächtige Objekt." Wenn das grandiose Selbst
in seinem Größenwahn und Fanatismus noch durch die
Zustimmung eines archaischen allmächtigen Objektes abgesichert
und unterstützt wird, geht jeder Selbstzweifel endgültig
verloren. Deshalb begegnet man ...
"And
the most gruesome human destructivness is encountered, not in
the form of wild, regressive, and primitive behavior, but in the
form of orderly organized activities in which the perpetrators'
destructivness is alloyed with absolute conviction about their
greatness and with their devotion to archaic omnipotent figures"
(p 635).
... "der grauenhaftesten Zerstörungsgewalt des Menschen
[...] nicht in der Form wilden regressiven und primitiven Verhaltens,
sondern in Form ordnungsgemäßer organisierter Handlungen,
bei denen die zerstörerische Aggression des Täters mit
der absolutistischen Überzeugung von seiner Hingabe an archaische
allmächtige Figuren verschmolzen ist" (ebd.).
Die narzisstische Wut zeichnet sich von anderen Formen der Aggression
dadurch aus, dass bei ihr die Rachsucht, der unerbittliche innere
Zwang, ein erlittenes Unrecht, das als narzisstische Kränkung
und Scham erfahren wurde, eine hervorragende Rolle spielt. Es
besteht ein "grenzenloser Wunsch nach Abrechnung mit dem
Beleidiger" (ebd., S. 536f) und die Denkfunktion gerät
"völlig unter die Herrschaft [...] des überwertigen
Dranges" (ebd., S. 537).
In der islamischen Welt hat sich in den letzten Jahrzehnten das
Gefühl aufgebaut, vom Westen, speziell von Amerika, erniedrigt
und gedemütigt worden zu sein. Ursächliche Bedeutung
hat die rücksichtslose Großmachtpolitik der USA, die
sich gegenüber anderen Staaten als Hüter der Menschenrechte
aufspielen, sich aber gleichwohl nicht scheuen, diktatorische
Herrscher und korrupte Regime zu unterstützen, wenn es ihren
eigenen Interessen dient. Gleichzeitig musste die islamische Welt
erfahren, dass ihre Gesellschaften und ihre Kultur im Rahmen der
Globalisierung nicht nur der ökonomisch-militärischen
Übermacht der Amerikaner ausgeliefert sind, sondern noch
viel mehr der wirtschaftlich-kulturellen Hegemonie des amerikanischen
Way of life, der die überlieferten islamischen Traditionen
und Wertvorstellungen untergräbt. Für die Islamisten
stellt der Fundamentalismus ein ideologisches Bollwerk gegen die
kulturellen Einflüsse der weltweiten Amerikanisierung dar.
Er richtet sich gegen den Westen, aber auch gegen die pro-westlichen
Gruppen und Regierungen in den islamischen Ländern selbst.
Bei den Gruppierungen innerhalb der islamischen Welt, die diese
narzisstische Kränkung besonders intensiv erleben, haben
die Demütigungen eine kollektive narzisstische Wut entfacht,
die in ihrer extremen Ausprägung sogar eine Form annehmen
kann, die Hans Magnus Enzensberger (in der FAZ vom 18. 9. 2001)
als "Stolz auf den eigenen Untergang" bezeichnet hat.
Wie Altmeyer (2001, S. 13) betont, hat Enzensberger damit auf
die narzisstischen Wurzeln dieser mörderischen und selbstmörderischen
Destruktivität verwiesen:
"Vor der Selbstvernichtung steht die expansive Vorstellung
von der eigenen Größe: Die Welt soll endlich anerkennen,
wie großartig die eigene Ideologie, die eigene Religion,
die eigene Kultur, die eigene Rasse sind, wie grandios das individuelle
oder Kollektivselbst ist - wehe, wenn sie das nicht tut. Und sie
soll die narzisstisch aufgeblähte Grandiosität umso
dringender würdigen, je mehr eigene Zweifel daran sich bereits
gebildet haben. [...] Aus dieser verhängnisvollen Mischung
aus Selbstzweifel, Kränkung und kompensatorischem Größenwahn
ergibt sich nicht bloß die obsessive Vision vom Gottesstaat.
Sie speist auch jene fatale Entwicklung, die in den mörderischen
und selbstmörderischen Terrorismus führt. Es ist so
etwas wie eine in gigantische Dimensionen gesteigerte kollektive
narzisstische Wut, die wir in den terroristischen Manifestationen
des Bösen erleben."
Menschen, deren gesamtes Leben durch den Einfluss von Gewalt und
Hass geprägt wurde, neigen zu der Annahme, dass die gesamte
Welt nach dem Muster der Opfer-Täter-Beziehung strukturiert
ist und dass es daher vorteilhafter sei, lieber ein Täter
als ein Opfer zu sein. Wie aus den Biographien von Kriminellen,
die wegen Gewaltverbrechen verurteilt wurden, bekannt ist, waren
diese in ihrer Kindheit und Jugend häufig selbst Opfer von
körperlichen Misshandlungen und sexuellem Missbrauch. Wir
wissen einiges über die Selbstmordattentäter unter den
Palästinensern. Vor allem die Jugendlichen, die sich für
die Selbstmordattentate zur Verfügung stellen, sind von Kindesbeinen
an einer permanenten Traumatisierung ausgesetzt. Sie erfahren
ihr ganzes Leben lang extreme Formen von Gewalt, Ohnmacht, Hilflosigkeit
und Hoffnungslosigkeit. Das hat sie abstumpfen lassen. Da nicht
nur viele Einzelne traumatisiert sind, sondern die kollektive
Identität der Gruppe eine kollektive Traumatisierung erfahren
hat, verfällt nicht nur der Einzelne dem Fanatismus, sondern
der Fanatismus prägt auch die kollektive Identitätsentwicklung
der kulturellen Großgruppe. Wenn die späteren Fanatiker
nicht schon als Kinder in die terroristische Sekte aufgenommen
wurden, bildet die Phase der Adoleszenz besonders gute Voraussetzungen,
um eine solche terroristische "Karriere" (Bittner 2001,
S. 59) zu beginnen, da der Jugendliche sich aus den familiären
Bindungen lösen muss und bei seiner Suche nach neuen kulturellen
Idealen und Werten besonders empfänglich ist für die
Orientierungsangebote, die ihm radikalisierte Gruppierungen machen.
