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Korrekturen am Bild von Rudolf
Steiner
War der Gründer der Anthroposophie ein Antisemit? Der Streit
um diese Frage löste eine heftige Kontroverse in Dornach aus.
Von Hugo Stamm, 20. Januar 1999, Tages-Anzeiger,
Zürich,
Rudolf Steiner, der Gründer und Übervater
der Anthroposophie, schrieb: "Das Judentum als solches hat
sich aber längst ausgelebt, hat keine Berechtigung innerhalb
des modernen Völkerlebens, und dass es sich dennoch erhalten
hat, ist ein Fehler der Weltgeschichte." Würde Steiner
diesen Satz heute veröffentlichen, müsste er sich wohl
wegen Verletzung des Anti-Rassismus-Gesetzes verantworten. Doch
er machte die Aussage 1888 im Alter von 27 Jahren. Nun holt der
Schatten aus jener düsteren Zeit die Anthroposophen ein, und
Steiner muss es sich posthum gefallen lassen, dass in den heiligen
Hallen des Goetheanums darüber diskutiert wird, ob er ein Antisemit
war. So geschehen am letzten Dienstag in Dornach.
Kritische Töne
Allein schon die Tatsache, dass sich die Anthroposophen dieser schmerzlichen
Diskussion stellen und in ihren Räumen am Monument von Steiner
rütteln lassen, ist bemerkenswert. Der Titel der Veranstaltung
- "Podium zur Verständigung von Judentum und Anthroposophie"
- machte die erheblichen Berührungsängste mit dem Thema
deutlich. Und die Spannung im ehrwürdigen "Grundsteinsaal"
des Goetheanums war mit Händen greifbar, als Nicht-Anthroposophen
sich kritisch zu Steiner äusserten.
Ohne Druck von aussen wäre diese "Verständigung"
wohl nicht möglich gewesen. Auslöser war eine Veranstaltung
zum Thema "Antisemitismus, Rassismus und Sexismus in der Anthroposophie?",
die die "Aktion Kinder des Holocaust" zusammen mit der
Basler SP und anderen im vergangenen September geplant hatte. Nach
einem Streit zwischen Anthroposophen und Steiner-Kritikern warf
SP-Ständerat Gian-Reto Plattner, der das Gespräch hätte
leiten sollen, das Handtuch, und die Veranstaltung platzte in letzter
Minute. Nun sahen sich die Anthroposophen gedrängt, selbst
aktiv zu werden.
Geteilte Meinungen
Ein gewagter Schritt, wie die Stimmung im grossen Saal des Goetheanums
am Dienstag zeigte. Kritik an Steiner goutierte das mehrheitlich
anthroposophische Publikum schlecht. Es durfte zwar nichts sagen,
doch die Befindlichkeit war unüberhörbar und unübersehbar.
Einem Zuhörer platzte prompt der Kragen, und er beschimpfte
einen jüdischen Referenten lautstark.
Das Fazit der Veranstaltung: Rudolf Steiner
war kein Antisemit. Darin waren sich die jüdischen und anthroposophischen
Redner einig. Doch damit waren die Gemeinsamkeiten erschöpft.
Wie es denn die Anthroposophen allgemein mit dem Antisemitismus
haben und ob Steiner diesem Vorschub leistete - darüber gingen
die Meinungen auseinander.
Theologieprofessor Ekkehard Stegemann von
der Uni Basel machte im Eingangsreferat eine Auslegeordnung mit
einschlägigen Zitaten. Bei Steiner fand er nicht viele, bei
den beiden weiteren anthroposophischen Autoren Ludwig Thieben und
Karl König allerdings schon. "Alle drei lehnten den Antisemitismus
ab", sagte Stegemann, trotzdem hätten sie teilweise massive
antisemitische Vorurteile tradiert. Stegemann glaubt, dass Thiebens
umstrittenes Buch "Das Rätsel des Judentums" im Zusammenhang
mit der Anthroposophie gesehen werden muss. Deshalb bezeichnete
es der Theologieprofessor als "Ausfluss der Lehren Rudolf Steiners".
Dass das Buch 1991 neu aufgelegt wurde, ist für Stegemann "ein
Skandal". Die Basler Staatsanwaltschaft, die sich mit Thiebens
Werk befassen musste, stufte es als "abstruse allgemeine rassistische
Blut- und Religionstheorie" ein.
