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"Anne Frank" bei Ilona Christen
TV RTL führt vor, wie man auch mit spiritistischem Unfug den Holocaust relativieren kann.
Andreas Speit, Jungle World 9. Juni 1998
Sara war ein eigentümliches
Kind. Sie versteckte nicht gerne, ängstigte sich vorm Duschen und
Haareschneiden und erschrak vor Uniformen. Verwundert war sie, daß
sie Sara gerufen wurde, obwohl sie doch eigentlich Anne hieß. Das
war vor rund vier Jahrzehnten. Am 29. Mai sitzt die 43jährige Anne,
alias Sara Carpenter, alias Barbro Karlén als Gast in Ilona Christens
Talkshow, die sie munter als die reinkarnierte Anne Frank präsentiert.
Thema der RTL-Nachmittagsrunde: "Ich hab' schon mal gelebt".
Verständnisvoll eröffnet Frau Christen die Séance, an der neben
anderen auch Graf Dracula und Ötzi teilnehmen: "Barbro, wann haben
Sie gemerkt, daß Sie Anne Frank waren?" "Als ich zwei Jahre alt
war", erwidert die Schwedin, die mit Gedichten und Geschichten in
ihrer Heimat bekannt geworden ist, höflich. Die Gastgeberin nickt
betroffen, plaudert mit ihr über Anne Franks Leben, um dann auf
die entscheidende Frage zu kommen: "Können Sie uns sagen, wie Sie
den Tod der Anne Frank erlebt
haben?" "Das einzige, woran ich mich erinnere, ist", antwortet Barbro
Karlén, "daß ich furchtbar gefroren habe und daß ich lebendig verbrannt
wurde."
Bestätigung suchend, wendet sich
Frau Christen an Ingrid Vallières, die als Großmeisterin der Reinkarnationstherapie
gilt. "Natürlich ist es möglich, nach dem Gesetz von Ursache und
Wirkung als Anne Frank wiedergeboren zu werden", bestätigt die ehemalige
Übersetzerin, die seit Mitte der Siebziger "Reinkarnations-Erfolgs-Kompakt-Programme"
anbietet. Als Belege werden Fotografien und Schriftproben von Anne
Frank und Barbro Karlén eingeblendet.
Matthias Jung, der als kritischer
Psychotherapeut und Philosoph in die Runde geladen ist und einwendet,
daß nach den klassischen Reinkarnationslehren niemand nach 50 Jahren
wiederkehren könne, kann die Glaubwürdigkeit Barbro Karléns nicht
erschüttern.
Und ebenso forsch, wie sie angefangen
hat, beschließt Ilona Christen, sich gerne als Powerfrau sieht,
die Sitzung auch wieder: "Wer nicht daran glaubt, muß halt wiederkommen."
Für Barbro Karlén steht die "absolute Unvernichtbarkeit der Seele"
nicht zur Diskussion. Ausführlich beantwortet sie alle selbstgestellten
Fragen in ihrer jüngsten Veröffentlichung "... und die Wölfe heulen",
die unter ihrem
Pseudonym Sara Carpenter im Baseler Perseus-Verlag erschienen ist.
Sie gibt sich völlig sicher, die repersonalisierte Anne Frank zu
sein, die 1945 im Alter von 15 Jahren im KZ Bergen-Belsen umgebracht
wurde:
"Ich habe weder die Absicht noch das Bedürfnis zu beweisen, daß
ich Anne bin." In Basel und Zürich kam es bei der Präsentation ihrer
Phantasmen zu Protesten. Die Aktion "Kinder des Holocaust" verurteilte
die "Vereinnahmung" von Anne Frank und den "Mißbrauch" ihrer Geschichte.
Und der ehemalige Präsident des Baseler Anne-Frank-Fonds, Vincent
C. Frank, wies auf den religiösen Hintergrund spiritistischer Vorstellungen
hin: "Wenn man den Gedanken der Reinkarnation weiterdenkt, heißt
dies, daß der Holocaust und das grausame Sterben von Anne Frank
und anderen (...) heilsgeschichtlich notwendig gewesen ist. Eine
inakzeptable Vorstellung."
Unerwartete Hilfe erhielt Frau
Karlén dagegen vom derzeitigen Präsidenten des Anne-Frank-Fonds,
Anne Franks Cousin Buddy Elias. Er bestätigte Frau Karlén eine "Art
Seelenverwandtschaft", auch wenn er nicht so weit gehen mochte,
in dieser seine wiedergeborene Cousine zu sehen: "Wenn man aber
an eine Reinkarnation glaubt, könnte es möglich sein." Die "Kinder
des Holocaust" forderten daraufhin den Rücktritt von Buddy Elias.
Während es in der Schweiz immerhin öffentliche Reaktionen gab, blieb
es in Deutschland nach Frau Karléns RTL-Auftritt still. Nur Ralph
Giordano wagte Widerspruch: "Die Widerlichkeit der Akteure will
einem die Sprache verschlagen, wobei man nicht weiß, was ekelerregender
ist: die verrückte, spinnerte Barbro Karlén oder ihre publizistischen
Ausbeuter."
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