Die virtuelle Biographie eines Fanatikers, den die Großgruppe
als ihren mythischen Helden feiert, dient den Adoleszenten als
identitätsstiftende Musterbiographie, die ihnen bei der Orientierung
behilflich ist. Zugleich gelingt es ihnen durch die Identifikation
mit solchen kulturell vorgegebenen Heldengestalten, den notwendigen
Anschluss ihrer persönlichen an die soziale und kulturelle
Identität zu vollziehen.
Ihnen wird eine Gruppenidentität vermittelt, die den Fanatismus
zu einem zentralen Element macht. Dass sie selbst, ihre Familien
und ihre Leidensgenossen unablässig Opfer und Zeugen von
Gewalt werden, können sie nicht verhindern. Aber sie können
die Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit
abwehren durch Gegengewalt, durch Fanatismus und durch den festen
Glauben an ein ewiges Leben im Jenseits und an den narzisstischen
Ruhm, sich für das Kollektiv geopfert zu haben. Der Fanatismus
erscheint ihnen in dieser Situation als letzter Rettungsanker.
Wie armselig, elend und aussichtslos das eigene Leben auch immer
sein mag, die unbedingte Identifikation mit den Idealen der Gruppe
entschädigt den Einzelnen für seine Schmach. Der "Gruppennarzißmus"
(Fromm 1964, S. 199-223; 1973, S. 179-184) stellt eine wichtige
Stütze für das Selbstwertgefühl des Individuums
dar und kann im Falle kollektiver Kränkungen zur Quelle von
Aggression und Fanatismus werden.
Einige der heutigen islamistischen Terroristen und Al Qaida-Kämpfer
sind möglicherweise bereits als Kinder in Flüchtlingslagern
traumatisiert und dort von verschiedenen Geheimdiensten rekrutiert
und in speziellen Koranschulen und Ausbildungscamps großgezogen
und ausgebildet worden. Andere werden erst als Jugendliche "zwischen
18 und 28 Jahren, ledig, keine Kinder, ohne familiäre Verpflichtungen"
(Hirschmann 2001, S. 12) von den Terror-Organisationen angeworben
und in Ausbildungscamps geschult und indoktriniert. "Es ist
ein offenes Geheimnis", dass es sogar "in Gaza und im
Westjordenland Orte gibt, an denen junge Palästinenser von
Lehrern in der Disziplin des Selbstmordattentats unterrichtet
werden" (Schirra 2001, S. 15). In der klösterlichen
Abgeschiedenheit solcher Camps bietet sich die Gemeinschaft als
Familienersatz und ihre fanatischen Führer als Eltern-Ersatz-Figuren
an, sodass die Kinder und Jugendlichen eine intensive emotionale
und intellektuelle Abhängigkeit entwickeln, die sie empfänglich
macht für den Fanatismus. Diese Kindersoldaten werden mit
einer fundamentalistisch reduzierten Form des Islam geimpft und
auf ihre Mission programmiert. Mithilfe methodischer Indoktrination
werden Fanatiker herangezogen, die Teil einer Sekte sind, aus
der sie weder aussteigen wollen noch können (vgl. Lachkar
2002). Auf der einen Seite wirkt die Ehre, für die heilige
Mission des Opfertodes auserwählt zu sein, als eine ungeheure
narzisstische Gratifikation, auf der anderen Seite droht jedem
Aspiranten, den Zweifel und Ängste befallen, die Schmach
und Verachtung der Gruppe und des Führers - oder Schlimmeres.
Alle der meist jugendlichen palästinensischen Selbstmordattentäter
("Schahid"), die sich selbst in die Luft gesprengt haben,
werden verehrt als "Gefallene Gottes" (ebd., S. 16).
"Das palästinensische Fernsehen sendet Werbespots, über
unsere toten Helden, und die Zeitungen bejubeln den
Befreiungskampf für Palästina. Die Bilder
der Toten, blutrot, beinahe kitschig, sie werden zusammengefügt
zu einer Galerie des Todes" (ebd.). Während dem heiligen
Krieger, der sein Leben für die Sekten-Ideologie opfert,
versprochen wird, er komme sofort in den Himmel, werden Verräter
mit dem unehrenhaften Tod bedroht. Im Laufe des Rekrutierungsprozesses
werden die künftigen Selbstmord-Attentäter systematisch
extremen psychischen und körperlichen Belastungen ausgesetzt,
die an Methoden der Gehirnwäsche, der Folter und der "künstlichen"
Traumatisierung erinnern. So berichtet der Palästinenser
Eyad Saradsch, der in Gaza ein psychiatrisches Zentrum leitet,
die Kandidaten "müssten tagelang schweigend und völlig
isoliert in einem Raum sitzen oder 48 Stunden unter der Erde,
in einem Grab, neben einer Leiche verbringen" (zit. n. Luczak
2001, S. 89). Unter solchen Extrembelastungen kommt es zu einer
Retraumatisierung, die mit intensiven Gefühlen der Angst,
der Scham, der narzisstischen Entwertung, der Hilflosigkeit und
Ohnmacht verbunden ist. Als Ausweg bietet sich nun die vorbehaltlose
Identifikation mit der Gruppe, dem Führer und der Gruppen-Ideologie
an. Ergebnis ist ein fanatischer Anhänger, ein heiliger Krieger,
der alles "Gute" ausschließlich in der Sekten-Ideologie
finden kann und alles "Böse" und Hassenswerte auf
den Feind abgespalten hat.
Diese Dynamik gilt besonders für die Menschen, die bereits
seit mehreren Generationen unter erbärmlichen Umständen
in Flüchtlingslagern leben und durch die tagtägliche
Präsenz von Gewalt traumatisiert sind. Doch die Attentäter
von New York und Washington waren keine Palästinenser, sondern
gut ausgebildete Studenten, u. a. aus den Vereinigten Arabischen
Emiraten. Osama bin Laden stammt aus Saudi Arabien, einem der
reichsten Länder der Welt.
