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Anthroposophie
und Nationalsozialismus
Zwei neue Veröffentlichungen
aus: Neue Zürcher Zeitung - 22.07.1999
Seit den achtziger Jahren sieht
sich die Anthroposophie mit zwei bis dato unbearbeiteten Feldern
ihrer Geschichte konfrontiert: mit der Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus
und mit Steiners rassentheoretischen Äusserungen. Uwe Werner,
Archivar am Goetheanum in Dornach, hat nun eine erste Darstellung
der Anthroposophischen Gesellschaft in den Jahren 1933 bis 1945
gegeben. In seine gut lesbare Pionierarbeit hat er umfangreiches
und vielfach neu erschlossenes Quellenmaterial (allerdings, so Werner,
nur «Teile» der einschlägigen Dornacher Bestände)
einarbeiten können. Er behandelt chronologisch die sukzessiven
Verbote der damals gespaltenen Anthroposophischen Gesellschaft und
ihrer Tochtergründungen, insbesondere der Waldorfschulen, sodann
die nur wenig erfolgreichen Verhandlungen um Wiederzulassung anthroposophischer
Einrichtungen sowie schliesslich die bis zum Ende des «Dritten
Reiches» fortbestehenden Organisationen, vor allem in der
Heilpädagogik, der Medizin und der Landwirtschaft.
Dabei ist ein instruktiver Einblick
in die Polykratie des Dritten Reiches entstanden. So fanden sich
die Anthroposophen vor allem in der Konkurrenz zwischen dem «Stab
des Stellvertreters des Führers» unter Rudolf Hess und
Heinrich Himmlers Reichssicherheitshauptamt wieder, zusätzlich
intervenierten nachgeordnete Dienststellen oder auch Hitler persönlich.
1935 wurde unter Himmlers Ägide die Anthroposophische Gesellschaft
verboten, während die Christengemeinschaft bis 1941 bestand,
als mit Hess' Englandflug ihr Protektor in Ungnade fiel. Dass dies
nicht das Ende der nationalsozialistischen Versuche bedeutete, anthroposophische
Praxis irgendwie nutzbar zu machen (mit deren weltanschaulichen
Grundlagen wussten die Nationalsozialisten kaum etwas anzufangen),
bewies Himmler, als er zwar die Leitfigur des biologisch-dynamischen
Landbaus, Erhard Bartsch, zeitweise in Haft setzen, dessen Gut aber
weiterarbeiten liess.
«Völlig unvorbereitet»
Es waren sehr schwierige Zeiten.
Die nationalsozialistische Machtergreifung hatte die Anthroposophische
Gesellschaft, so Werner, «völlig unvorbereitet»
getroffen, denn sie habe sich «nie veranlasst gesehen, sich
praktisch um politische Fragen zu kümmern» ebensowenig
wie auch die weit überwiegende Zahl der Mitglieder. Dementsprechend
lagen die Reaktionen zwischen Ablehnung und Zustimmung, wobei Werner
dazu tendiert, die Anthroposophen für mehrheitlich NS- distanziert
zu halten. Die Bedrohung an Leib und Leben war allerdings real,
insbesondere einige Priester der Christengemeinschaft wurden zeitweise
inhaftiert; jedoch gab es keine systematischen Ermordungen.
Die Bewertung des Verhaltens von
Anthroposophen hängt an der Frage, wie man die Grenze von Kooperation
und Verweigerung von Widerstand spricht Werner nicht
bestimmt. Der Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland
hat beispielsweise die pragmatische Kooperation um des Überlebens
willen gesucht, aber den Nationalsozialismus abgelehnt. Der Dornacher
Vorstand hingegen war geteilter Meinung: Neben Günther Wachsmuth,
der im Juni 1933 seine «Sympathie» für das, «was
z. Zt. in Deutschland geschieht», kundgab, gehörte auch
Marie Steiner zu denjenigen, die dem Nationalsozialismus nicht ganz
ablehnend gegenüberstanden allerdings erfährt man
über die Rolle von Steiners Frau bei Werner kaum etwas.
Auch über die Umstände
des Austritts von Juden, deren Mitgliedschaft in der Anthroposophischen
Gesellschaft den Nationalsozialisten (neben der Zuordnung zur Freimaurerei)
der grösste Dorn im Auge war, unterrichtet Werner nur kurz,
ohne grössere Konflikte zu nennen. Liest man hingegen in den
von Werner als «zuverlässig» eingestuften Erinnerungen
von Hans Büchenbacher, einem Anthroposophen jüdischer
Abstammung, der 1935 in die Schweiz emigrierte, mit welcher Bitterkeit
er die teilweise bereitwillige «Bereinigung» des Konfliktes
um jüdische Mitglieder erfuhr, deutet sich die andere
Perspektive der Opfer an.
