Zur Debatte (1997) um Ludwig Thiebens
"Rätsel des Judentums" (*1931, 21991)

Ludwig Thiebens Monografie "Das Rätsel des Judentums" erschien 1931 in Düsseldorf.
Die zweite (kommentierte und umstrittene) Auflage hat der Verleger Thomas Meyer in Basel realisiert: Perseus Verlag 1991, 257 S.


Eine kritische Betrachtung von Nico Rubeli-Guthauser
(31. Dezember 1997)


Zu Ludwig Thiebens Buch: Seite 2ff.
Zu Thomas Meyers Kommentar: Seite 10ff.

"Woran erkennen wir wohl", fragte Rabbi Bunam seine Schüler, "in diesem Zeitalter ohne Propheten, wann uns ein Fehler vergeben ist?" Die Schüler gaben mancherlei Antwort, aber keine gefiel dem Rabbi. "Wir erkennen es", sagte er, "daran, dass wir den Fehler nicht mehr machen."

Die Kultur und die Gesellschaften Europas sind geprägt vom europäischen Antisemitismus, der Geist und Gewalt, geistige Diskriminierung und politische Verfolgung als Amalgamierung tausender Wort- und Machtspiele zu verbinden vermag. Heute können wir ohne Angst vor Repression lernen, was wir schon immer hätten lernen müssen: Verletzungen als persönliche Traumata wahrzunehmen, Wunden zu sehen, ihren Schmerz zu verstehen und zu lindern - um zumindest in Zukunft neue Formen des Antisemitismus zu vermeiden.
Die ersten Monate der Rechtspraxis mit der neuen Antirassismus-Strafnorm sind noch in aller Differenziertheit zu analysieren und auszuwerten. Bei jedem Gerichtsfall ist für mich die Rückfrage nach den geeigneten Mitteln zentral. Da ich den didaktischen Weg als den wichtigsten und tragfähigsten einschätze, setze ich in erster Linie auf das Gespräch und die Plausibilität von positiven Erfahrungen, die Menschen in ihrem freiwilligen Herauslösen aus der Verstrickung antisemitischer Wirren machen. Zudem gebe ich zu, dass ich nicht alle im Rahmen des Antirassismusgesetzes gefällten juristischen Urteile nachvollziehen kann; wir sollten vor ersten Zwischenbilanzen die entstehende Rechtspraxis von verschiedenen Disziplinen her gründlich studieren.

Eine wichtige Errungenschaft der neuen Strafnorm ist sicher die Bildung einer öffentlichen Bewusstwerdung: Antisemitismus ist als konkretes Thema mit praktischen Fällen in unserer schweizerischen Öffentlichkeit erkannt worden. Wir können heute ohne oberflächliche Beschwichtigungen - dass Antisemitismus im grossen ganzen "nur latent" sei und dergleichen - konkret über antisemitische Denk- und Handlungsmuster reden.
Um es vorweg zu nehmen: ich halte es nicht für sinnvoll, in bezug auf die Neuauflage und Kommentierung der vorliegenden Monografie einen Prozess anzustreben. Ein Tatbestand im Sinne der Rechtspraxis unseres ARG würde m.E. nicht anerkannt werden. Auf der andern Seite würde ich es begrüssen, wenn eine öffentliche Diskussion dazu führen würde, dass der Perseus-Verlag dieses Buch freiwillig aus dem Verkauf zurückzieht.


Ludwig Thiebens "Rätsel des Judentums" (*1931, 21991)

Wie können wir Ludwig Thiebens Buch, das er 1930 geschrieben hatte, einordnen? Es gibt einige jüdische Biographien, die - sofern es die gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt erlaubten - einen grossen Preis zu zahlen bereit waren, um überhaupt in einer westeuropäischen Gesellschaft begrüsst zu werden. Die jüdischen Gebrüder Ratisbonne, die im 19. Jahrhundert (von Paris her und mit einem religiösen "Rom-Erlebnis") zum Christentum konvertierten und in Jerusalem eine christliche Institution gründeten, um Judenmission zu betreiben, wurden von Christen dazu verleitet und institutionell geehrt. Ihre Erinnerungen, die davon zeugen, werden heute als historisches Dokument mehrfacher Diskriminierungen und religiöser Ausbeutung in Bibliotheken aufbewahrt. Eine langjährige selbstkritische Betrachtung des christlichen Antijudaismus, bzw. Antisemitismus hat dazu geführt, dass heute das Institut Ratisbonne in Jerusalem wissenschaftlich fundierte Dialogprogramme christlich-jüdischer und mitmenschlicher Achtung anbietet und die Judenmission als Irrweg ablehnt.
Einen vergleichbaren Weg der Selbstkritik wünschte ich mir von Anthroposophen in bezug auf die Lektüre der Monografie von Ludwig Thieben.
Es ist immer wieder erstaunlich, Texte, die in bezug auf Antisemitismus fraglich erscheinen, genauer zu analysieren. Meist ereignet sich das Thema ganz direkt. Ludwig Thieben reflektiert explizit Antisemitismus und fügt die Überlegung hinzu: "Merkwürdigerweise sind es oft gerade Juden, die gegen das Judentum ingrimmige Antipathie empfinden …" . Dieser tragische menschliche Widerspruch gegen eigene biographische Zeitabschnitte, ja familiäre Wurzeln, der hier formuliert wird, kann als selbstoffenbarendes Gedankensymbol dienen, welcher Zerreissprobe Thieben sich selber seelisch aussetzt und ausgesetzt fühlt.
Wie sollen Nicht-Juden eine derart traumatisierte Biographie werten? Thiebens Lebensweg stellt seine subjektiven Entscheidungen dar. Nie würde ich mir anmassen, eine Biographie werten zu dürfen, weil sie ganz der Person gehört, die diesen Lebensweg gewählt hat, auch wenn es ein Weg ist, den wir schwer nachvollziehen können.
Einerseits ist Thiebens Text ein historisches Dokument aus den 30er Jahren. Im Dickicht sich universalisierender Rassentheorien, die jahrhundertealte Schichten der Antisemitismusgeschichte aufnehmen, unternimmt er den Versuch, einen eigenen Weg zu gehen.
Nach der Schoa wissen wir alle, wohin die Geschichte Deutschlands und der Welt geführt hat. Es ist ethisch nicht zu vergleichen, ob wir heute ungebrochen Kategorien der 30er Jahre aufnehmen, wie dies der Verleger des Perseus-Verlags mit seinem Neudruck und Kommentar gemacht hat, oder ob wir versuchen, antisemitisch geprägte Sprach- und Denkkategorien vor der Schoa zu analysieren.