Wie Kernberg (2002) ausdrücklich betont, wirkt nicht nur
die Gewalt, die man am eigenen Leibe erlebt, traumatisierend,
sondern auch die Gewaltakte, deren Zeuge man wird. Wird jemand
gezwungen, hilf- und tatenlos zuzuschauen, wie einem anderen nahe
stehenden Menschen Gewalt, Unrecht und Erniedrigung angetan wird,
so kann dies ebenfalls als Trauma erfahren werden. Solche Formen
des Terrors wurden beispielsweise während der ethnischen
Säuberungsaktionen der Serben im Kosovo bekannt, wenn Männer
zusehen mussten, wie ihre Frauen vor ihren Augen vergewaltigt
wurden oder Frauen gezwungen wurden zuzuschauen, wie ihre Männer
ermordet wurden. Analoge Prozesse spielen sich seit Jahrzehnten
im nahen Osten in Bezug auf die Palästinenser ab. Die Araber
und die Muslime in den arabischen Ländern fühlen sich
durch ihre kollektive Identität mit dem Leiden des palästinensischen
Volkes verbunden. Sie sympathisieren (= mitleiden) mit den Palästinensern
und haben einen kollektiven Hass auf Israel und Amerika und z.
T. auch auf die westliche Welt insgesamt entwickelt. Aufgrund
ihrer ausgeprägten kollektiven Identität empfinden sich
viele Muslime "als Gesamtheit traumatisiert - selbst wenn
sie aus gutbürgerlichen Kreisen des relativ gemäßigten
Ägypten stammen, wie Muhamed Atta" (Luczak 2001, S.
86). Einzelne Individuen können gerade aufgrund ihrer privilegierten
Stellung eine besonders intensive Verpflichtung empfinden, die
Palästinenser in ihrem Kampf gegen Israel und seinen großen
Beschützer Amerika zu unterstützen. Es ist sogar denkbar,
dass die terroristische Laufbahn im Einzelfall mit einem echten
menschlichen Verantwortungs- und Verbundenheitsgefühl beginnt
und sich erst im Laufe der Jahre zu einem fanatischen Hass entwickelt.
Auch die deutschen Terroristen der Rote Armee Fraktio (RAF), die
in den siebziger Jahren in Deutschland mit Terroanschlägen
auf symbolische Repräsemtanten des Staates und des kapitalistischen
Wirtschaftssystems ausübten, waren hoch moralische motivierte
Menschen, die sich vor ihren gewalttätigen Aktionen in verschiedenen
Projekten sozial engagierten. Wie ich an anderer Stelle ausgeführt
habe (vgl. Wirth 2001; 2002) ausgeführt habe, waren die RAF-Terroristen
"unbewusste Delegierte" (Stierlin 1978) ihrer Eltern
und der Eltern-Generation. In gewisser Weise handelten sie nicht
aus freien Stücken, sondern im unbewussten Auftrag der Eltern,
sie waren eingebunden in einen transgenerationalen Konflikt. Sie
holten - allerdings am falschen Objekt und zur falschen Zeit -
den Widerstand gegen ein Terror-Regime nach, den die Elterngeneration
in der Zeit des Nationalsozialismus versäumt hatte.
Die islamischen Terroristen, die in den heiligen Krieg ziehen,
sind häufig in einen ähnlichen Generationszusammenhang
eingebunden, der darin besteht, dass die privilegierten und wohlhabenden
arabischen Familien einerseits in einem kaum vorstellbaren Öl-Reichtum
leben und den Luxus der westlichen Industriegesellschaft genießen,
andererseits aber ideologisch den Hass auf den Westen und die
Solidarität mit dem palästinensischen Volk vertreten.
Diese Doppel-Moral stellt einen schwerwiegenden Konflikt in der
Auseinandersetzung zwischen den Generationen dar, der so aufgelöst
wird, dass die Söhne aus wirtschaftlich privilegierten Familien
teils im bewussten, teils im unbewussten Auftrag der Väter
in den heiligen Krieg ziehen, von dem die Väter nur reden
und träumen. Tatsächlich sind nach dem 11. September
viele Hinweise bekannt geworden, dass die Terrorgruppen, "Dschihadisten",
d. h. "religiös argumentierende Berufsfanatiker"
( Hirschmann 2001, S. 14) von zahlreichen islamischen Geschäftsleuten
finanziell unterstützt werden, die in Europa und in Amerika
erfolgreich ihren Geschäften nachgehen und die sich durch
diese Spenden ein reines islamisches Gewissen verschaffen. Auch
und gerade in Saudi Arabien unterstützt die herrschende königliche
Groß-Familie zahlreiche islamistische Terror-Organisationen
mit erheblichen finanziellen Mitteln, um sich auf diese Weise
teils moralisch, teils politisch frei zu kaufen.
Der
11. September 2001 als kollektives Trauma
Neben der Psychologie der Terroristen ist auch die psychische
Situation der Amerikaner, die am 11. September einer kollektiven
Traumatisierung ausgesetzt waren, von weit reichender weltpolitischer
Bedeutung. Ein Trauma ist ein Erlebnis, das von solcher Intensität
ist, dass es die seelischen Verarbeitungsmöglichkeiten überschreitet.
Mit dem Trauma gehen Gefühle von extremer Angst, häufig
Todesangst, Schrecken, Ohnmacht und totaler Hilflosigkeit einher.
Dies führt zu einem Zusammenbruch zentraler Ich-Funktionen
und zu einer basalen Erschütterung der gesamten Persönlichkeit.
Wenn dies gleichzeitig einer großen Gruppe von Menschen
widerfährt, spricht man von einem kollektiven Trauma. Ohne
Zweifel stellt die Zerstörung des World-Trade-Centers in
New York und die teilweise Zerstörung des Pentagons eine
kollektive Traumatisierung der amerikanischen Nation dar, die
das kollektive Identitätsgefühl der Amerikaner und ihren
Gruppennarzissmus zutiefst erschüttert hat. Dies betrifft
nicht nur die Menschen, die Angehörige, Freunde und Bekannte
verloren haben, sondern das Kollektiv in seiner Gesamtheit.
