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zu stefan mächlers buch über wilkomirski / doesekker | |||
Brief
an Stefan Mächler Bereits 1998 äusserte Daniel Ganzfried auf Grund seiner Recherchen in der «Weltwoche» schwere Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Identität Wilkomirskis und seiner Kindheitserinnerungen. Der Autor heisse eigentlich Bruno Doessekker und sei weder jüdischer Abstammung noch in einem KZ gewesen. Der Verdacht auf Fälschung verdichtete sich zunehmend, im letzten Herbst zog der Suhrkamp-Verlag das umstrittene Buch zurück. Im Präsidialdepartement habe indes, wie Roman Hess, der Sekretär der Literaturkommission, auf Anfrage sagt, der Grundsatz in dubio pro reo gegolten. Die neusten Untersuchungen von Stefan Mächler (NZZ 8. 7. 00) hätten nun bewiesen, dass es sich bei «Bruchstücke» um eine frei erfundene Autobiographie handle und dass sich der Autor Binjamin Wilkomirski alias Bruno Doessekker auf keine jüdische Identität berufen könne, weshalb sich die Stadt Zürich von Autor und Buch distanziere und die verliehene Ehrung zurücknehme. Es gehe nicht an, sich als Opfer konkreter historischer Vorfälle dazustellen, sagt Hess: «Identitäten wie jene der Holocaust-Opfer stehen nicht einfach zur freien Verfügung.» Die Stadt werde allerdings das Preisgeld nicht zurückfordern: «Wenn der Autor daraus diese Konsequenz ziehen will, kann er das Geld zurückzahlen.» Biographie. Kein Spiel Erweisen Historikerstreit, Restitutionsdebakel und Querelen um das Berliner Holocaust-Memorial das Ringen um eine adäquate Form «öffentlicher» Erinnerungskultur, so schien mit der Memoirenliteratur ein authentisches Medium für die individuelle Vergegenwärtigung zuhanden: Die ungebrochene Konjunktur «Anne Franks», der Widerhall, den die literarisierten Erinnerungen von Ruth Klüger, Louis Begley und Imre Kertész finden, belegen den unstillbaren Hunger nach Exemplifizierung des Unvorstellbaren. Als im Jüdischen Verlag des Hauses Suhrkamp 1995 unter dem Titel «Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948» ein in der ersten Person Singular verfasster Text über die traumatische Odyssee eines jüdischen Knaben herauskam, schien ein neues Kapitel in der Geschichte der Evokation des Grauens aufgeschlagen: Selten wurden Verstörung, Gewalt und Terror in so eindringliche Worte und Bilder gefasst wie in dem schmalen Band, selten wurden ultime physische und psychische Bedrohung auf so unerträgliche Weise suggeriert wie in dieser fragmentarischen Prosa. Was Wunder, dass - rund um den Erdball - die «Bruchstücke» für Aufsehen sorgten und mit ihnen der Autor Binjamin Wilkomirski, ein unter dem bürgerlichen Namen Bruno Doessekker in der Schweiz lebender Musiker. Entsprechend tragisch war die Fallhöhe, als Daniel Ganzfried im August 1998 in der «Weltwoche» deklarierte, Wilkomirski sei «nie als Insasse in einem Konzentrationslager» gewesen, sondern vielmehr ein 1941 als Bruno Grosjean in Biel geborener Schweizer Bürger. Die Aufregung darob war gewaltig und ist es bis zum heutigen Tage, als sich Ganzfrieds insistierende Artikel inzwischen auf den Vorwurf planmässig kalkulierten Betrugs eingeschossen haben. Anlass für die literarische Agentur Liepmann, die 1994 das Manuskript entgegengenommen und die Rechte weltweit vermittelt hatte, ihrerseits eine historische Überprüfung in Auftrag zu geben: Mit dem Band «Der Fall Wilkomirski. Über die Wahrheit