Wir können vermerken, dass Thieben sich gegen gewalttägige Übergriffe wenden möchte. Er äussert sich z.B. negativ zur christlichen Gewalt gegen die Kulturen Amerikas .
Der Antisemitismus wird einerseits kritisch dargestellt, andererseits benutzt Thieben den Antisemitismus seiner Gegenwart als fundamentales Axiom, um das Judentum geistesgeschichtlich zu kategorisieren .

Thieben führt die anthroposophische Kategorie der "Sphäre der ätherischen Bildekräfte der menschlichen Leibesorganisation" ein und entwirft in den Spuren Rudolf Steiners eine allgemeine rassistische Blut- und Religions- bzw. Geistestheorie . Da lesen wir z.B.: "Die Königskrone, die Adelswürde und das Priesteramt waren mit vollem Recht besonderen Geschlechtern vorbehalten, weil man wusste, dass nur ein besonderer 'Schlag' Menschen die notwendigen Führereigenschaften besitzen kann. 'Blut und Fleisch' waren unmittelbare Träger des Geistes." In bezug auf die griechische Antike bedeutet dies: "Der Mensch war den Göttern 'blutsverwandt' (…). Fühlte man doch, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten spirituellen Anschauungsart eine Sache des Blutes war, in dessen Wellen und Weben man mit den Vorfahren zugleich die Wirkungen der Götter erlebte." Das Modell für Israel findet Thieben in Rudolf Steiners Auslegung des Matthäusevangeliums: "Und welches Element lebte fortan im Blute aller Menschen, die aus Abrahams Samen hervorgingen? (…) 'Mit seinem Blute vereinigt fand dieses Volk seinen Gott, der ausgebreitet war im Raum; Es ist der grosse Gott der Welt jetzt geworden, jener Gott des hebräischen Volkes, der Abrahams, Isaaks und Jakobs, der im Blute durch die Generationen rinnt.' (Rudolf Steiner: 'Das Matthäus-Evangelium')" "das Spezifische des Judentums liegt aber darin, dass hier ein universelles Weltenelement in dem gesetzmässig gegliederten Blutsorganismus eines Volkes innerhalb der Erdenentwicklung leben konnte." Diese Gedankengänge gipfeln am Ende des Buches in einem Absolutheitsanspruch des sog. Christusimpulses: "Aber das wahre Blut, das unseren Intellekt wieder mit spiritueller Wärme und imaginativer Leuchtkraft erfüllen kann, ist jenes Blut, das aus den Wunden Christi auf Golgotha geflossen ist." Diese Gedanken heute - nach der Schoa - ungebrochen und unkritisiert zu publizieren, ist m.E. antisemitisch.
Der klassische (im Ursprung christliche) strukturelle Antijudaismus zeigt sich bei Thieben ganz augenfällig, wenn er Judentum und Christentum aufeinander bezieht. Das Judentum wird als Vorglanz des Christentums und als dessen Schatten bezeichnet . Ein ebenfalls klassisch christliches, strukturell antijüdisches Modell, das aus der Paulusrezeption und aus dogmatischen Entwicklungen im Christentum stammt, ist folgender Gedanke zur Offenbahrungswahrheit: "noch lag ein Schleier über dem Antlitz Gottheit, der erst zerriss, als nun unter diesem jüdischen Volk ein einzelner erschien (d.i. Christus, N.R.-G.)" Diese antijüdische Rezeption der Bibel beinhaltet konsequenterweise, die alte christliche Gegenüberstellung des sog. Alten und des Neuen Testaments, wobei der Tanach depraviert wird: "Das ist der grosse Fortschritt vom Alten zum Neuen Testament: dort Mysterienerlebnis als Geschichte eines ganzen Volkes, hier die Mysterienvorgänge als Biographie einer einzelnen, in sich geschlossenen Weltwesenheit. Nicht mehr die Abstammung aus dem Samen Abrahams ist nun für die 'Auserwählung' entscheidend, sondern allein die innere Beziehung jeder einzelnen Seele zu dem im Fleisch erschienenen Christus." Dazu gehört auch der christliche (hier anthroposophisch reflektierte) Superioritätsanspruch, in den Worten Thiebens: "die Wahrheit, dass in dem Christus der Sinn der Erde beschlossen liegt (…). Und wenn wir … sagen dürfen, dass jedes geschichtliche Ereignis seine tiefste Bedeutung in dem Bezug auf jenen zugleich historischen und metahistorischen Mittelpunkt (d.i. Christus, N.R.-G.) enthüllt, dann gilt dies natürlich im besonderen Masse vom Judentum selbst." Dieser Gedanke könnte direkt in einem judenmissionarischen Traktat verwendet werden. Dass dieser strukturell und religiös antijüdische Gedanke in der zweiten Auflage auf der Rückseite des Covers erscheint, deutet daraufhin, dass die Verlegerschaft sich in bezug auf antisemitische Textphänomene bzw. -rezeptionen in der Produktion des Buches keine Kenntnisse angeeignet hat. Den Vorwurf, die Verlegerschaft würde Kernaussagen verstecken, können wir m.E. nicht gelten lassen.