Die Weltmacht Amerika wurde durch den terroristischen Angriff
auf ihre Metropole und auf das Symbol ihrer wirtschaftlichen und
technischen Überlegenheit mit der Erfahrung der Verwundbarkeit,
der Endlichkeit des Lebens, der Hilflosigkeit angesichts des "Bösen"
konfrontiert. Was so gar nicht ins Weltbild und ins Selbstverständnis
Amerikas passt, wurde zur erschreckenden aber unabweisbaren Realität:
Auch die Supermacht Amerika ist verletzbar. Weder die mit modernsten
Computern ausgerüsteten Geheimdienste FBI und CIA noch die
atomaren Waffen konnten Amerika vor diesem Angriff schützen
- vom atomaren Schutzschild ganz zu schweigen. Sollte den Amerikanern
eine kollektive psychische Verarbeitung des erlittenen Traumas
nicht gelingen, besteht die Gefahr, dass sich ein post-traumatisches
Belastungs-Syndrom entwickelt, das sich als ständiges Wiedererleben
des traumatischen Ereignisses, als gedankliche Fixierung auf das
Trauma, als unkontrollierte Panikattacken und als ebenso heftige
und abrupte Aggressions-Ausbrüche gegen andere ausdrücken
könnte. Die amerikanische Gesellschaft könnte in die
Versuchung geraten, das erlittene kollektive Trauma dadurch abzuwehren,
dass sie sich auf das Trauma fixiert und es zum zentralen Bezugspunkt
der nationalen Identität macht. Als "gewähltes
Trauma" (Volkan 1999) wäre es laufend präsent und
würde eine ständige Rechtfertigung für die eigenen
paranoid-aggressiven Haltungen liefern. Amerika wäre genötigt,
unablässig den Beweis seiner militärischen Überlegenheit
anzutreten, indem es - mehr oder weniger wahllos - Feinde definiert,
aufspürt, verfolgt und vernichtet. Schließlich käme
es zur Ausbildung einer nationalistischen Ideologie, die Verfolgungs-,
Rache- und Größenphantasien zum Inhalt hat. Diese haben
die Funktion, die erlittenen narzisstischen Verletzungen des Selbstwertgefühls
wiedergutmachen und die Demütigungen durch Rache auszugleichen.
Beauftragt die Gesellschaft einen Führer damit, einen Rachefeldzug
zu organisieren, so genießt derjenige Politiker das größte
Ansehen, der am fanatischsten die paranoide Ideologie vertritt
und am heftigsten verspricht, dass er Rache als ausgleichende
Gerechtigkeit üben werde, um das erschütterte grandiose
Selbstbild wieder zu festigen.
Solche psychodynamischen Zusammenhänge hatte wohl auch Arundhati
Roy, eine der angesehensten und erfolgreichsten Schriftstellerin
Indiens, im Auge, als sie in ihrem Kommentar Terrorismus ist ein
Symptom, nicht die Krankheit Osama bin Laden und George W. Bush
miteinander verglich. Ihr Artikel erregte weltweit Aufsehen -
in den westlichen Ländern meist Empörung - und führte
in Deutschland beinahe zum Rücktritt des bekannten und beliebten
TV-Moderators Ulrich Wickert, weil dieser die Gedanken von Roy
in einem Zeitschriften-Beitrag zustimmend zitiert hatte.
Zunächst ist interessant, dass Roy (2001) zu einer psychologisch-medizinischen
Metapher greift, wenn sie "Symptom" und "Krankheit"
unterscheidet. Und dann argumentiert sie sogar explizit "familiendynamisch":
"Was ist Osama bin Laden? Er ist das amerikanische Familiengeheimnis.
Er ist der dunkle Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten.
Der brutale Zwilling alles angeblich Schönen und Zivilisierten.
Er ist aus der Rippe einer Welt gemacht, die durch die amerikanische
Außenpolitik verwüstet wurde, durch ihre Kanonenboot-Diplomatie,
ihr Atomwaffenarsenal, ihre unbekümmerte Politik der unumschränkten
Vorherrschaft. [...] Nun, da das Familiengeheimnis gelüftet
ist, werden die Zwillinge allmählich eins und sogar austauschbar.
[...] Inzwischen werden sich die beiden auch in der Sprache immer
ähnlicher. Jeder bezeichnet den anderen als Kopf einer
Schlange. Beide berufen sich auf Gott und greifen gern auf
die Erlösungsrhetorik von Gut und Böse zurück."
Der deutsche Journalist Henryk M. Broder hat im Spiegel (38/2001)
vom 15. 9. 2001, also nur vier Tage nach dem 11. September und
noch vor der Veröffentlichung von Roys Artikel, eine polemische
Attacke gegen eine Argumentation publiziert, die er als "Verharmlosung
des islamischen Terrorismus" und der "Lust am Morden"
ansieht. Seine Ausführungen lesen sich wie eine vorweggenommene
Kritik an Roy. Broder meint, viele "europäische Intellektuelle"
(ebd., S. 169) neigten dazu, den "Terror schönzureden".
Dies sei Ausdruck einer "post-liberalen und pre-suizidalen
Haltung" (ebd.):
"Wir Abendländer haben keine Probleme, den Fanatismus
von Christen und Juden zu verdammen, nur bei fanatischen Moslems
neigen wir zu einer Haltung, wie man sie normalerweise gegenüber
kleinen Kindern und erwachsenen Autisten annimmt: Sie wissen nicht
was sie tun, aber sie meinen es irgendwie gut" (ebd.).
Broder ist offenbar der Ansicht, es sei nicht notwendig und auch
nicht statthaft, sich in die Psyche der Attentäter einzufühlen
oder gar nach handgreiflichen Ursachen, Motiven und Hintergründen
des Terrorismus zu suchen:
"Samuel Huntington hatte Recht, es findet ein Kampf der Kulturen
statt. Es geht nicht um globale Gerechtigkeit, nicht um die legitimen
Rechte der Palästinenser oder eines anderen unterdrückten
Volkes, es geht um die reine Lust am Morden, die inzwischen nicht
einmal einen Vorwand braucht" (ebd.).
Abgesehen davon, dass die "Lust am Morden" auch ein
psychologisches Motiv darstellt - das, psychoanalytisch gesprochen,
einem triebpsychologischen Persönlichkeitsmodell entstammt
-, kann man Broder entgegenhalten, dass er die Bemühung um
psychologisches Verständnis für die seelische Verfassung
der Täter allzu kurzschlüssig mit einer heimlichen Sympathie
für ihre Taten gleichsetzt.