einer Biographie» des Historikers Stefan Mächler liegen deren Ergebnisse nun auch öffentlich vor. Umwege Ein dem Kinde von unbekannter Hand aus Polen mitgegebener Löffel mit den Aufschriften «KL Lublin» / «Blockov 5» etwa vergegenständlicht einerseits das Dortgewesensein, lässt sich andererseits aber auch als aggressiv geführte Waffe der Denunziation verwenden: Die Zürcher Adoptiveltern hätten ihm nicht nur das Verschweigen und Vergessen seiner Herkunft gewaltsam aufoktroyiert, sondern ihn durch die Konfiskation der persönlichen Gegenstände ein weiteres Mal um sein Vorleben gebracht. So changiert Wilkomirskis Rede zwischen grausigen Lager-Erinnerungspartikeln und hässlichen Insinuierungen hinsichtlich einer schweizerischen Nachkriegsgesellschaft, die den heimatlosen Knaben gewissermassen auf ihre Weise noch einmal «vernichtet» habe. Das Oszillieren zwischen Erlebnis und Interpretation, zwischen Erinnerung und Traum ermöglicht ein Wahr-Sagen eigener Art. Zweifellos sprechen Wilkomirskis Aussagen wahrhaftig von einer Art «Realität»: Die Crux dabei ist, dass die Rezeption als faktischen Realismus auffasste, was Wilkomirski als psychische Realität verstand. Eindringlich lässt sich verfolgen, wie sich der Musiker Doessekker während der sechziger Jahre allmählich auf sein künftiges Lebensthema einzuspielen beginnt: Das Studium der Geschichte soll helfen, die Identitätswurzeln aufzuspüren, eine Doktorarbeit über die jüdische Migration in Osteuropa 1918-1938 bleibt allerdings unvollendet. Er reist mehrmals nach Polen und trägt ungeheure Mengen von Forschungsliteratur zusammen. Als er mit dem israelischen Psychiater Elitsur Bernstein und Verena Piller um 1980 herum einen Freund und eine neue Lebensgefährtin gewinnt, scheint damit eine von Krisen und Krankheit geprägte biographische Periode abgeschlossen. Beide ermuntern ihn nun, seinen quälenden Albträumen, Erinnerungen und Seelenzuständen in Wort und Schrift Ausdruck zu schaffen. Mehrere gemeinsame Reisen führen in den frühen neunziger Jahren an die polnischen Topographien des Terrors (Auschwitz und Birkenau, Majdanek und Krakau), oft wurden die Begehungen in Videoaufnahmen dokumentiert. Die bewegenden Bilder - fürderhin dienliches «Beweismaterial» - muten umso befremdlicher an, als Wilkomirskis vorgebliche Bewusstseinserweckung von seinen engsten Vertrauten abgefilmt wird wie das Verhalten eines Versuchstiers. Das Moment des Wiedererkennens wird fortan zum Leitmotiv und formuliert sich etwa auch in jener Methode der Erinnerungs- und Trauerarbeit, die Wilkomirski und Bernstein als Variante der «Recovered Memory Therapy» seit 1996 weltweit auf Fachkongressen präsentieren: Durch die Zusammenarbeit von Historikern und Psychologen sei die Glasglocke frühkindlich empfangener Traumata zu lüften. Wilkomirski figuriert in der Doppelrolle als Zeuge und Historiker, gecoacht von dem omnipräsenten Bernstein und bestärkt von der Lebenspartnerin, die keine Mühen scheut, in Interviews noch das privateste Leidenssymptom wortreich zu entfalten. Mag Ganzfrieds These von einer systematischen «Erfindung und Konfektionierung der Figur Wilkomirski» gar radikal anmuten, so ist doch augenfällig, wie es die konsequent und konzertiert kooperierende Konstellation Wilkomirski/Piller/Bernstein vermochte, Evidenzen zu erzeugen, welche von Laienpublikum und Fachwelt, ja selbst von Zeitzeugen als unzweifelhaft akzeptiert wurden. Kette