In bezug auf den Tanach (das sog. Alte Testament) übernimmt Thieben die klassische und damals im Christentum übliche Hermeneutik, nämlich eine antijüdische Vereinnahmung der jüdischen Texte durch das Christentum bzw. die Anthroposophie. Z.B. wenn Melchisedek (n.b. "der höchste nachatlantische Eingeweihte") Brot und Wein bringt, wird dies als prophetische Vorausnahme des christlichen Abendmahles gedeutet, das Abraham zuteil wird . Von Rudolf Steiner geleitet, deutet Thieben die "innere Verwandlung" des Mose als Lebensprozess, "der der Grablegung und Auferstehung ähnlich ist." Thieben zielt dabei auf die anthroposophische Kategorie des ätherischen Leibes, der einer Verwandlung unterzogen werden kann . Das christliche Dogma der Dreifaltigkeit wird als Wahrheit dargestellt, die dem Text des Tanach entnommen werden kann, nämlich in den drei Erzvätern, Abraham (irdische Repräsentation von Gott-Vater), Isaak (als Sohn) und Jakob (als Geist im irdischen Gleichnis) .

Es mag nicht zu verwundern, dass auch eine der wichtigsten Wurzeln des christlichen Antijudaismus nicht fehlt, nämlich die negative Bewertung, dass das Judentum die christologische Deutung Jesu als Messias nicht mitvollziehe. Ein Grund sieht Thieben darin, dass Juden sich für eine materialistische Missdeutung der Erfüllung durch Christus entschieden hätten . Dieses Ablehnungsmotiv ist bei Thieben gekoppelt mit einer (antijüdische Rezeptionen philosemitisch spiegelnden) Überhöhung des Judentums: "Alle Mysterien der Völker strömten auf geheimnisvollen Wegen im Blut des jüdischen Volkes zusammen" . Die Bewertung des Judentums schlägt in Thiebens Christologie - klassisch christlich - im Kreuzesgeschehen konsequent um, wo nur noch Intoleranz in bezug auf das Judentum herrscht: "Dieses nicht zu Ende geführte Sohneserleben hatte natürlich seine gute Berechtigung, solange im objektiven Gang der Geschichte der Christus selbst noch nicht in den Werdestrom der Geschichte eingetreten war: es wurde unberechtigt, als sich das Mysterium von Golgotha vollzogen hatte."
Es erstaunt nicht, dass der Kern des christlich-antjüdischen Denkens (im Neuen Testament durchaus schon enthalten) bei Thieben explizit auftaucht, nämlich der Vorwurf, die Juden hätten Jesus umgebracht: "die Juden stehen vor Pilatus und fordern die Kreuzigung Jesu" . Interessant ist, dass Thieben die christliche Enterbungslehre, dass die christliche Kirche das Volk Israel als "wahres Israel" ersetzt, ablehnt, um noch rigoroser ein fast marcionitisch anmutendes Modell zu favorisieren, das im Christentum selber immer wieder vertreten wurde und wird, nämlich, dass Christus Israels Mission obsolet gemacht habe und in einen anderen Boden gepflanzt worden sei: "man (kann) eigentlich mit Beziehung auf die vorchristliche Zeit nicht von einem 'Rätsel des Judentums' sprechen, weil dieses Rätsel eben durch das Erscheinen des Christus in dem Leibe des Jesus gelöst worden war. Um so rätselhafter aber wird uns die nachchristliche Erscheinung dieses kleinen Volkes, das seine Existenz scheinbar nur rechtfertigen kann, dass die Erfüllung seiner eigenen Mission, damit aber das Mittelpunktsereignis der Menschheitsgeschichte ableugnet." Wie wir auch in antijüdischen christlichen Dogmatikbüchern lesen können, hat das Judentum als Judentum keine Aufgabe mehr. Nur in ihrer Zuwendung zu Christus hätten die Juden ein Existenzrecht. "Taufe oder Tod" hiess es im Christentum in kirchengeschichtlich dunkeln Zeiten. (Die Option der Taufe wird von Thieben nur deshalb abgelehnt und im Prinzip bejaht, weil die Kirchen den Christusimpuls, wie ihn die Anthroposophie versteht, nur sehr unvollkommen leben würden .) Das "Rätsel des Judentums" entpuppt sich hier als Metapher für eine geisteswissenschaftliche Endlösung, d.h. als Metapher für eine grundsätzliche Infragestellung der Existenzberechtigung des nachchristlichen Judentums. Für Juden gibt es hier nur eine Option: das Verlassen des jüdischen zugunsten eines christlichen, bzw. anthroposophischen Weges. "Die Generationenfolge hat ihren Zielpunkt in dem Jesus von Nazareth, des Gesetzes Ende und Erfüllung aber ist der kosmische Christus selbst." Grundsätzlicher kann die Abrogation des Judentums und der Tora nicht formuliert werden.
Konsequenterweise wird das Judentum für sein späteres Leiden selbst verantwortlich gemacht, weil es im entscheidenden Augenblick versagt habe, als es den Christus, auf den es in vielerlei Hinsicht vorbereitet worden war, nicht annahm . Besonders klar tritt die Konsequenz des Ablehnungsmotivs (in anthroposophischer Entwicklung) bei der Rezeption Hiobs zu Tage: "Die Frau des Hiob aber tritt zu ihm und spricht die bedeutungsvollen Worte: 'Sage deinem Gott ab und stirb!', d.h. löse dich aus jenem göttlichen Lebensstrom, der dich mit deinen Vätern und Urvätern verbindet, höre auf, ein Glied in dem heiligen Blutorganismus deines Volkes zu sein, damit dich der Tod von deinen Leiden erlösen könne." Die Paulusrezeption (insbes. der Römerbrief) führt Thieben dazu, die jüdische Ablehnung des Christentums als "welthistorisches Opfer" zu werten, weil das Christentum bei einer Annahme Christi durch die Juden als jüdische Sekte womöglich eine belanglose Gruppierung dargestellt hätte . Das Leiden Israels wird trotzdem gemäss Thieben von Israel selber verschuldet, ein in sich antisemitisch strukturierter Gedanke: die Opfer und die Täter werden vertauscht: "Entwurzelter Intellektualismus ist in psychologischer Hinsicht fortan der Hauptwesenszug des nachchristlichen Judentums, Tragik und Verheissung sind die Leitmotive seines ferneren Schicksals."