Doch auch Roy scheint sich nicht über alle Implikationen
ihrer beziehungsdynamischen Argumentation im Klaren zu sein. Wenn
man im Rahmen der von Roy benutzten familiendynamischen Metapher
bleibt, kann man gegen ihre Argumentation einwenden, dass manche
Symptome und manche Symptomträger so gefährlich sind,
dass man sie mit radikalen Methoden bekämpfen muss. Eine
beziehungs- und familiendynamische Betrachtungsweise schließt
freiheitseinschränkende Behandlungsmethoden nicht notwendig
aus. Selbst wenn man familiendynamisch herleiten kann, warum ein
jugendlicher Mörder zum Mörder wurde - und infolge der
beziehungsdynamischen Logik gewissermaßen werden "musste"
-, schließt dies nicht aus, dass er es ist, der als Täter
zur Verantwortung gezogen und hinter Schloss und Riegel gebracht
werden muss und nicht seine Eltern, auch wenn deren unbewusste
Konflikte maßgeblich dazu beigetragen haben, dass aus ihm
ein Mörder wurde. Zudem zielt ein großer Teil der Medizin
und auch der Psychotherapie primär auf die Symptome und erst
in zweiter Linie auf die Prävention zukünftiger Erkrankungen.
Speziell bei lebensbedrohlichen Symptomen konzentriert der Arzt
und Therapeut all seine Kräfte zunächst auf deren Behandlung,
Begrenzung und Bekämpfung, und erst wenn er diese eingedämmt
hat, richtet er seine Aufmerksamkeit auf präventive Maßnahmen.
So kann auch eine familiendynamische Betrachtungsweise durchaus
dazu führen, dass man einzelne Familienmitglieder mit unterschiedlichen
Methoden und in unterschiedlichen Settings getrennt behandelt.
Häufig ist bei besonders schweren Familienpathologien zunächst
eine stationäre Behandlung eines einzelnen Familienmitgliedes
- etwa einer magersüchtigen Tochter - induziert und erst
wenn eine gewisse Beruhigung der innerfamiliären Konflikte
eingetreten ist, kann als Ursachen-Behandlung und Prävention
ein im engeren Sinne familientherapeutischer Dialog beginnen.
Wie also soll man mit Fanatikern und Terroristen um-, wie gegen
sie vorgehen?
Einzelne Terroristen und Terroristen-Gruppen kann man militärisch
aufspüren und vernichten. Doch ist der Terrorismus primär
eine "kommunikative Strategie" (Waldmann 1998, S. 13),
deren Ziel die "Provokation der Macht" (ebd.) ist. Terrorismus
ist die Macht der Ohnmächtigen. Terroristen sind Fanatiker,
die zwar selbst eine kommunikative Strategie im Umgang mit ihren
Gegnern und mit der Öffentlichkeit verfolgen, und im Fall
des 11. September "die ganze Welt als Resonanzraum"
(Waldmann 2001, S. 4) benutzten, die sich selbst jedoch nicht
oder nur höchst begrenzt kommunikativ beeinflussen lassen.
Ihr Fanatismus und ihre paranoide "Festungsmentalität"
schirmt sie ab gegen Versuche der Einflussnahme. So wie sich die
"paranoide Festungsfamilie" in familientherapeutischen
behandlungen häufig als "therapieresistent" (Richter
1970, S. 224) erweist, so stoßen diplomatische Initiativen
bei fanatischen und paranoiden, politischen und religiösen
Gruppen meist an unüberwindbare Grenzen. Mit Fanatikern kann
man nicht oder nur höchst begrenzt verhandeln. Wenn man sie
bekämpft, steigert das ihre narzisstische Wut ebenso, wie
wenn man ihnen entgegenkommt oder versucht, ihre Positionen in
Verhandlungen aufzuweichen. Ihre Unfähigkeit zum Kompromiss
macht sie politikunfähig.
Im Kontakt mit Terroristen gilt es vor allem, die "Gegenübertragungsfallen"
(Kernberg 1975) zu vermeiden. Man darf sich weder verleiten lassen,
rachsüchtig und wutentbrannt zu reagieren, noch darf man
die Bösartigkeit der Terroristen unterschätzen. Auf
keinen Fall sollte man sich die Logik des eigenen Handelns von
den Terroristen aufzwingen lassen, indem man unbewusst ihr paranoides
Weltbild übernimmt und ihr aggressiv-ressentimentgeladenes
Interaktionsmuster mitagiert. Auch müssen sich die Opfer
der Gewalt davor hüten, sich mit dem Angreifer zu identifizieren.
Nehmen die Amerikaner eine solche Identifikation mit dem Aggressor
vor, gleichen sie sich dem Fanatismus der Terroristen an und werden
ebenfalls partiell zu fanatischen Hassern, die ohne Rücksicht
auf Verluste in einen Kampf gegen das Böse ziehen. Auch der
amerikanischen Regierung könnte es passieren, dass sie sich
in dieser Weise mit den Terroristen identifiziert und auf der
gleichen Ebene mit den gleichen Mitteln zurückschlägt.
Die militärischen Maßnahmen würden dann im Grunde
nicht mehr einer militärischen Logik folgen, sondern die
Funktion einer psychischen Stabilisierung übernehmen. Es
würde zurückgeschlagen, nicht weil es den "richtigen"
Gegner treffen, sondern weil das narzisstische Gefühl der
Unverwundbarkeit wieder hergestellt werden soll. Die sachlich-militärische
Funktion der militärischen Maßnahmen träte hinter
der psychologischen Bedeutung, die narzisstische Kränkung
auszugleichen, zurück.
Welche Antwort Amerika auf den Terrorismus findet, hängt
davon ab, wie die Amerikaner mit dem erlittenen Trauma umgehen.
George W. Bush nahm die Nachricht von der Katastrophe mit unbewegter
Miene auf und ließ keinerlei Irritation erkennen, ganz im
Unterschied zu Bill Clinton, der in einem Fernsehinterview direkt
nach den Angriffen regelrecht erschüttert wirkte. Die totale
Abspaltung bzw. Unterdrückung der spontanen Gefühle
ist nun gerade kein Kennzeichen einer gelingenden Trauma-Verarbeitung.
Im Gegenteil: Soll ein Trauma überwunden werden, ist es notwendig,
dass die Phase der Depression und Trauer durchlebt wird. Sie muss
zugelassen, sie darf nicht untergedrückt werden. Die Amerikaner
müssen versuchen, die Geschehnisse psychisch zu integrieren.
