Das Reden von "Menschenrassen":
eine Krankheit unserer Gesellschaft?

Jüdische Rundschau, 27. Januar 2000

Sollen wir? Müssen wir? Oder verdrängen wir? Oder reden wir einfach so oberflächlich darüber, um uns nicht konfrontieren zu müssen? Als ob wir der Scham vor erfundenem Hass und verübten Mordtaten ausweichen könnten! Antisemitismusdebatten stürzen Vertreter kritisierter Traditionen in Bedrängnis. Wir Christen kennen Verhaltensmuster der Abwehr oder der Verdrängung beim Thema Judenhass zu gut. Wir haben erst nach der Schoa begonnen, uns überhaupt diese Frage in ihrer Tiefe zu stellen. Nach gut 1800 Jahren theologischem Antijudaismus, der sich rasch zum gewalttätigen Antisemitismus wandelte! Und etwa 20 Jahre brauchten die verschiedenen Konfessionen, um je institutionalisierte Kritik in den eigenen Reihen nicht mehr zu bekämpfen, sondern als Befreiung aus selbstverschuldeten Gewalttheorien zu begrüssen. Und auch dies noch immer nicht ohne Widerstände - auch heute noch.

Anthroposophen tun sich in den letzten Jahren im Umgang mit Antisemitismus schwer. Eine einschlägige Monografie zum Thema veröffentlichte 1931 der Steiner-Schüler Ludwig Thieben unter dem Titel "Rätsel des Judentums". Thieben konvertierte vom Judentum zum Christentum, um sich dann der Anthroposophie zuzuwenden. Sein Buch kam wenige Jahre nach der Neuauflage (1991) in nicht-anthroposophische Hände. Zum Erstaunen des Verlegers entbrannte eine öffentliche Diskussion nicht nur über die antijüdischen Theorien und antisemitischen Klischees in Thiebens Buch, sondern auch über die schreckliche Verschärfung dieser Thesen durch das Vorwort des Verlegers: wohlgemerkt 1991. Die Thesen des Verlegers gipfeln im schrecklichen Gedanken, dass das Leiden und die Morde in der Schoa uns die Augen öffnen sollen für die "Grosstaten" Christi, von denen Herzl geträumt habe (eine unfaire Fremdbestimmung Herzls), "so könnte der beste, sich fortentwic kelnde Teil des Judentums sein, der dem Deutschtum in Zukunft bei der Verwirklichung seiner wahren Aufgaben beisteht" (S. 254). Diese Theorie ist nicht einfach abwegig. Sie verletzt die Ehre der Toten. Sie stört das Gedenken der Trauernden. Die Opfer sollen ihren Sinn in der Tradition der Täter erhalten?! Die Schoa soll eine esoterische Sinngebung erhalten?!

Es benötigte mehrere Anläufe, um überhaupt miteinander zu reden: seit Juni 1998 wurden Gesprächsangebote unentschuldigt nicht eingehalten oder abgelehnt oder durch die Aufbietung eines bekannten Verfechters von unwürdigen Thesen verunmöglicht.

Endlich war es so weit! Ein historischer Moment. In der kühlen Nacht von Dornach strömen Anthroposophen und Experten von Antisemitismusdebatten in den Grundsteinsaal des Goetheanum, um sich den Fragen von "Antijudaismus in der Anthroposophie?" (Referat Prof. Ekkehard Stegemann, Uni Basel, Antisemitismusexperte und Neutestamentler) und von "Individualismus in der Anthroposophie!" (Referat Dr. Andreas Heertsch, Leiter des Goetheanum-Zweigs und Arzt) zu stellen. Man sah sich gegenseitig an. Gab sich beim Gehen höflich den Vortritt. Man beachtete Mode und Haartracht. Der Abend war geprägt von gegenseitigem Besehen und Beschnuppern. Der rhetorisch ausgearbeitete Vortrag von Ekkehard Stegemann machte das Angebot, dass Antisemitismus eine gesellschaftliche Krankheit sei, von der sich jede Tradition im Sinne einer Selbstaufklärung zu befreien habe. Er zeigte nicht nur differenziert Fazetten antijüdischer Denkstrukturen und antisemitischer Klischees bei Rudolf Steiner auf, er gewichtete auch den Willen Steiners, nicht Antisemit sein zu wollen und auch Antisemiten kritisiert zu haben. Er diagnositiziert in aller Klarheit den "negativen Mythos über Juden in der Anthroposophie" in der "seit Steiner nachweisbaren Auffassung, dass jüdische Existenz zu verschwinden habe". Die schreckliche antisemitische Wirkungsgeschichte Steiners bei Schülern der Anthroposophie, wie Ludwig Thieben und Karl König dürfe gerade nicht mit Steiner in-eins gesetzt werden, sondern müsste heute von Anthroposophen aufgearbeitet und kritisiert werden. Er wies auch auf erste hilfreiche Statements in dieser Richtung durch die AAG hin. Der Applaus im überwiegend anthroposophischen Publikum war sehr verhalten. Viele liessen die Hände im Schoss ruhen. Ob dies ein Omen für die Zukunft ist?