Das sog. nachchristliche Judentum verschuldet sein eigenes Schicksal, weil es nicht - wie es aus Thiebens Sicht die innere Logik der Geistesentwicklung fordert - gestorben ist: "ist (der 'ewige Jude') also bloss eine Allegorie, ein Symbol für das tragische Schicksal der nachchristlichen Juden, die, von Land zu Land gehetzt, nirgends Ruhe finden, aber auch - als Volk - nicht sterben konnten? (…) Es sind keine 'poetisch' erfundenen, sondern aus der Natur und Wesenheit des Geistes sich gesetzmässig gestaltende Bilder und Gesichte" . "Ahasver ist der Mensch, der zum Gotte wird, aber zum stümperhaften Gotte, der die Möglichkeit des Sterbens verliert, der nun durch die Welt wandelt, nicht sterben kann" . Diese Beschreibung (hier in der Legendenfigur Ahasver ) des sog. nachchristlichen Judentums als stümperhaft und moribund, entspricht der theologisch-antijüdischen Sicht vieler Christen und leider auch "Post-Christen". Das sog. nachchristliche Judentum unterliegt einem Fluch: "Die Unsterblichkeit, und zwar die volle Unsterblichkeit in einem verklärten Leib, in einer auferweckten Seele und im schöpferisch erhöhten Geiste ist die tiefste Sehnsucht der ganzen Menschheit; dem ewigen Juden wird sie zum Fluch".

Das Nicht-sterben-Können der Juden wird nun verglichen mit Menschen, die eine Untat begangen haben (z.B. in der Sage des fliegenden Holländers oder in Hauffs "Gespensterschiff"). "Ahasver ist eine wirkliche Wesenheit und zugleich das tiefste und realste Symbolon der Geschicke des nachchristlichen Judentums." Das Judentum ist nun dämonisiert, eine antisemitische Diskriminierung, die das Christentum seit dem Mittelalter bis hin zu Eugen Drewermann weiter tradiert und die uns hier stark ausgebaut neu begegnet. Auch hier finden wir die Leugnung der Existenzberechtigung des Judentums nach Christus, d.h. die Juden müssten ihre Identität bei einer Annahme Christi auflösen, was positiv gedreht nun schon zum zynischen Spiel mit Antisemitismen wird (kursiv gedruckt): "Die Unsterblichkeit des Judentums ist eine unmittelbare Folge der Zurückweisung des Christusimpulses."

Das Judentum ist gemäss Thieben seit Christus entwurzelt: "Die äussere Entwurzelung, die äussere Diaspora ist sekundär, die innere geistige Entwurzelung primär." Thieben lässt die grundsätzliche Infragestellung des Judentums auf religiös-geistiger Ebene mit rassistischen Kategorien verschmelzen (der religiöse Antijudaismus und der rassistische Antisemitismus werden beide affirmativ verschränkt): "Bei der Christwerdung des Juden dagegen entspinnt sich meist eine Art Kampf gegen die Stimmen des Blutes, die sich wider den Christus sträuben. Der Christus flösst dem echten Juden eine ganz singuläre Mischung von intensiver Abneigung und - Furcht ein, ja man kann sogar sagen, dass der Jude in seinem Unterbewusstsein den Christus viel realistischer emfindet als der Arier, sofern sich dieser nicht als Einzelpersönlichkeit zu einer christlich-religiösen Weltanschauung bekennt."