Es wird ein längerer Prozess der Verarbeitung notwendig sein,
der Amerika - aber auch die Weltöffentlichkeit - Wochen,
Monate, wahrscheinlich Jahre beschäftigen wird. Es muss -
auch öffentlich - über die Trauer, Verzweiflung, Wut
und diffuse Ohnmacht gesprochen werden. Bei Bush besteht die Gefahr,
dass er durch einen Bestrafungs- und Rachefeldzug versuchen könnte,
das Trauma abzuwehren.
Das World-Trade-Center steht symbolisch für die wirtschaftlich-technische
Überlegenheit Amerikas, das Pentagon für die militärische
Macht und Camp David, das ja offenbar Ziel des vierten abgestürzten
Flugzeuges war, steht als Symbol für den Friedensprozess
- offenbar das dritte symbolträchtige Hauptziel der Terroristen.
Ein Flugzeug sollte auf Camp David stürzen. Camp David sollte
als Symbol des Friedensprozesses zerstört werden, ebenso
wie das Pentagon als politisch-militärisches und die Twin-Towers
als wirtschaftliches Symbol. Bei Camp David ist das nicht gelungen.
Die Regierung könnte die Tatsache, dass Camp David von dem
geplanten Terror-Anschlag verschont geblieben ist, als Zeichen
dafür interpretieren, dass der Friedens-Prozess auch durch
diesen Terror-Anschlag nicht zerstört werden kann. Dies wäre
allerdings auch eine Selbstverpflichtung Amerikas, sich als letzte
verbliebene Weltmacht mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln
für den Frieden einzusetzen. Dies betrifft vor allem die
Spirale der Gewalt zwischen Israel und den Palästinensern.
Während Clinton sich am Ende seiner Amtszeit persönlich
bemühte, eine Einigung zu erreichen, ihm aber als scheidendem
Präsidenten wohl die Macht und Überzeugungskraft fehlte,
verkündete Bush großspurig, er werde sich mehr um die
Interessen Amerikas kümmern und zog sich aus der Vermittler-Position
zurück.
In gewisser Weise ist nicht nur New York und nicht nur Amerika
von den Terrorangriffen getroffen worden, sondern die ganze Welt.
In den Kommentaren war von einem "Angriff auf die Zivilisation"
die Rede und es wurde postuliert, nach dem 11. September sei "nichts
mehr wie vorher". Stellt der 11. September tatsächlich
eine weltpolitisch bedeutsame Zäsur dar? Oder folgten diese
Reden nur einer Rhetorik der Solidarität und einer Strategie
der Dramatisierung, um die Verbündeten Amerikas auf Linie
zu bringen und dem militärischen Vorgehen Amerikas die Unterstützung
der "Anti-Terror-Koalition" zu sichern?
In der Tat hat sich die amerikanische Regierung Zeit genommen,
ihren militärischen Feldzug gegen das terroristische Al-Qaida
Netzwerk und das Taliban-Regime in Afghanistan strategisch und
vor allem diplomatisch vorzubereiten. Jedenfalls blieb der unmittelbare
übereilte Militärschlag, den viele erwartet und befürchtet
hatten und der ein Zeichen einer unkontrollierten narzisstischen
Wutreaktion gewesen wäre, aus. Dies gab den Amerikanern,
aber auch der Weltöffentlichkeit die Gelegenheit, den Terroranschlag
in seiner gigantischen Dimension emotional auf sich wirken zu
lassen.
Aus den Reaktionen meiner Patienten meine ich ablesen zu können,
dass die emotionale Erschütterung sehr tiefgehend war und
die allermeisten Menschen stärker beeindruckte, verunsicherte
und erschütterte als jede andere Katastrophe der letzten
Jahrzehnte. Es kommt im Rahmen einer Psychotherapie nur relativ
selten vor, dass politische Ereignisse so breiten Raum einnehmen.
Wenn Patienten während der Therapiestunde über aktuelle
politische Ereignisse sprechen, tun sie das in der Regel nur,
wenn dieses Ereignis für sie persönlich sehr bedeutsam
ist. Doch es passiert nur äußerst selten, dass ein
bestimmtes politisches oder gesellschaftliches Ereignis gleichzeitig
in vielen Therapien thematisiert wird. Diese Tatsache hängt
mit dem "Reizschutz" zusammen, den die psychotherapeutische
Situation bietet und der verhindert, dass aktuelle äußere
Einflüsse die Konzentration des Patienten auf seine innere
Welt beeinträchtigen. Im Anschluss an die Reaktor-Katastrophe
von Tschernobyl gab es zwar zahlreiche Menschen, bei denen so
starke Ängste ausgelöst wurden, dass sie psychotherapeutische
Hilfe suchten (vgl. Wirth 1996), aber gleichwohl tauchte das Thema
nur in einigen der laufenden Therapien auf. Gleiches gilt auch
für den Golf-Krieg (vgl. Wirth 1990). Bei den Terror-Angriffen
vom 11. September wurde hingegen der Reizschutz der therapeutischen
Situation bei zahlreichen Patienten durchbrochen. Dies gilt natürlich
in besonderem Maße für die Menschen, die in unmittelbarer
Nähe der Katastrophe lebten. Die New Yorker Psychoanalytikerin
Irene Cairo Chiarandini (2001, S. 36) berichtet, dass sie die
Katastrophe von einer ihrer Patientinnen erfuhr:
"Es war meine dritte Stunde. Die Patientin, deren Körpersprache
im Wartezimmer mir schon sagte, dass etwas Schreckliches passiert
war, kam herein, stand in der Mitte des Büros und sagte erschüttert:
Ich wusste nicht, ob Sie wollen, dass ich komme. Mein
verdutztes Gesicht - ich registrierte langsam, dass, was immer
sie bekümmerte, mich einschloss - und meine leichte Handbewegung
zur Couch, als ich sie fragte: Warum sollte ich das nicht?,
schockierte sie, da ihr bewusst wurde, dass ich es nicht wusste
und sie es mir sagen müsste. Diese sonst redegewandte, intensive
Frau stotterte und fand keine Worte, besonders nicht die Worte
für Türme. Sie sagte, überraschend grotesk, in
einer Art funktionaler Aphasie: Terroristen in Flugzeugen
griffen sie an, die, die, wie heißen sie denn!!! Die ...
großen Gebäude!. Ich stand ihr durch die Stunde
bei.
Erst in der nächsten Sitzung hatte ich die innere Stärke,
das Offensichtliche anzusprechen, die Umkehrung der Rollen, ihr
Wunsch, mich zu beschützen, ihre Panik, dass sie nicht wusste,
ob ich fähig sein würde, ihr zu helfen."