Dr. Andreas Heertsch ging in einer gehobenen Dialogkultur auf das Thema ein. Er gab Defizite in bezug auf Kenntnisse des Judentums zu und war auch gewillt, sich für Kritik zu öffnen. Wichtig war seine erste These: "Mit dem Holocaust hat Völkervernichtung ihre barbarischste Ausprägung erlangt. Wer nach dem Holocaust fordert, erwartet, hofft oder diskutiert, dass das jüdische Volk - aus welchen Gründen auch immer - sich auflösen, assimilieren oder sonst wie verschwinden solle, ist nicht nur taktlos, sondern leistet vorsätzlich oder fahrlässig dem Antisemitismus Vorschub." Ein wichtiger Schritt - und es wäre viel mehr, als nur taktlos … Theoretisch bleibt die Frage, die Dr. Andreas Heertsch als Schlusswort aufnahm: Er möchte sich von Antisemitismus distanzieren und ist auch bereit, anthroposophische Worte kritisch zu durchleuchten. Aber er möchte Geschichte weiterhin evolutiv und teleologisch anschauen, d.h. Geschichte als eine Entwicklung des Geistes zum Besseren mit Sinn und Ziel anschauen. Er möchte weiter den Völkern und Kulturen Aufgaben zuweisen. Und er fragt, was heute die Aufgabe des Judentums sei. Er könne dies nicht beantworten. Diese Struktur, andern Menschen Aufgaben zuzuweisen, beinhaltet immer Fremdbestimmung. Und hier bleibt für mich die grundsätzlichste Frage: kann das anthroposophische Denksystem, das alle Menschenvölker, ja oft auch "Rassen" Aufgaben zuteilt und ihren Sinn von aussen eruiert, je demokratisch werden, d.h. wird die Anthroposophie die Autonomie und Selbstbestimmung der Nicht-Anthroposophen in aller Freiheit zulassen? M.E. müssten alle Nichtjuden lernen, Juden aus Fremdbestimmungen freizulassen, Juden nicht zu entmündigen. Es geht nicht an, dass wir "für Juden" - wie Eltern für ihre Kinder - Aufgaben suchen oder zugestehen. Demokraten im wahren Sinn des Wortes lassen Juden endlich nicht nur rechtlich, sondern auch in ihrem Denken frei, selber zu sagen, wer sie sein möchten und was für sie selbst Sinn ist. Dass der einzige Anthroposoph, der sich an diesem Abend überhaupt der Kritik etwas öffnete, trotzdem nachfragen wollte und musste, warum Juden leiden und was denn ihre andere Aufgabe sei, ist die tiefe Beunruhigund, die gestern geblieben ist.

Prof. Ernst-Ludwig Ehrlich und Dr. Peter Liatowitsch nahmen die Aufgabe wahr, menschliche Brücken zu bauen und jede Gesprächsbereitschaft weiter wachsen zu lassen. Auch die Beunruhigung, ja die Regression in den alten Mythos, Juden auf ihr "Leiden-Müssen" zu befragen, wurde in aller Freundlichkeit geäussert und konnte zumindest von Dr. Heertsch ohne Wenn und Aber aufgenommen werden.
Eher kraus muteten die Voten von David Schweizer an, der sich als bekennender Jude und bekennender Anthroposoph vorstellte. Mit einer Flut von Zitaten verteidigte er Steiner und auf seine defensive Haltung angesprochen, verteidigte er seine Defensive. Auch der Nachlassverwalter von Steiner-Schriften Dr. Walter Kugler glänzte mit abwehrenden Zitaten und der Fokussierung auf die Person Steiners. Die kritischen Zitate Steiners meinte er mit einer biographischen Situierung überwinden zu können.

