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Ein Leben in zwei Welten
FACTS Nr. 22, 28. 5. 1998
Barbro Karlén ist überzeugt, die wiedergeborene anne
frank zu sein. Ihre Autobiografie hat eine emotionale Debatte ausgelöst.
Autor: VON STEPHANIE RIEDI
Sara ist ein seltsames Kind. Sie erschrickt vor Uniformen und braunen
Bohnen. Auch ihren Namen mag die Kleine nicht. In ihren Träumen
wird sie anders genannt. Sie versteht nicht, warum man sie Sara
ruft, obwohl sie ja eigentlich Anne heisst. Das war vor rund vier
Jahrzehnten.
Jetzt sitzt Anne alias Sara Carpenter alias Barbro Karlén
hier. Im Auditorium des Basler Hotels "Hilton" nimmt sie
an einer Podiumsdiskussion teil zum Thema "Wiedergeburt: Fiktion
oder Realität?". Die drahtige Mittvierzigerin ist Protagonistin
der Veranstaltung. Im kürzlich erschienenen autobiografischen
Buch "... und die Wölfe heulten" beschreibt die schwedische
Autorin Barbro Karlén Fragmente ihres Lebens in zwei Welten.
Sara Carpenter, das Pseudonym der Schriftstellerin im Buch, ist
überzeugt, die wieder geborene Anne Frank zu sein. Anne Frank
kam im Alter von 15 Jahren im KZ Bergen-Belsen 1945 ums Leben.
Mit ihrer Überzeugung, sich an frühere Leben zu erinnern,
steht Karlén nicht alleine da. So genannte Reinkarnations-therapien
machen seit den siebziger Jahren Furore. Shirley MacLaine schrieb
Bestseller über ihre Wiedergeburten. Unter anderem will sie
Tänzerin am Hof des russischen Zaren gewesen sein. Tina Turner
behauptet, die Reinkarnation einer Pharaonin zu sein. Und Sean Connery
glaubt sich zu entsinnen, vor Urzeiten als Stammeshäuptling
in Afrika herumkommandiert zu haben.
Trotz prominenter Glaubensgefährten ruft Karléns Behauptung
Donner und Doria hervor. Schon im Vorfeld des Gastspiels brodelten
die Emotionen. Allen voran empörte sich die Aktion "Kinder
des Holocaust", eine in jüdischen Kreisen nicht unumstrittene
Organisation. Samuel Althof, Sprecher der Aufgebrachten, informierte
die Presse über den "Affront" der geplanten Veranstaltung.
Er wolle darauf hinweisen, sagt Althof, "dass eine Veranstaltung
dieser zwielichtigen Art von den Überlebenden des Holocaust
und deren Kindern in jeder Beziehung als tief verletzend empfunden
werden wird".
Auch die "Jüdische Rundschau" distanziert sich in
der Ausgabe vom 20. Mai von der selbst ernannten Wiedergeburt der
Anne Frank. So was kenne man eher aus amerikanischen Talkshows,
kommentiert die Zeitung.
Vincent C. Frank, ein Freund von Annes Vater Otto, lässt Karlén
ihren Glauben, aber stellt eine "eigenartige Pietät fest".
Sie profitiere vom Leiden anderer, ohne selbst zu leiden, sagt er.
Wenn man den Gedanken der Reinkarnation weiterdenke, hiesse dies,
dass der Holocaust und das grausame Sterben von Anne Frank und anderen
dem Weiterleben nicht geschadet und heilsgeschichtlich notwendig
gewesen sei.
Karlén entgegnet den Vorwürfen mit stoischer Ruhe. Sie
habe weder das Bedürfnis noch die Absicht, jemandem zu beweisen,
dass sie Anne Frank sei, sagt die Gerügte. Durch die Publikation
ihrer Autobiografie und die öffentlichen Auftritte wolle sie
lediglich den Menschen zeigen, "dass es tatsächlich Zusammenhänge
zwischen den verschiedenen Leben gibt". Karlén sieht
sich von Kindsbeinen in die Opferrolle gepfercht. Die in Göteborg
Geborene wird von Ängsten und Alpträumen gegeisselt, von
ihren Eltern und dem Psychiater missverstanden. Nur das Schreiben
spendet Trost. Das macht die 12-Jährige denn auch quasi über
Nacht berühmt. Sara schreibt Gedichte und Geschichten am laufenden
Band. Von der schwedischen Presse wird sie als "literarisches
Wunderkind" gelobt. Ihre Angst vor Uniformen überwindet
Sara mit der Wahl, Polizistin zu werden. Sie arbeitet jahrelang
bei der berittenen Polizei. Dann gerät sie zum zweiten Mal
in die Schlagzeilen. Sie wird verdächtigt, Pferde misshandelt
zu haben.