Wahrscheinlich hatte die Patientin nicht nur panische Angst davor,
dass die Analytikerin nicht fähig sein könnte, ihr zu
helfen, sondern vor allem davor, dass sie sich nicht vorstellen
konnte, wie die Analytikerin reagieren würde: ob die Analytikerin
die Fassung verlieren würde, ob sie - die Patientin - die
Analytikerin würde stützen müssen, ob die ganze
analytische Situation sich unter dem Ansturm der äußeren
Realität auflösen würde.
Eine gleichsam umgekehrte Situation erlebte ich mit einer meiner
Patientinnen. Ich hatte in der Pause zwischen zwei Therapie-Stunden
von den Ereignissen erfahren. Als die Patientin hereinkam, bemerkte
ich nichts Ungewöhnliches an ihr und ich war mir sofort sicher,
dass sie noch nichts von dem Ereignis wusste. Ich überlegte,
es ihr zu sagen, entschied mich dann aber dafür, dies nicht
zu tun. Rückblickend betrachtet, fühle ich mich bei
dem Gedanken wohler, ich hätte es ihr mitgeteilt und wir
hätten darüber sprechen können. Aber ich fühlte
mich zu diesem Zeitpunkt noch so von dem Ereignis überrollt
und so unfähig, seine möglichen Auswirkungen intellektuell
einzuordnen und emotional zu verarbeiten, dass ich es vorzog,
mit der Patientin nicht darüber zu sprechen. In der nächsten
Stunde war es dann möglich, über die Terror-Angriffe
und ihre Auswirkungen zu sprechen.
Ich will noch kurz einige weitere typischen Reaktionen beschreiben,
die ich bei meinen Patienten beobachten konnte:
Eine Patientin, die am Abend des 11. September in die Therapiestunde
kommt, berichtet, sie habe sofort heftige Magenschmerzen bekommen,
als sie diese Nachrichten vernommen habe.
Ein Patient am nächsten Tag erzählt, er habe "am
ganzen Körper gezittert", als er von der Katastrophe
erfahren habe.
In den nächsten Tagen werden die Reaktionen noch vielgestaltiger:
Ein Patient muss sich zunächst einen Ruck geben, um die Ansicht
zu äußern, in gewisser Weise bekämen die Amerikaner
jetzt "die Quittung für ihre arrogante Politik".
Es handelt sich um einen masochistischen und aggressionsgehemmten
Patienten, dem es sonst sehr schwer fällt, seine Aggressionen
zu äußern. Unter dem Eindruck der Terroranschläge
werden seine sonst verdrängten sadistischen Impulse so stark
stimuliert, dass sie sich in dieser Meinungsäußerung
Ausdruck verschaffen, und er sich offenbar teilweise mit der sadistischen
Position der Terroristen identifiziert.
Ein 51-jähriger Patient, der von Beruf Pilot ist, zeigt sich
von der Katastrophe emotional fast gänzlich unberührt.
Er spielt die Bedeutung herunter und hält die militärische
Antwort Amerikas und das weltweite Medien-Echo für "übertrieben".
Der Patient, dessen Vater Selbstmord beging, als er zehn Jahre
alt war, fühlt sich von der Destruktivität des Terrors,
die ihn an die Destruktivität in seinem eigenen Leben erinnert,
in seiner narzisstischen Charakterabwehr so bedroht, dass er die
Dramatik der Ereignisse herunterspielen muss. Hinzu kommt, dass
seine berufliche Tätigkeit als Pilot der einzige Lebensbereich
ist, in dem er sich wirklich sicher und kompetent fühlt und
den er nun mit einer narzisstischen Verleugnung zu schützen
versucht.
Ein 43-jähriger Patient spricht eine ganze Therapiestunde
über Amerika. Er erinnert sich daran, wie er als Jugendlicher
Amerika bewunderte und idealisierte. Als er sich Jahre später
den Wunsch erfüllte, die "Stones" live in New York
zu hören, sei er einerseits ernüchtert und abgestoßen
worden durch die umfangreichen polizeilichen Kontrollen beim Besuch
dieses Konzertes, andererseits habe er sich in Manhattan schnell
zu Hause gefühlt. Zu den beiden Türmen des World-Trade-Centers
habe er "eine persönliche Beziehung" entwickelt,
und so habe es ihn "regelrecht verwundet", als er deren
Zerstörung am Bildschirm miterleben musste.
Etwa bei der Hälfte meiner Patienten tauchten die Ereignisse
vom 11. September in den Therapiesitzungen als Thema auf. Dies
habe ich bislang noch nie erlebt, auch nicht bei Tschernobyl,
beim Golfkrieg oder bei einem Regierungswechsel. Das enorm breite
Spektrum an emotionalen Reaktionen, das bei diesen wenigen Patienten
deutlich wurde, zeigt an, dass offenbar für viele Menschen
"der Anblick der einstürzenden Türme ein Eingriff
in die eigene Welt" (Sznaider 2001, S. 25) darstellte. Doch
trotz der hohen emotionalen "Betroffenheit" ließen
sich diese Menschen nicht dazu verpflichten, ausschließlich
mit moralischer Empörung zu reagieren, sondern gestatteten
sich durchaus auch spontane Empfindungen, die nicht als "political
correct" gelten. Die heimliche Sympathie mit den Terroristen,
die in manchen Äußerungen durchschimmert, erinnert
an die "klammheimliche Freude" des Mescalero. Ich glaube,
es handelt sich dabei nicht um eine Sympathie mit den Methoden
des Terrors, sondern um die mehr gefühlte als klar formulierte
Erkenntnis, dass die "heimliche Macht des Ohnmächtigen
und die verdrängte Macht des Mächtigen (Richter 2002,
S. 16) in einer "undurchschaute[n] wechselseitige[n] Abhängigkeit"
(ebd.) voneinander stehen. Die Formulierung von Arundhati Roy,
George W. Bush und Osama bin Laden glichen einander wie Zwillinge,
zielte genau auf diesen Sachverhalt. Erst wenn die "Gemeinsamkeit
des Leides, das sich beide gegenseitig zufügen" (ebd.)
erkannt würde, könnten sie das kollusive Miteinander-Verflochten-Sein
erkennen - und auflösen.