Sowohl in philosemitischen als auch antisemitischen Denkmilieus nicht unbedenklich ist das Stereotyp, Juden seien besonders intelligent oder humorvoll . Antisemitische Stereotypen, die ihren Ursprung in der schwer aushaltbaren Ambivalenz moderner Gesellschaftsentwicklungen (z.B. der undurchschauten Zirkulation) haben, werden affirmativ aufgenommen, nämlich Juden hätten einen besonderen Anteil, ja eine Führerrolle im Kapitalismus und zugleich eine führende Rolle im Kommunismus: "Gegen diese Anschauung, dass der arabistische Charakter unserer Zivilisation allein der Boden ist, auf dem das moderne Judentum zu seiner bedeutenden Führerrolle innerhalb der kapitalistischen Welt gelangen konnte, würde der Hinweis darauf keinen berechtigten Einwand darstellen, dass die Juden nicht allein auf der kapitalistischen Seite, sondern ebensosehr auf dem sozialistischen, ja kommunistischen Flügel die Führer sind; denn dem innern Wesen nach sind Kapitalismus und Kommunismus keine wirklichen Gegensätze, sondern Kinder eines Geistes. (…) Es ist nun durchaus verständlich, dass man in nichtjüdischen Kreisen die grosse Rolle, welche die Juden im Bank- und Börsenwesen, im Handel, in der modernen Wissenschaft, als Ärzte, Advokaten und Journalisten spielen, recht unsympathisch empfindet und dass man in dieser Hinsicht von einem 'zersetzenden Einfluss des jüdischen Geistes' spricht." Deshalb würden von Nichtjuden antisemitische Aktionen entwickelt, d.h. erstens wiederholt Thieben moderne antisemitische Motive und giesst sie zugleich in die schon erwähnte antisemitische Denkstruktur, die Juden würden Antisemitismus selbst verschulden. Obwohl die sog. "Reghettoisierung" als unmenschlich gewertet wird, wird die antisemitische Struktur ausgezogen. Die Juden sind nun Schuld an der Misere des Abendlandes. Diese zunächst christlich begründete antisemitische Tradition (die Juden sind schuld, dass die Welt nicht erlöst ist) wird nun als (damals üblicher) postchristlicher Antisemitismus formuliert - zwar in bezug auf die politischen Absichten der Nazis kritisch, jedoch in bezug auf die Juden deckungsgleich mit dem antisemitischen Zeitgeist (ein damals verbreitetes Phänomen): "Dumpf fühlt man, dass der Arabismus und Romanismus, zu dessen Trägern sich die Juden durch ein naheliegendes und doch tiefes Missverständnis ihres eigenen Wesens gemacht haben, den Untergang des Abendlandes herbeiführen. Der Antisemitismus mit seinen rüden Schlagworten, seinen Hand- und Faustgreiflichkeiten wird diese Gefahr aber sicherlich niemals bannen, weil er selber von einem echten Christentum weit entfernt ist; er führt nur zu wilden Ausbrüchen der Volksleidenschaft, ohne jedoch gerade den übelsten Elementen des Judentums den Weg zur Macht, den Weg zu Reichtum und Einfluss zu versperren" . Dass diese antisemitische Sichtweise offene rassistische Züge aufweist, zeigt sich wieder gegen Ende des Buches: "die Juden, von den beengenden Schranken des Ghettos befreit und den christlichen Mitbürgern in rechtlicher, freilich noch lange nicht in gesellschaftlicher Hinsicht gleichgestellt, begannen auf allen Gebieten des modernen Lebens eine im Verhältnis zu ihrer Zahl übergrosse Rolle zu spielen, konnten aber die tieferliegenden Wesenszüge nicht abstreifen."

Typisch christlich und postchristlich ist die karikierende Wahrnehmung der talmudischen Tradition und der Halacha: Das rabbinische Judentum und die Halacha wird als äusserlich, hart und als Ersetzen von Qualität durch Quantität abqualifiziert . Diese Steigerung des Intellekts führe nicht zu einer Verinnerlichung des Gesetzes, sondern zu einer scharfen Begriffskunst, die sich an eine äussere spirituelle Gesetzmässigkeit gebunden fühle : "die im Judentum heraufkommende religiöse Jurisprudenz (eine in ihrem Wert höchst fragwürdige Kulturerscheinung!) war eine Verstandesschule, wie sie kaum ein zweites Volk in dieser Art und Intensität durchgemacht hat." Das sog. nachchristliche Judentum vertritt bei Thieben Heteronomie, eine Negativfolie für den "Gott, der im freien Ich des Menschen zu sprechen beginnt" . Die geistigen Werke des Judentums gelten Thieben als "seltsam" , die von Thieben positiv gewerteten kulturellen Leistungen des Judentums werden andern Traditionen zugeschrieben: "Maimonides ist ein arabischer Philosoph, Spinoza ein Denker der beginnenden Aufklärungsepoche, Heine ein deutscher Dichter der ausklingenden Romantik, Einstein ein Naturwissenschaftler des zwanzigsten Jahrhunderts, wenn auch bei allen diesen Persönlichkeiten wohl mit Recht auf einen gewissen jüdischen Einschlag hingewiesen werden kann, der aber nur eine mehr oder minder starke Nuancierung bewirkt, keineswegs den Grundduktus bestimmt. Originär jüdisch dagegen ist etwa der Talmud, dieses merkwürdige Sammelwerk aus den ersten nachchristlichen Jahrhunderten" . Die Wertungen am Ende des Buches, die das sog. nachchristliche Judentum bezeichnen, um den sog. "Rousseauschen Irrtum" des Zionismus aufzuzeigen, stellen dar, wie stark die antisemitischen Wertungen dem Zeitgeist entnommen sind, das Judentum ist (noch) gekennzeichnet durch "Arroganz", "müde Gedrücktheit" und "Feigheit" .

Wenn andere Autoren dem Judentum Kompetenzen zuweisen, die in der Gegenwart, ja in der Zukunft liegen, lehnt Thieben diese konsequent ab: "Das Herz der abendländischen Entwicklung pocht in Mitteleuropa, und es geht nicht an, den Juden Aufgaben zuzuschreiben, die zu lösen die spezielle Mission der mitteleuropäischen Völker ist." Der Superioritätsanspruch der Anthroposophie bedeutet ganz klar, dass das Judentum patronisiert und entmündigt wird. Eine mögliche "zweite Mission" kann - nach Thieben - nur im individuellen Bereich liegen, d.h. im Aufgeben des Judentums, in der Verwandlung des gebeugten Ahasvers zum Lichtwesen, das Christus freudig diene . Es ist tiefste Ablehnung des Judentums, die hier formuliert ist, ein Antisemitismus, der nur in der Auflösung, bzw. Verwandlung des Judentums einen Sinn sieht, d.h. - wie schon erwähnt - das Judentum als Judentum soll sterben können. Was ist Antisemitismus, wenn nicht dieser Tötungswunsch des Judentums? Wer Christus als höchste Krönung des Judentums und das Pharisäertum als "erstarrte Richtung …, die den Schritt vom alten zum neuen Bund nicht mehr vollziehen kann", sieht , kann kaum dem Antisemitismus gegenüber abstinent bleiben; unsere christliche Tradition hat dies in aller Tragik und tiefster Barbarei bewiesen, offensichtlich ist auch die Anthroposophie davor nicht gefeit.
Die religiös nicht vertretbare Gewohnheit, eine vokalisierte Form des Gottesnamens hemmungslos zu benutzen, zeigt, wie wenig Thieben noch auf grundlegende Sensibilitäten jüdischen Glaubens Rücksicht nehmen möchte, dass er wohl auch Juden nicht als implizite Leser vor sich sieht .