Und wieder sucht der Alp die Angeprangerte heim. Carpenter träumt,
dass die Denunzianten die gleichen Schergen seien, die damals Anne
Frank gepeinigt hatten. Das Trauma verarbeitet sie schreibend. Resultat
der Therapie ist das Buch "... und die Wölfe heulten".
Karléns Bericht enthält Darstellungen, die in ihrer
Heimat noch Gegenstand gerichtlicher Untersuchungen sind. Darum
ist ihr Buch mit fiktiven Namen und im sprachlichen Exil erschienen.
Der Basler Perseus-Verleger Thomas Meyer nennt es Schicksal. Es
sei kein Zufall, meint er, dass Karléns schriftliche Lebensfragmente
"vorläufig nicht in der Sprache von Sara Carpenters heutigen
Verfolgern, sondern in jener ihrer früheren vorliegt."
Die heutige Hatz basiere ja auf der damaligen.
Anne Franks Cousin, Buddy Elias Meyer, steht zur der Publikation.
Er empfindet Karlén gegenüber "eine Art Seelenverwandtschaft".
Zwar könne er nicht mit letzter Konsequenz bestätigen,
dass Karlén seine Cousine gewesen sei, "aber wenn man
an Reinkarnation glaubt, könnte es möglich sein".
Diese Sympathiebekundung und sein öffentliches Bekenntnis,
an Wiedergeburt zu glauben, haben Elias Ärger eingebracht.
Als Präsident des Anne-Frank-Fonds Basel wird er nun von der
Aktion "Kinder des Holocaust" zum sofortigen Rücktritt
aufgefordert.
Mit einem solchen Tumult hat Karlén wohl kaum gerechnet.
Als halluzinierte oder reinkarnierte Anne Frank sorgt die Autorin
ein weiteres Mal für Medienrummel. Am kommenden Freitag ist
sie zu Gast bei der RTL-Moderatorin Ilona Christen.
Auch Verleger Meyer ist ob der emotionalen Flut sichtlich irritiert:
Schon habe sich eine andere Frau gemeldet, sagt er, und ihn allen
Ernstes gebeten, ihr Manuskript zu publizieren.
anne frank
Das berühmteste Tagebuch
Anne Frank schrieb wohl das berühmteste Tagebuch aller Zeiten.
Die deutschstämmige Jüdin bekam die stumme Gefährtin
am 12. Juni 1942 zum 13. Geburtstag geschenkt. Am gleichen Tag begann
sie zu schreiben. Über zwei Jahre dauerte die intime Beziehung.
In dieser Zeit hauste die Familie in Amsterdam, zusammen mit anderen
Juden versteckt, im Geschäftshaus von Annes Vater, Otto Frank.
Am 4. August wurden die Verborgenen von der "Grünen Polizei"
verhaftet. Man hatte sie denunziert.
Deportation
Der letzte Eintrag im Tagebuch von Anne Frank ist auf den 1. August
1944 datiert. Es schwingt nichts Bedrohliches mit, sondern zeigt
die Not eines Teenagers auf, der sich als "ein Bündelchen
Widerspruch" erlebt. Drei Tage später wird sie ihrer Jugend
beraubt. Mit dem letzten Transport, der vom niederländischen
Judendurchgangslager Westerbork gen Osten in die Vernichtungslager
geht, wird Anne nach Auschwitz gebracht. Ende Oktober folgt die
Deportation ins KZ Bergen-Belsen, wo sie zwischen Februar und März
1945 ums Leben kam.
Freunde entdeckten nach der Verhaftung Annes Tagebuch. 1946 erschienen
die Aufzeichnungen auf Holländisch. Seit damals wurde "Das
Tagebuch der Anne Frank" weltweit Millionen Mal verkauft. Anfang
1997 kam auf Initiative von Buddy Elias, Annes Cousin und Vorsitzender
des Anne-Frank-Fonds, Basel, die erste unzensurierte Fassung von
Anne Franks Tagebuch heraus.
Anne Frank, "Tagebuch", Fischer Verlag, 12.50 Franken.
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