Formelkompromisse
Die Argumente, mit denen die oft
widerwillige, teils auch gesuchte Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten
gerechtfertigt wurde, hinterlassen einen zwiespältigen Eindruck.
Natürlich ist es nicht illegitim, sich in einer Diktatur aus
taktischen Gründen im Sprachgebrauch der Unterdrücker
zu verstecken. Aber wie wenig oder wie viel Überzeugung manifestiert
sich in Formelkompromissen? Friedrich Rittelmeyer etwa, «Erzoberlenker»
der Christengemeinschaft, legte 1934 sein Buch «Deutschtum»
vor, um die kulturelle Aufgabe Deutschlands gegenüber völkischer
Vereinnahmung zu verteidigen. Werner verschweigt dieses Buch nicht,
zitiert aber nur Äusserungen, deren taktische Raffinements
Rittelmeyer zur Ehre gereichen. Doch was ist mit (bei Werner übergangenen)
Aussagen, in denen Rittelmeyer Steiners Lehre von der «im
Wesentlichen erfüllten» «Mission des Judentums»
reproduziert oder vom «Lebenskampf Christi» «gegen
sein Volk» spricht? Über das Verhältnis von
Distanz und Nähe von Anthroposophen und Nationalsozialismus
in einzelnen Fragen ist wohl noch nicht das letzte Wort gesprochen.
In den Diskussionen der NS-Zeit
spielten Steiners Rassenvorstellungen kaum eine Rolle. Sie wurden
aber 1985 zum Politikum, als das Fach «Rassenkunde/Völkerkunde»
der niederländischen Waldorfschulen in öffentliche Kritik
geriet und das Unterrichtsministerium eine Untersuchung anordnete.
Daraufhin liess die niederländische Anthroposophische Gesellschaft
Steiners Gesamtwerk von einer (nur aus Anthroposophen bestehenden)
Kommission auf Aussagen zum Thema «Rassen» untersuchen.
Von den 147 dokumentierten Stellen wurden nach heutigem niederländischem
Recht 50 als diskriminierend und 12 als wahrscheinlich strafbar
eingestuft: etwa Steiners Thesen vom «starken Triebleben,
Instinktleben» «beim Neger» oder von den Indianern
als im «Hinsterben» befindlicher «degenerierter
Menschenrasse» wohingegen «die weisse Rasse»
«die zukünftige, . . . die am Geiste schaffende Rasse»
sei. Zu Recht fordert der (nun ins Deutsche übersetzte) Bericht
die Kontextualisierung solcher Aussagen: Rassen seien in Steiners
Theorie nicht nur biologische, sondern auch «geistige»
Phänomene und würden in Zukunft keine Rolle mehr spielen.
Dazu treten in der Aussenperspektive nicht nachvollziehbare, Anthroposophie-immanente
Erläuterungen, wonach etwa Steiner die «merkwürdigen»
Formulierungen zum Triebleben von «Negern» «durch
nicht- sinnliche Aspekte aus der eigenen übersinnlichen Forschung»
ergänzt habe.
Allein, diese Historisierung löst
nur einen Teil der Schwierigkeiten. Ungelöst bleibt das Kernproblem
einer Bewertung der Konstruktionslogik von Steiners Weltanschauung:
Sie ist evolutiv und hierarchisch und reproduziert in ihrem Fortschrittsdenken
die Rede von degenerierten und zukunftsträchtigen Rassen. Damit
stellt sich die Frage, ob es reicht, problematische Stellen durch
Kontextualisierung zu relativieren oder als Teile «übersinnlicher
Forschung» einzuklammern. Letztlich sind solche Rassenunterscheidungen
in Steiners Evolutionsdenken konsequent, aber dessen Revision würde
einen Angelpunkt der anthroposophischen Weltanschauung betreffen.
Die Diskussion um Steiners Rassenvorstellungen
bleibt allerdings im wesentlichen eine Theoriedebatte, da sie in
der Praxis offenbar weitgehend folgenlos waren. Schon die aus vielen
Nationen stammenden Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft
bildeten ein Widerlager gegen die Engführungen in Steiners
Weltbild. Genau diesen «praktischen Internationalismus»
haben die Nationalsozialisten den Anthroposophen zum Vorwurf gemacht,
während sie Steiners Rassenvorstellungen offenbar nicht wahrnahmen.
Helmut Zander
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