Thieben versucht, seine Kenntnisse des Judentums und des Christentums in seiner Rezeption der Texte Rudolf Steiners neu zu sichten und zu werten. Wer ist für die Tragik antisemitischer Denkmuster und Motive verantwortlich zu machen? Die Wahrnehmung der jahrhundertealten antisemitischen Grundierung der europäischen Gesellschaft kann nicht ein Heraustreten aus antijüdischen Traditionen in den 30er Jahren im Nachhinein als ethische Forderung aufstellen. Und diese Forderung könnte Thieben auch nicht mehr erreichen. Nach Jahrhunderten der Diskriminierung, wen wunderts, dass einzelne Juden auf vielerlei Wegen ihren Eintritt und Übertritt in die "normale Gesellschaft" suchten, eben auch über religiöse Suchfahrten durch Christentum und anthroposophische Gesellschaften, wobei die Fallen antisemitischer Clichées und Kulturvermächtnisse kaum umgangen werden konnten.
Sicher müssten wir in einer breiteren und fundierteren Diskussion erörtern, inwieweit ein anthroposophisches Enwicklungsmodell der Geistesgeschichte auf antijüdische bzw. antisemitische Depravationen verzichten kann. Die Thesen Thiebens aus den 30er Jahren zeigen eine Anfälligkeit, die der vieler christlicher Konfessionen durchaus vergleichbar ist und zugleich eine erschreckende Affinität zu rassistischen Kategorien aufweist.
Mein Aufruf an die Anthoposophen ist es daher, den selbstkritischen Weg, den viele Christinnen und Christen der Gegenwart zu gehen gewillt sind, mitzugehen, nämlich antijüdische und antisemitische Inhalte in der eigenen Tradition wahrzunehmen und zu kritisieren in der Hoffnung auf ein von geistiger und körperlicher Gewalt freies und auf ein pluralistisches Miteinander, das die Ethik aller Menschenrechte ehrt. Die körperliche Unversehrtheit und das Recht auf einen eigenen Wahrheitsanspruch stellen dabei eine enge Wechselbeziehung dar.


Das Nachwort von Thomas Meyer (1991)

Nach der Schoa stellt sich die Frage der Rezeption des Buches von Thieben grundsätzlich neu. Wir haben eine neue Sorgfaltspflicht - um die Totenehre der unschuldig ermordeten Opfer nicht zu schänden, und zugleich, um den elimininatorischen Antisemitismus Europas zu bekämpfen.

Der Verleger Thomas Meyer - er bezeichnet das Dritte Reich als grausigsten Höhepunkt eines inneren Abfalls - kommentiert in einem Nachwort Thiebens Buch als positiven geistesgeschichtlichen Beitrag.
Meyer bezeichnet den Zionismus "wie als Echo auf diesen wachsenden Nationalismus", wobei er den vorhergehenden Satz aufnimmt: "dieser wachsende Nationalismus" bezeichnet eindeutig den Nationalsozialismus, d.h. der Zionismus gilt bei Thomas Meyer als Echo des Nationalsozialismus. Dabei erhält der Titel "Deutsche und Juden: Zwei Menschheitsvölker" eine schreckliche Konkretisierung: Täter und Opfer, nämlich Nationalsozialisten und Juden werden parallelisiert. Dieses Phänomen ist nach der Schoa in vielen Bereichen zu beobachten und deutet darauf, dass Thomas Meyer es nicht aushalten will, sich in einer Tätertradition vorzufinden, für deren kritische Aufarbeitung wir Nachgeborene eine besondere Verantwortung hätten. Die Parallelisierung von Täter- und Opfertraditionen schändet m.E. das Gedenken der Ermordeten und ist als These ethisch falsch - und antisemitisch: "Judentum und Deutschtum ziehen sich (…) wie zwei parallele Geraden durch die gesamte Menschheitsentwicklung."
Meyer wiederholt, dass die Juden (und s.E. auch die Deutschen) als innerste Mission ihr exklusives Volksbewusstsein zu überwinden hätten , die Juden hatten (Plusquamperfekt!) die Aufgabe, dem "Herrn" (d.i. Christus) den Weg zu bereiten , und Meyer hebt heraus: "auch wenn sie denjenigen, dessen Kommen sie vorbereitet hatten, in ihren massgeblichen Repäsentanten nicht erkannten und bis auf den heutigen Tag nicht zu erkennen vermögen." Er nimmt die Ablehnungsthesen Thiebens (siehe oben) nicht nur unkritisiert, sondern affirmativ auf. Ethisch erneut verquer ist, gerade an diesen Gedanken erneut eine Parallelisierung mit dem "viel jüngere(n) Deutschtum" anzuknüpfen. Das Deutschtum sollte in diesem Jahrhundert die "Menschheit über das Wirken des ätherischen Christus aufklären, das wäre eine Zentralmission des Deutschtums im 20. Jahrhundert." Der Volksgeist der Juden und später der Volksgeist der Deutschen sei eine und dieselbe geistige Wesenheit gewesen . "Denn Michael (…) ist seit seinem Wirken als Volksgeist der Juden, zum 'Antlitz Christi' geworden." Meyer (es handelt sich bei diesem Text um ein Nachwort zu Thiebens Monografie) erneuert Thiebens Superioritäts- und Absolutheitsthesen, die religiös antijüdisch und rassistisch antisemitisch formuliert worden sind (siehe oben). Patronisierend und entmündigend bemerkt er: "- dann könnten sie (sc. die übrigen Völker der Welt) das nirgendwo besser lernen als bei Juden und Deutschen - sofern diese ihre universelle Mission zu begreifen imstande sind." Im Irrweg Deutschlands werden explizit "bemerkenswerte Parallelen" gesehen zum sog. Irrtum der Juden, dass sie Christus übersehen hätten und einer falschen Messiashoffnung anhangen würden. Herzls Schreiben nennt Meyer - deutlich abwertend - "(es) entspricht dem Typus der vorchristlichen Inspiration". Meyer wiederholt Thiebens strukturellen Antijudaismus. Z. B. Herzl erliegt - gemäss Meyer - "einem Geist der Täuschung, und deren gibt es wahrscheinlich sehr viele - und die am schwersten zu durchschauenden werden jene sein, die auch viel Wahres mit sich führen" .
Meyer wertet den Zionismus als (falsches) verführerisches Ziel eines Nationalismus und vergleicht den Zionismus mit der deutschen Geschichte des "Reiches", indem er zwei unverbundene, aber in Frankreich sich abspielende geschichtliche Fakten (Versailles und Herzls Tätigkeit in Paris) allegorisierend überhöht und wieder parallelisiert .

