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Beobachter; 23. 01. 2003
Samuel
Althof ist Mitglied der Aktion Kinder des Holocaust. Der 47-jährige
Jude sucht den Dialog mit jugendlichen Skinheads, um sie beim Ausstieg
aus der Szene zu unterstützen. Aufgezeichnet
von Eva Büchi
siehe
auch: Prävention
«Ich bin kein gläubiger Jude. Doch als ich ein Bub
war, nannten mich andere Kinder Judensau - das prägt.»
Mit dem 16-jährigen Rolf (alle Namen geändert) habe
ich seit ein paar Monaten Kontakt. Er sagt, er sei «Nationalist»
- für andere ist er ein Nazi. Anfang letzten Jahres wurde
er festgenommen, weil er eine Hakenkreuzfahne aus seinem Wohnungsfenster
gehängt hatte. Zurzeit läuft ein Strafverfahren gegen
ihn.
Unsere
Bekanntschaft begann mit einer provokativen E-Mail. «Hast
du Angst, oder willst du mit mir ein nationales Gespräch
führen?», schrieb er mir. Ich wollte. Wir trafen uns
mehrmals zum Pizzaessen, redeten über seinen Job, Fussball
und seine «Gang», die Skinheads.
Verzerrte
Vorstellungen
Ich
bin gelernter Psychiatriepfleger und führe in Basel eine
Praxis für psychologische Beratung. Zudem bin ich Pressesprecher
der internationalen Vereinigung Aktion Kinder des Holocaust (AKdH).
Die Arbeit mit jugendlichen Skins ist Teil der AKdH-Friedenspolitik.
Bekannt geworden ist unsere Vereinigung vor allem wegen ihrer
Internetrecherchen. Wir suchen im Web systematisch nach rassistischen
und antisemitischen Homepages. Sind deren Betreiber Jugendliche,
treten wir mit ihnen in Verbindung. Löschen sie ihre Seiten
nicht, erstatten wir Anzeige.
Vor
einigen Monaten besuchte ich mit Rolf, seinem 17-jährigen
Kollegen Kurt und einem AKdH-Mitarbeiter das Konzentrationslager
Natzweiler-Struthof in der Nähe von Strassburg. Ich wollte
die beiden Jungs mit der historischen Realität konfrontieren.
Sie sind noch unreif, in ihren Köpfen spuken verzerrte Vorstellungen
von Nazigrössen, der Endlösung und von Rassismus.
Während
der Autofahrt zum KZ spielten uns Rolf und Kurt Songs einer deutschen
Skinhead-Gruppe vor. Kurt zeigte mir das Hakenkreuz auf seinem
Handydisplay. Sie wollten mich anstacheln und erwarteten, dass
ich als Jude mit einem Tobsuchtsanfall reagiere. «Wirst
du nicht böse?», fragte Kurt. Ich verneinte. Mir war
von Anfang an klar, dass er via Provokation den Dialog mit mir
suchte. Doch ich ging nicht darauf ein.
An
den Krematorien, wo die Leichen der Häftlinge verbrannt worden
waren, gingen die beiden rasch vorbei - kommentarlos, ohne einen
Blick darauf zu werfen. Sie hielten den Anblick emotional nicht
aus. Wir führten sie zu den Öfen zurück und danach
zum Massengrab, wo eine Gedenktafel an die Erschiessungen erinnert.
«Das war das dunkelste Kapitel der NS-Zeit», bemerkte
Rolf.
Der
KZ-Besuch hatte eine ambivalente Wirkung. Einerseits konnte Rolf
das «dunkelste Kapitel» der NS-Zeit, den Holocaust,
zugeben; anderseits schaffte er es nicht, seine Identifikation
mit den Nazis aufzugeben. Ihn beeindruckte vor allem der KZ-Bau.
Er kaufte sich Souvenirs: Postkarten mit Bildern vom Eingangstor
und vom Gefängnis.
