Verwundert, erstaunt, empört

Aus: Informationen für Mitglieder der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Hamburg Heft 2 / 1998, 8. Jahrgang

Die Anthroposophie hat antisemitische Neigungen, die aus ihrer Entstehungszeit stammen, immer noch nicht eindeutig überwunden. Davon zeugt ein Buchprodukt, das auch in Hamburg vertrieben wird. Unser Mitglied R.L. war darauf aufmerksam geworden und hatte bereits, im engen Kontakt mit Gruppen in der Schweiz, die sich in einem lebhaften kritischen Dialog mit der Anthroposophischen Gesellschaft befinden, einen öffentlichn Protest losgelassen. Wir haben das fragliche Buch von Ludwig Thieben «Das Rätsel des Judentums», ebenfalls geprüft. Das führte im April 1998 zu einem Brief an die Anthroposophische Gesellschaft in Hamburg. Darin fordern wir dazu auf, den Verkauf des Buches in Hamburg einstellen zu lassen und über die unhaltbaren Thesen des Buches eine kritische Diskussion zu beginnen. Eine Antwort liegt noch nicht vor.

Hier der Wortlaut unseres Briefes:

Wir sind darauf aufmerksam gemacht worden, dass auch in Hamburg das Buch von Ludwig Thieben «Das Rätsel des Judentums» verkauft wird. Es gilt nach Angaben des Verlages als «einzige Umfassende Darstellung des Judentums und seiner Geschicke aus anthroposophischer Sicht». Die Anthroposophie insgesamt wird also mit den darin vertretenen Positionen identifiziert.

Deshalb richten wir diesen Brief an Sie. Er ist ein Brief des Protestes. Das Buch von Ludwig Thieben ist sehr wohl geeignet, Vorurteile und Fehlurteile über das Judentum zu schüren und zu festigen. In diesem Brief können wir nicht eine ausführliche Auseinandersetzung mit Ludwig Thieben und dem Nachwort-Autor und Verleger Thomas Meyer vornehmen. Dies ist an anderer Stelle bereits geschehen, wenngleich offenbar noch erfolglos. Wir nennen lediglich beispielhaft einige höchst fragwürdige Positionen und Thesen des Buches.

Verwundert nehmen wir wahr, wie Ludwig Thieben dem Leser suggeriert, die Juden seien am «Untergang des Abendlandes» schuld (S. 174). Die Rede ist vom «vielfach ungünstigen Einfluss des jüdischen Wesens» (a.a.O.). Behauptet wird, das Judentum sei «durch seine Blutsveranlagung gegen das Christentum eingestellt» (S. 164). Solche Urteile entsprechen auf verblüffende Weise dem im 19. Jahrhundert gewachsenen rassistischen Antisemitismus.

Hoch erstaunt lesen wir, wie Ludwig Thieben, als er das Buch schrieb, theologische Meinungen wieder aufgenommen hat, die in früheren Generationen und Jahrhunderten den christlichen Antijudaismus begründen sollten. Dazu gehört die christologische Auslegung der hebräischen Bibel. Und ebenso die Meinung, die Geschichte des Judentums sei nur als Vorgeschichte des Christentums zu verstehen und die Mission des Judentums sei damit erfüllt. Folglich wird das Judentum seither und in der Geschichte nur noch als «Schatten des Christentums» wahrgenommen. Das enthält die These, das Judentum sei, - nach Christus - eigentlich überflüssig, es habe kein eigenes Recht auf Existenz mehr. Eben dieses abschätzige und herabwürdigende Urteil hat im Laufe der Geschichte wesentlich dazu beigetragen, die Vernichtung des Judentums indirekt vorzubereiten.

Verwundert und erstaunt? Nein, empört stellen wir fest dass solche Positionen noch heute vertreten und wieder aufgelegt und vertrieben werden. Haben wir nicht gut genug historisch gelernt wie aus antijüdischen und antisemitischen blossen «Meinungen» schliesslich brutale Taten und Gefahr für Leib und Leben von Millionen Menschen erwachsen sind und wieder erwachsen können?

Mit Unverständnis erfuhren wir, Verlag und Buchhändler hätten auf Einsprüche bisher nicht reagiert; sie sähen keinen Grund, das Buch von Ludwig Thieben aus dem Verkauf zu ziehen.

Wir bitten deshalb Sie, auf Besserung hinzuwirken. Wir hoffen und erwarten, die anthroposophische Buchhandlung in Hamburg stellt den Verkauf des Buches ein. Wir würden es obendrein begrüssen, wenn in der Anthroposophischen Gesellschaft in Hamburg darüber hinaus über Thesen, wie sie von Ludwig Thieben und Thomas Meyer über Judentum und Christentum und «Deutschtum» vertreten werden, eine offene und kritische Diskussion geführt wird.

 
 


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