Dass Meyer ungebrochen und unkritisch 1991 formulieren kann, die "Judenfrage … zu lösen", deutet daraufhin, dass er sich zu wenig der semantischen Entwicklung dieses Begriffes bewusst ist. Wir können heute Worte, die seit den 30er-Jahren viele Morde mitlegitimierten, nicht mehr auf dieselbe Weise benutzen, wie sie vor der Schoa von Juden und Nichtjuden angewendet worden sind.

Meyer meint, die Juden seien als Wegweiser verantwortlich für den Weg der Menschheit : die Zuweisung von Aufgaben für das Judentum und die Projektion, welche Rollen die Juden für uns zu spielen hätten, machten die christliche Dogmatik jahrhundertelang zu einer Schatztruhe sich unendlich erneuernder geistiger und physischer Gewalt. Ich hoffe sehr, dass nicht nur wir Christen, sondern auch die Anthroposophen diesen Weg sich selber verbieten werden.
Auf dem Gipfel der Thesen Meyers stockt mir der Atem: Das Leiden und die Morde in der Schoa sollen uns die Augen öffnen für die "Grosstaten" Christi, von denen Herzl geträumt habe (eine erneute antijüdische Usurpierung), "so könnte der beste, sich fortentwickelnde Teil des Judentums sein, der dem Deutschtum in Zukunft bei der Verwirklichung seiner wahren Aufgabe beisteht" . Dieser Gedanke schändet das Märtyrium der Opfer Hitlers, die sich ihre Rolle, barbarisch ermordet zu werden, nicht ausgesucht hatten. Es ist menschlich und ethisch tief verletzend, den Opfern Nazi-Deutschlands eine Aufgabe in der Verwirklichung des Deutschtums zuzuweisen. Hier hat Herr Meyer es wirklich nötig, sich damit zu konfrontieren, wie wir uns mit den nicht aussprechbaren Grauen der Schoa auseinandersetzen können, um nicht Hitler neue Siege zu ermöglichen und die Opfer und Nachkommen der Opfer erneut zu verwunden.

Mit dieser Neulegitimierung der nach der Schoa kaum noch nachvollziehbaren Thesen von Thieben und mit seiner Schoa-Deutung einer Parallelisierung von Deutschen und Juden rettet Meyer nicht die "Blüte des Goetheanismus" der deutschen Kultur, sondern deutet auf ein schwieriges Antijudaismus- bzw. Antisemitismusproblem, dem sich die Anthroposophie ernsthaft stellen muss.
In einem verteidigenden Leserbrief kann Thomas Meyer nicht verstehen, dass die doppelte und parallelisierte "Mission" von Juden und Deutschen im Jahr 1991 eine verfehlte Kategorie ist, die sowohl Opfer verletzt, als auch eine sinnvolle Aufarbeitung der Tätertradition verhindert. Herr Meyer müsste sich ernsthaft mit Büchern zum Thema Antisemitismus befassen: Antisemitismus hat viele Formen. Selbstverständlich ist Herr Meyer (und war auch Herr Thieben) kein politischer Antisemit, der bewusst geistig und handgreiflich Juden verfolgt. Aber es gibt auch religiös antijüdische und geistig antisemitische Kontinuitäten über Jahrhunderte, die anwachsen und leider bis heute unkritisiert und ungebrochen kolportiert werden: das vorliegende Buch Thiebens und der Kommentar Meyers sind zwei Beispiele dafür. Ich glaube Herrn Meyer, dass er subjektiv ehrlich sein und nicht-antisemitische Dinge veröffentlichen möchte. Vielleicht bekräftigt eine selbstkritische Reue und Lernbereitschaft diese deklarierte Haltung.