Natan Sznaider (2001) hat die gesellschaftliche Thematisierung
der Terrorangriffe mit der Erinnerungskultur an den Holocaust
verglichen: "Der Holocaust steht für den Bruch der Zivilisation
in der Moderne und die trennende Linie zur Barbarei" (ebd.,
S. 28). Die gleiche Funktion könnte auch den Terrorangriffen
zukommen. Beides birgt eine zivilisatorische Chance: So wie sich
der größte Teil der Menschheit darin einig ist, den
Holocaust als einen "Zivilisationsbruch", als das Menschheits-Verbrechen
anzusehen, so könnte die Weltöffentlichkeit auch hinsichtlich
der Beurteilung des in New York verübten Verbrechens darin
Übereinstimmung erzielen, den 11. September zum Symbol für
die Notwendigkeit einer globalen Ethik zu nehmen. Diese würde
alle Völker, Nationen und Staaten verpflichten, ein neues
kulturübergreifendes Selbstverständnis zu entwickeln,
um die Zukunft der gesamten Menschheit zu sichern. Konkret würde
das beispielsweise heißen, dass die Einsetzung eines internationalen
Gerichtshofs rasch vorangetrieben werden sollte.
Momentan sind es allen voran die Amerikaner, die lernen müssen
zu begreifen, wie verwundbar sie sind - auch und gerade als Weltmacht.
Die USA, die größte ökonomische und militärische
Macht, die je in der Geschichte der Menschheit existiert hat,
erliegt einer kollektiven narzisstischen Grandiositätsphantasie,
wenn sie annimmt, sie sei unsterblich, unverwundbar und nicht
auf andere Nationen angewiesen. Tatsächlich ist auch die
mächtigste Macht der Welt von anderen Nationen und Staaten
abhängig und muss sich darauf einstellen, mit den Unterlegenen
am Rande der Welt als Partner zu kommunizieren und zusammenzuarbeiten.
So wie das Individuum seine eigene Sterblichkeit akzeptieren muss,
stellt sich auch dem Kollektiv die Aufgabe, seine Endlichkeit
und Verletzlichkeit anzuerkennen, um eine realistische Weltsicht
zu erlangen. Narzisstische Kränkungen sind belastend, schwer
akzeptabel, gar traumatisierend, aber sie enthalten immer auch
Chancen, etwas über uns selbst und unser Verhältnis
zur Welt zu erfahren. Amerika könnte aus den schrecklichen
Ereignissen vom 11. September die Einsicht gewinnen, dass es auf
seine Selbstvergottung verzichten muss. Die ungeheure ökonomische,
militärische, politische und kulturelle Macht, über
die Amerika verfügt, steht in einem dialektischen Verhältnis
zur Ohnmacht: Je fortgeschrittener die wissenschaftlich-technische
Entwicklung vorangeschritten ist, je grandioser sich die Erfolge
in der Beherrschung der Natur und des Menschen ausnehmen, um so
komplexer - und damit auch anfälliger und verletzbarer -
sind auch die gesellschaftlichen Prozesse, die damit einhergehen.
Die zunehmende gesellschaftliche Komplexität führt einerseits
zu einen Zuwachs an Macht, andererseits aber auch zu einer immer
größer werdenden Abhängigkeit der Menschen und
der Völker untereinander.
Paul Klees Held mit dem Flügel symbolisiert dieses dialektische
Verhältnis von Allmacht und Ohnmacht, welches das menschliche
Schicksal auszeichnet. "Im Gegensatz zu göttlichen Wesen"
ist Klees Held "mit nur einem Engelsflügel geboren"
(Klee 1905, zitiert nach Friedel 1995, S. 280). Er "macht
unentwegt Flugversuche. Dabei bricht er Arm und Bein, hält
aber trotzdem unter dem Banner seiner Idee aus" (ebd.). Dieser
zweifelsohne männliche Held verkörpert den narzisstischen
"Allmachts-Ohnmachts-Komplex" (Richter 1979), aus dem
er keinen Ausweg findet. Ins Auge sticht der Kontrast zwischen
"seiner monumental-feierlichen Haltung" und dem "bereits
ruinösen Zustand" (Klee 1905, zitiert nach Friedel 1995,
S. 280), in dem er sich in Wirklichkeit befindet. Diese Figur
steht als Sinnbild für eine Welt, die sich selbst ihre Lebensgrundlagen
entzieht und ihre Selbstzerstörung in dem illusionären
Glauben an die eigene Grandiosität und Macht vollendet.
Wir leben in der historischen Phase der Globalisierung, in der
alle Teile der Welt miteinander verknüpft sind. Überall
auf der Welt regt sich Widerstand von den Teilen der Weltbevölkerung,
die sich benachteiligt und unterdrückt fühlen. Die terroristischen
Akte sind geboren aus der Ohnmacht, jedoch verknüpft mit
mächtigen Gefühlen des Triumphes und der Grandiosität.
Im Terrorismus und in seiner Bekämpfung verbindet sich der
narzisstische Größenwahn der Ohnmächtigen mit
dem selbstgefälligen grandiosen Selbstbild der Mächtigen
zu einer unheilvollen Kollusion. Da nicht nur Amerika, sondern
die ganze Welt von den Terror-Angriffen getroffen wurde, gilt
dies nicht nur für die Regierung der USA, sondern alle Gesellschaften
müssen sich eingestehen, dass unsere moderne Zivilisation
in ihrer Komplexität enorm verletzbar sind. Die ökonomisch
und militärisch mächtigen Gesellschaften sollten deshalb
ein großes Interesse an dem entwickeln, was in der Psyche
der Abhängigen, der Schwachen, der Armen, der Benachteiligten
und der Unterdrückten vor sich geht. Die Mächtigen und
Privilegierten der Welt sollten die Solidarität und das Mitgefühl,
das Amerika nach den Terror-Anschlägen aus allen Teilen der
Welt entgegengebracht wird, als Chance nutzen, um zu zeigen, dass
sie wirklich an einer gerechteren Welt interessiert sind. Der
11. September könnte ein Anlass sein, die Globalisierung
der Weltmärkte zu ergänzen durch eine Globalisierung
der Ethik und des menschlichen Mitgefühls.
Ein
weiterer Artikel von Hans-Jürgen Wirth
Fremdenhass und Gewalt
als familiäre und psychosoziale Krankheit
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