Der Anthroposoph Andreas Heertsch sah die
eingangs zitierte Aussage von Steiner als Polemik, die dieser "aus
der Stimmung seiner Zeit und dem jugendlichen Vergnügen an
drastischen Formulierungen" geschrieben habe. Es gebe viele
Textstellen, aus denen hervorgehe, dass Steiner kein Antisemit gewesen
sei. Heertsch erwies zwar dem Judentum wortreich die Reverenz, distanzieren
von Steiner oder auch nur von einzelnen seiner Aussagen mochte sich
der Anthroposoph aber nicht. Sein Schluss: "Manche Aussagen
Rudolf Steiners sind im historischen Kontext verständlich,
aber nach dem Holocaust nicht mehr vertretbar." Ratlos machte
dann seine Frage: "Warum muss das jüdische Volk Jahrhundert
um Jahrhundert leiden, nicht nur unter Christen, auch unter Muslimen,
Kommunisten und sicher auch noch unter anderen Gruppierungen?"
Peter Liatowitsch von der Christlich-Jüdischen
Arbeitsgemeinschaft erklärte, diese Frage von Heertsch habe
ihn enttäuscht. Er liess durchblicken, dass in dieser Frage
alte Ressentiments gegenüber dem Judentum aufblitzen würden,
weil in der Formulierung die Juden selber als Urheber ihrer Probleme
gesehen werden könnten. Und Gesprächsleiter Plattner nannte
die Aussprache eine "Diskussion unter Tauben". Doch alle
hoffen, sie werde weitergeführt.
«Vor solcher Geisteswissenschaft
graut mir»
Von Christof Wamister, 20. Januar 1999, Basler-Zeitung
«Judentum und Anthroposophie»
- Juden, Christen und Anthroposophen diskutierten im Goetheanum
Das «Podium zur Verständigung von
Judentum und Anthroposophie», das am Dienstagabend im Goetheanum
über die Bühne ging, hat eine kurze und eine lange Vorgeschichte.
Im September des vergangenen Jahres
hätte im Basler Gewerkschaftshaus eine ähnliche Veranstaltung
zum Thema «Antirassismus und Anthroposophie» stattfinden
sollen, veranstaltet von linken Parteien und der Aktion «Kinder
des Holocaust». Sie platzte, weil man sich über die Modalitäten
und den Auftritt bestimmter Personen nicht einigen konnte. Der für
die Moderation angefragte Ständerat Gian-Reto Plattner warf
darauf das Handtuch ( BaZ vom 8. 9. 1999).
Ein neuer Anlauf hatte nun Erfolg - unter
geänderten Vorzeichen. Zu Gast war man im Goetheanum, und das
Thema war auf den Bereich Judentum und Anthroposophie eingeschränkt.
Die Anthroposophie, diese nicht nur in der Region wegen ihrer Schulen,
Ernährungslehre, Medizin etc. wohlgelittene, ja geschätzte
«freie Geisteswissenschaft», ist in den letzten Jahren
etwas unter Druck geraten. Denn im über 350 Bände umfassenden
Gesamtwerk ihres Begründers Rudolf Steiner gibt es Passagen,
die zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr ohne weiteres zu goutieren
sind.
Von Steiners Rassen- und Zeitalterphilosophie war am Dienstag nicht
die Rede, wohl aber von seinen Ausführungen über die Juden,
das jüdische Volk. Ekkehard Stegemann, Basler Neutestamentler
und Präsident der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft,
brachte Beispiele solcher «antijüdischer Stereotypen».
Das Judentum als solches habe sich längst ausgelebt, schrieb
der 27-jährige Steiner: Es «hat keine Berechtigung innerhalb
des modernen Völkerlebens, und dass es sich dennoch erhalten
hat, ist ein Fehler der Weltgeschichte». Rudolf Steiner wünschte
sich die Vermischung des Judentums mit der übrigen Menschheit.
Stegemann begründete diese Haltung mit dem tief verwurzelten
antijüdischen Denken im Christentum. Weil sie Christus abgelehnt
haben, sind die Juden verworfen. In der Sicht von Steiner hatte
das jüdische Volk die Aufgabe, «den Sonnengeist im Jesus
Christus leiblich hervorzubringen, danach aber hat es zu verschwinden».
So interpretierte es der Theologe Stegemann. Als Gegner des Nationalismus
lehnte Steiner auch den Zionismus ab.
«Wenig Sinn für Geschichte»
Stegemann kam zum Schluss, dass Steiner von
der jüdischen Kultur-, Religions- und Literaturgeschichte einfach
zu wenig wusste. Dem pflichtete auch der Judaica-Forscher Ernst
Ludwig Ehrlich bei. Steiner habe überhaupt «wenig Sinn
für Geschichte» gehabt, stellte er fest, was beim mehrheitlich
anthroposophischen Publikum ein ironisches Gelächter provozierte.