Dr. Heertschs Selbstkritik ist hoch zu bewerten. Jedoch konnte auch er das Angebot, Antisemitismus historisierend zu überwinden nur so verstehen, dass eine biographische Einbindung der Zitate in das Leben Steiners eine Relativierung ermögliche.

Zum wichtigsten Zitat von 1924 - einem Jahr vor Steiners Tod - versuchte er sich, zugleich etwas abwehrend und dennoch affirmativ zu verhalten: "Hat das jüdische Volk seine Mission in der Menschheitsentwicklung erfüllt?" Und er wies mehrfach daraufhin, dass Nationalismus schrecklichstes Grauen - wie die Schoa oder ethnische Säuberungen im Balkan - hervorbringe. Die Rolle der Juden droht wieder zwischen Opfer und Täter zu osziellieren. Und wieder merken wir: Antisemitismuskritik kann eine grundsätzliche Theoriekritik auf allen Ebenen nicht vermeiden, wie auch wir als kirchliche Christen immer wieder schmerzlich erfahren müssen.

Ständerat Plattner sprach die Vertreter der Anthroposophie auf Errungenschaften ihrer Tradition an und wies auf die nationale Aufarbeitung des Antisemitismus in der Schweiz hin, um inständig zu bitten, sich zu den kritischen Fragen nicht nur defensiv, sondern auch inhaltlich zu verhalten, nämlich antisemitische Texte nicht wegzudiskutieren, sondern zu überwinden.

Das Publikum blieb aufmerksam und ruhig für mehr als zwei Stunden. Verhaltene Bemerkungen - "unglaublich, was der jetzt wieder unterschiebt" - und die passive Abwehr gegenüber den Kritikern prägte die Atmosphäre, als ein Mann, der es offenbar kaum noch aushalten konnte, die Rede von Professor Ehrlich mit vulgären Worten beschimpfte und gemassregelt werden musste. Die vielen Gesprächskreise, die nach dem Vortrag noch lange in der kalten Nacht vor dem Goetheanum stehen blieben, könnten zweierlei bedeuten: Vielleicht wird das Thema nun ernst genommen, oder aber, die Abwehr wird jetzt erst recht aufgebaut und gegenseitig gestärkt. Das fast missionarische Flehen einer Dame, gerade die antisemitischsten Texte anders und positiv zu lesen, stimmte mich eher resignativ.

Atlantis und die Lehre von "Menschenrassen" finden wir in Schulheften von Waldorfschülern. Z.B. im Unterrichtsfach Weltgeschichte der 5. Klasse der Rudolf Steiner Schule Birseck bei Dornach: "Zwischen Europa und Amerika, wo sich heute ein grosses Meer befindet, gab es einmal einen Erteil, Atlantis genannt. Die Erde war damals weicher, die Luft aber dichter und von Nebel durchzogen. Eine wuchernde Pflanzenwelt bedekte den den Boden. In langen Zeiträumen entstanden verschiedene Menschenrassen, deren Nachkommen heute in den schwarzen, roten, gelben und weissen Völkern anzutreffen sind. Damals hatten die Menschen noch einen weichen, bildsamen Leib…" Die Lehre von "Menschenrassen" ist menschenverachtend; und sie wird noch heute unseren Kindern gelehrt!
Dank dem Patronat von Ständerat Gian-Reto Plattner und der menschlich nicht zu unterschätzenden Geste von Professor Ekkehard Stegeman, Professor Ernst-Ludwig Ehrlich und Dr. Peter Liatowitsch, die auf jedes Wort der Polemik verzichtet haben, hat nun der Goetheanum-Zweig der Anthroposophie die Chance zu wählen: entweder haben die Vertreter der Anthroposophie die Kraft, sich der barbarischen Unterseite ihrer Kultur zu stellen und sich selbstkritisch vom Antisemitismus in anthroposphischen Texten und Vorstellungen zu trennen, oder die Anthroposophie verweigert sich den Werten unserer demokratischen Kultur und muss in aller Offenheit als Tradition mit Hang zu "Rassenlehre" und "Antisemitismus" beobachtet und notfalls rechtlich in die Schranken der Menschenrechte gewiesen werden. Freiheit des Geistes darf nie als Feigenblatt für Diskriminierungen benutzt werden. Denn: Diskriminierungen bedeuten in jedem Fall Gewalt.

Basel, 27. Januar 2000 Nico Rubeli-Guthauser

 
 

 



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