Für
mich sind jugendliche Skinheads keine politischen Gegner. Ich
unterscheide klar zwischen symptomatischen und programmatischen
Neonazis. Zu den Ersten zähle ich Jungs wie Rolf und Kurt,
zu den Zweiten Holocaust-Leugner wie Bernhard Schaub oder Jürgen
Graf. Die zweite Gruppe ist gefährlich - vor allem wenn Gewalt
als Mittel legitimiert wird, wie dies Bernhard Schaub einmal in
einer «Rundschau» im Schweizer Fernsehen tat.
Laut
Schätzungen des Bundesamts für Polizei gibt es in der
Schweiz 800 bis 900 Skinheads. Sie sind nur gefährlich, wenn
sie in Gruppen auftreten. Dann benehmen sie sich wie andere Gangs:
Sie provozieren und suchen teils Schlägereien.
Warum
wird ein Jugendlicher Neonazi? Oft haben die Jungs eine schwierige
Familiengeschichte, manchmal lässt sich bei ihnen auch eine
psychopathologische Veranlagung diagnostizieren. Die Skingangs
bieten ihnen eine Art Heimatersatz. Viele dieser Jungen sind einsam.
Und sie haben Probleme im Umgang mit Ausländern; sie wissen
nicht, wie sie mit ihnen umgehen oder ein Gespräch führen
sollen. Jugendliche Ausländergangs, die eine Konfrontation
mit den Skinheads suchen, sind ein Teil des komplexen Problems.
Leichtfertig
abgestempelt
Zurzeit
betreue ich zwölf Skinheads, es sind allesamt noch Buben.
Ich versuche, ihnen den Wert einer Freundschaft nahe zu bringen,
denn die meisten von ihnen sind beziehungsverarmt. Den Ausstieg
aus der Szene müssen sie allerdings allein schaffen, ich
kann sie nur auf diesem Weg begleiten und ihr Dialogpartner sein.
Ich zeige ihnen, dass ein Ausstieg aus der Gang ihr Leben reicher
macht, dass sie Berufschancen haben, selbstständig leben
und eigenen Interessen nachgehen können - und dass es echte
Freundschaften gibt, denn die Beziehungen in der Gang sind stark
ritualisiert und konditioniert.
Allzu
oft stempeln die Medien diese Jugendlichen leichtfertig als Neonazis
ab, ohne zu differenzieren. Werden die Jungs in eine politische
Ecke gedrückt, kommen sie dort nur schwer wieder heraus.
Natürlich muss man die Skins ernst nehmen - verglichen mit
den Machenschaften von Sekten sind sie jedoch eher harmlos.
Nicht
einschüchtern lassen
Für
Juden in der Schweiz ist das Risiko, von Skins angegriffen zu
werden, etwa gleich hoch wie die Gefahr für Frauen, auf der
Strasse überfallen zu werden. Ich erhalte oft Drohungen,
doch zu 99 Prozent sind sie vernachlässigbar. Das Wichtigste
ist, sich nicht einschüchtern zu lassen.
Gewiss
hat mein Engagement damit zu tun, dass ich selber Jude bin - zwar
kein gläubiger, aber ich habe eine jüdische Geschichte,
und die Gesellschaft nimmt mich als Juden wahr. Als ich ein Bub
war, nannten mich andere Kinder «Judensau» - das prägt.
Ich glaubte wie viele Juden, dass nur ein Leben in Israel lebenswert
sei.
Mit
17 Jahren wanderte ich nach Israel aus. Zuerst ging ich in einen
Kibbuz, später zur Armee. Das war 1973. Dann passierte etwas,
was mein Leben veränderte. Als Soldat begegnete ich einem
palästinensischen Bauern, der seinen Acker pflügte -
da beschlich mich zum ersten Mal das starke Gefühl, Unrecht
zu tun. Ein Jahr später desertierte ich und floh in die Schweiz.
Bis vor wenigen Monaten konnte ich nicht nach Israel reisen; als
Deserteur drohte mir dort eine Gefängnisstrafe. ·
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