Keine Gnade kannte dann Stegemann bei den Epigonen Steiners auf
diesem Gebiet: Ludwig Thieben, dessen Buch über «Das
Rätsel des Judentums» in Basel 1991 wieder aufgelegt
wurde und eine Rassismus-Strafanzeige provozierte. Thieben war selber
jüdischer Abstammung, baute aber Steiners antijüdische
Stereotypen noch aus. Keine Diskussion ist laut Stegemann bei den
Vorträgen möglich, die der anthroposophische Pädagoge
Karl König 1965 in Deutschland hielt. Auf verquere, «wahnhafte»
Weise werde darin den Juden noch die Schuld am Holocaust zugeschoben.
«Vor solch einer <Geisteswissenschaft> freilich graut
mir», schloss Stegemann.
Die Anthroposophen auf dem Podium, Andreas Heertsch, Walter Kugler
und David Schweizer, distanzierten sich von solchen Auswüchsen,
bemühten sich aber, Steiner selber aus der Schusslinie zu nehmen.
«Steiner war kein Antisemit», wurde betont; er sei in
ständigem Dialog mit jüdischen Intellektuellen und auch
Zionisten gewesen. «Steiner wollte kein Antisemit sein»,
korrigierte Ehrlich. Andreas Heertsch stellte die von Stegemann
analysierten Zitate in den historischen Zusammenhang von Steiners
Werk: «Manche Aussagen Steiners sind im historischen Kontext
verständlich, aber nach dem Holocaust nicht mehr vertretbar,
weil es seitdem erst einmal um Betroffenheit und Anteilnahme geht.
Teilnahmslose Sichten nach dem Holocaust (...) erlebe ich als taktlos.»
Die Idee, dass sich das jüdische Volk nach seiner versuchten
Vernichtung aufzulösen habe, leiste dem Antisemitismus Vorschub.
Jedes Volk habe ein Recht auf seine eigene Kultur. Dennoch werde
der nationalistische Staat in der Gegenwart zum Anachronismus, sagte
Heertsch in seiner zweiten Schlussthese.
Dunkle Ecken ausleuchten
Peter Liatowitsch, Präsident der Jüdischen
Gemeinde Basel, zeigte sich allerdings nicht erfreut über die
Forderung, den Nationalgedanken aufzugeben. Dagegen fand Heertschs
Schlussformulierung auf der jüdischen und christlich-weltlichen
Seite des Podiums grossen Anklang: «In der geistigen Auseinandersetzung
mit der jüdischen Kultur befürchte ich bei uns Anthroposophen
ein Defizit und bitte Sie, uns gegebenenfalls bei der Aufarbeitung
zu unterstützen.» Diskussionsleiter Gian-Reto Plattner
warnte da vor einer voreiligen Versöhnung. Der Zusammenhang
zwischen der Weltanschauung Steiners und rassistischem Gedankengut
sei noch nicht restlos geklärt. Und was wird eigentlich an
den Rudolf-Steiner-Schulen gelehrt? Plattner deutete an, dass es
der Anthroposophie gleich ergehen könnte wie der Schweiz nach
1995. Darum sei es besser, sich sofort ans Werk zu machen und die
dunklen Ecken auszuleuchten.
Abgesehen von einem vereinzelten Zwischenruf (gegen Ehrlich) kam
das Publikum nicht zu Wort. Plattner lud zu vorgerückter Stunde
nicht mehr zur Saaldebatte. Doch die Diskussion wird zweifellos
weitergehen.
Rudolf Steiner
Die Geschichte holt die Anhänger
ein
von Iso Ambühl, 20. Januar 1999, Berner-Zeitung
War Rudolf Steiner (1861-1925), Begründer der Anthroposophie,
ein Rassist und Antisemit? Kritiker werfen Steiner vor, in seinen
Schriften rassistische und antisemitische Vorurteile formuliert
zu haben.
Das Goetheanum im solothurnischen Dornach, weltweites Zentrum der
Anthroposophischen Gesellschaft, war am Dienstag Ort einer speziellen
Begegnung: Erstmals hierzulande stellten sich Anthroposophen öffentlich
Kritikern, welche Rudolf Steiner und anderen anthroposophischen
Autoren wie Ludwig Thieben und Karl König vorwerfen, in ihren
Schriften massive antijüdische und antisemitische Vorurteile
zu formulieren. Die Veranstaltung zum Thema Judentum und Anthroposophie
fand sozusagen im innersten Zirkel des Goetheanums, im Grundsteinsaal,
statt. Dass die Thematik bewegt, zeigte sich daran, dass der grosse
Saal sehr gut besetzt war.