Zur Rollenverteilung im Diskurs heute

Ludwig Thieben schreibt im Frühjahr 1930, dass er manch freundlichen Warner beschwichtigen musste, ja er entschliesst sich, die Warnungen als erste Gedanken seines Vorwortes zu publizieren . Sein Denken ist der Anthroposophie verpflichtetet und pendelt zwischen subjektivem Einfühlen und objektivierendem Analysieren. Thieben integriert einerseits das Judentum in sein biographisches Ich, um sich andererseits explizit jenseits der Grenzen des Judentums zu stellen . Diese Selbstdefinition des Autors gilt es m.E. zu respektieren. Thieben als "anthroposophischen Juden" wahrzunehmen, ist eine Falle, in die der Lesende m.E. nicht fallen darf: erstens versteht sich der Autor anders, zweitens würden wir ein antijüdisches Rezeptionsmodell wiederholen, wenn wir Juden, die sich anderen Identitätsstiftungen zugewandt haben, auf ihr Judentum zurückdefinieren möchten.
Es ist geistige Gewalt, wenn Nicht-Juden eine Person auf ihr Jude-Sein fixieren möchten, obwohl sie sich selber in nicht-jüdischen Traditionen beheimaten möchte. Diese geistige Prämisse hat Hitler als konstitutive Dimension seines Mordes am europäischen Judentum benutzt, und dieselbe Prämisse taucht heute ungebrochen und unreflektiert in der Apologetik gegen Antisemitismusvorwürfe auf. Nach der Schoa aber kann kein Mensch, der ein Fünkchen Ethik für sich beansprucht, verlangen, dass man auch nur in Grauzonen antisemitische Denkmodelle neu legitimieren dürfe. Dieses ethische Gefälle verschlimmert die Rolle des Verlegers, der sich entschliesst, nach der Schoa nicht nur einen Neudruck dieses Buches zu veranlassen, sondern einen mehr als fraglichen und in seiner Tendenz äusserst affirmativen Kommentar dazu zu verfassen.
Es ist kein Zufall, wenn der Verleger sich in seinem Leserbrief mit der rhetorischen Frage zu verteidigen meint, und, nota bene um Ludwig Thiebens jüdische Identität neu festzustellen, in bezug auf Amnon Reuveni formuliert: "Oder hört ein Jude, der anfängt Anthroposoph zu sein, auf, Jude zu bleiben?" Diese Fixierung einer Identität durch Zweit- und Drittpersonen versucht, anstelle der klaren Analyse kritisierter Denkmuster, jüdische Stimmen und jüdische Identitätsprofile zu benutzen, um sich selber zu verbergen. Auch bei den Gutachten mag mich nicht zu überzeugen, ob ein Gutachter sich biographisch im Judentum beheimatet fühlt oder nicht. Mich überzeugt ein Gutachter, der Antisemitismus-Phänomene professionell begutachten kann und dazu die nötige (Aus)Bildung erarbeitet hat.
Wenn nun der Verleger von Zeitgenossen kritisch hinterfragt wird, möchte ich ihn ermuntern, die fraglichen Denkmuster zu untersuchen: diejenigen Aspekte, die sich als antisemitisch entpuppen (die ich in ihren Grundzügen meine, dargestellt zu haben), müssen wir kritisieren und korrigieren; wenn sich Aspekte als nicht-antisemitisch darstellen, brauchen wir für sie auch keine Lebensbilder als Zeugen zu bemühen, die nicht das Denken, sondern persönliche Biographien thematisieren.

Wir müssen in aller Differenziertheit zugeben, dass die Apologetik gegen Antisemitismusvorwürfe in vielen nicht-jüdischen Traditionen Parallelen aufweist. Ein Beispiel: Wenn Meyer auf die Verfolgung durch Hitler und seine Schergen hinweist, um Antisemitismusvorwürfe in den Wind zu schlagen oder zumindest zu entschärfen, geht er einen Weg, der in den letzen Wochen in einer anderen Tradition von sich reden machte. Die katholische Kirche hat einen ähnlichen Weg eingeschlagen, indem sie auf "Anti-Christliches" der Nazis hingewiesen hat, um die geschichtlichen Täterrollen neu zu bewerten, mit denen wir Christen in schmerzlichem Erinnern immer wieder kofrontiert werden. Mit dem Hinweis auf fiktive oder faktische Verfolgungssituationen wird schon fast stereotyp versucht, von der schmerzlichen Erkenntnis abzulenken, dass auch Kernstücke eigener Denk- und Glaubenstraditionen vor Antisemitismus nicht gefeit waren und sind. Diese im Christentum seit vielleicht vier Jahrzehnten in sinnvoller Breite und intellektueller Tiefe gestellten Fragekomplexe, die keinen Christen unberührt lassen - es sei denn durch Verdrängung, müssen m.E. auch in der Anthroposophie in ihrem ganzen Umfang aufgearbeitet werden.

Dieser Basler Buchskandal hat ein Desideratum unserer Kulturgeschichte neu beleuchtet und soll im besten Fall dazu beitragen, dass auch die Anthroposophie freiwillig den unumkehrbaren Prozess der Selbstkritik einläutet, nämlich Antijüdisches bzw. Antisemitisches in der eigenen Traditionen wahrzunehmen und aufzuarbeiten.
Dass der Verleger - subjektiv sicher ehrlich - über die Geschehnisse in der Schoa erschreckt ist, mag ein wichtiger erster Schritt in die richtige Richtung sein, um sich in einem zweiten Schritt dem Inhalt der Antisemitismusvorwürfe intellektuell zu öffnen, statt sich abwehrend zu verteidigen.
Ein schlichtes Üben von Selbstkritik und Lernbereitschaft würden genügen, um eine neue Basis der Mitmenschlichkeit zu finden. Wenn die Anhänger der Denkkultur dieses Buches bei der Apologetik und Verharmlosung antisemitischer Denk- und Handlungsmuster verharrten, würden sie - nach all den Gutachten und öffentlichen Warnungen aus bewusst gewählter Uneinsichtigkeit - Antisemitismus schüren. Wenn der Perseus-Verlag dieses Buch aus dem Verkauf zurückziehen und zur wissenschaftlichen Analyse in Bibliotheken archivieren würde, könnte er diese unangenehme Episode zum Guten verwandeln: jenseits einer selbstkritischen Lernbereitschaft wartet nämlich nicht Scham, sondern Mitmenschlichkeit; jedoch ein Vermeiden oder Verdrängen einer fälligen Selbstkritik kann nur Scham und neue kulturelle Gewalt evozieren. Ich appelliere an die selbstkritische Lernbereitschaft des Perseus-Verlags: ein Zeichen der Selbstkritik würde für alle Beteiligten zum Baustein interkultureller Solidarität innerhalb und ausserhalb der Stadt Basel.


Basel, 31. Dezember 1997

Nico Rubeli-Guthauser

 

 
 

 



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