Auseinandersetzung nötig
Basels SP-Ständerat und Diskussionsleiter Gian-Reto Plattner
forderte die Anthroposophen auf, analog der Schweiz bei den nachrichtenlosen
Konten das Problem zu erkennen und sich mit den Vorwürfen gegenüber
dem Werk Steiners auseinanderzusetzen. Kritiker Steiners ist der
Basler Theologieprofessor Ekkehard W. Stegemann. Er betont zwar,
dass Antijudaismus in der christlich-abendländischen Kultur
mal latenter, mal manifester sei. Steiner wirft er vor, dass er
dem Judentum nach der Geburt von Christus keine Existenzberechtigung
mehr zuweise. Auch wenn gewisse Stellen in den Schriften teils aus
dem Zeitgeist heraus zu erklären seien, verlangt Stegemann,
dass sich die Anthroposophen davon klar distanzierten.
Während zwei Anthroposophen in der Diskussionsrunde die kritisierten
Passagen nicht hinterfragen wollten und auf die vielen jüdischen
Freunde Steiners hinwiesen, macht es sich Andreas Heertsch, Vorstandsmitglied
der Anthroposophischen Gesellschaft, nicht so einfach. Er weist
zwar darauf hin, dass die Anthroposophie auf die Individualität
des Menschen setze und somit «völkische Gesichtspunkte»
keine Rolle spielten. «Wenn die jüdische Kultur etwa
durch Assimilation verschwinde, dann sehe ich darin eine entschiedene
Verarmung der Kultur der Gegenwart», betont Heertsch. «Wenn
Steiner dieser Ansicht wäre, würde ich ihm widersprechen
und darauf hinweisen, dass wir ja bei anderen Kulturen, die in unseren
Augen ihre Aufgabe erfüllt haben, auch nicht auf die Idee kämen,
zu sagen, die Völker sollen sich auflösen.»
«Mulattenähnliche Kinder»
Der Münchner Journalist und Politologe Peter Bierl trägt
in seinem Buch «Wurzelrassen, Erz-engel und Volksgeister»
weiteres Material zusammen. Er wirft Steiner Rassismus vor, wenn
er in seinen Schriften die Überlegenheit der Weissen und die
Minderwertigkeit nicht-weisser Menschen betont.» Bierl führt
Beispiele aus dessen Werk an:
* «Die weisse Rasse ist die zukünftige, ist die am Geiste
schaffende Rasse» (Gesamtausgabe GA, Bd. 349, S. 52).
* «Die Negerrasse gehört nicht zu Europa, und es ist
natürlich ein Unfug, dass sie jetzt in Europa eine so grosse
Rolle spielt» (GA, Bd. 349, S. 53). Steiner warnt gar davor,
schwangeren weissen Frauen «Negerromane» zu geben: «
da
entsteht durch rein geistiges Lesen von Negerromanen eine ganze
Anzahl von Kindern in Europa, die ganz grau sind, Mulattenhaare
haben, die mulattenähnlich aussehen werden» (GA Bd. 348.
S. 186).
Nicht ohne Erklärung
In einer niederländischen Untersuchung wurde vor zwei Jahren
festgestellt, dass mindestens 62 Textstellen in Steiners Werk diskriminierend
wirken könnten und nicht mehr unkommentiert veröffentlicht
werden sollten. Gegenüber der BZ betonte Bierl, dass die von
Steiner und seinen Getreuen entwickelte rassistische Evolutionsvorstellung
jetzt endlich kritisch aufgearbeitet werden sollte. Er wirft zudem
den Waldorf- oder Steiner-Schulen vor, «verkappte Religionsschulen»
zu sein: «Die Anhänger Steiner's missionieren zwar nicht,
versuchen aber, Menschen über ihre Einrichtungen zu rekrutieren».
Ein Anfang gesetzt
Mit der Diskussion in Dornach, glaubt Theologieprofessor Ekkehard
W. Stegemann, wurde ein Anfang zur Aufarbeitung der Thematik gesetzt.
Heertsch erklärt jedenfalls, dass mit dem Holocaust Völkervernichtung
ihre barbarischste Ausprägung erlangt habe: «Wer nach
dem Holocaust fordert, erwartet, hofft oder diskutiert, dass das
jüdische Volk - aus welchen Gründen auch immer - sich
auflösen, assimilieren oder sonstwie verschwinden solle, ist
nicht nur taktlos, sondern leistet vorsätzlich oder fahrlässig
dem Antisemitismus Vorschub.»*
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