von Alibi-Handlungen Die Chronik der spektakulären - erst applaudierenden, nach Daniel Ganzfrieds Hinweisen ebenso disqualifizierenden - Rezeption liest sich wie ein Exempel für die Macht der Induktion: Die «Bruchstücke» erzeugen - je nach der Perspektive - als «authentisches Zeugnis» ebenso «Sinn», wie sie die Annahme einer «Fälschung» oder eines fiktiven Konstruktes durch zahlreiche Indizien bestätigen. Wird hier das Bruchstückhafte, Irrlichternde, die sonderbare Verschwisterung von Detailrealismus und raunendem Halbdunkel als Ausdruck von Traumatisierung und Ichverlust deutbar, können dieselben Textmerkmale als Beleg für die Non-sequitur-Strategien einer ausgefuchsten Fiktion geltend gemacht werden. So trivial diese Einsicht in die Umkehrbarkeit von Perspektiven und Interpretationen, so peinlich wurde sie dort, wo das Kapital der Dignität von Holocaust-Opfern mittelbar auf dem Spiel stand. Punkt für Punkt leuchtet Mächler die in «Bruchstücken» und Selbstaussagen angelegten Schummerzonen aus und bahnt einen Weg durch das Gestrüpp von Reden und Widerreden, in welchen Wilkomirski sich im Laufe der Zeit verheddert hat. Die Befragung der Materialien gestaltet sich peinsam und peinigend, da die autobiographische Indiskretion erstens wiederholt, dann aber im Zuge der Überprüfung weit über das Erträgliche hinaus weitergetrieben werden muss. Angesichts dessen scheint es auf makabre Weise fast humoristisch, wenn der Sohn der Pflegefamilie in Nidau bei der Lektüre des in den «Bruchstücken» geschilderten polnischen Kleinbauernhofes spontan sein schweizerisches Heimatbiotop wieder erkennt. «Mit so viel Authentizität», schreibt Mächler, habe er «nicht gerechnet»: Das Buch erzähle «in atemberaubender Verfremdung [ein] eigenes Leben, dasjenige von Bruno Grosjean». Wenn Mächler damit explizit den von Daniel
Ganzfried wiederholt geäusserten Vermutungen einer vorsätzlich
geplanten und ins Werk gesetzten Fälschung widerspricht und dagegen
die psychische «Wahrheit» von Wilkomirskis Über-Identifikation
mit den Opfern des Holocaust proklamiert, plädiert er implizit
für den sanfteren Weg. Die von ihm vorwiegend unpolemisch dargestellte
Genese des «Falls Wilkomirski» beleuchtet eindringlich die
Falle, in welche sich die Rezeption locken liess - es ist die Falle
der Bedeutung der drei Buchstaben ICH. Dass die Natur dieses «Ich»-Sagens
von Anbeginn an nicht offen diskutiert worden ist und Einsprüche
aus einer Art Opfer-overcare unterblieben (mitunter gar verhindert worden)
sind, ist das eigentlich Fatale. Jetzt, da Hardcover- und Taschenbuchausgabe
gesperrt worden sind, die Agentur das Mandat zurückgegeben hat
und die Zürcher Staatsanwaltschaft gegen Doessekker/Wilkomirski
ermittelt, wäre der Zeitpunkt, von der Häme zu lassen. Christiane
Zintzen Der Fall Wilkomirski: Angebliches Holocaust-Opfer
endgültig entlarvt Akribische Spurensuche in Nidau Die Holocaust-Biografie Wilkomirskis wurde mit zahlreichen Preisen geehrt. Ein Buch entlarvt die Biografie als Fiktion: Der Autor wurde in Biel geboren und bei einer Nidauer Familie platziert. LT. Als «Binjamin Wilkomirski» hat Bruno Doessekker weltweit Aufmerksamkeit erregt. Sein angeblich autobiografisches Buch «Bruchstücke», seine durch eine Psychoanalyse hervorgeholten «Erinnerungen», wie er als Kleinkind in Polen zwei Konzentrationslager überlebt hatte, haben ihm in Europa, Israel und den USA Literaturpreise und Mitgefühl eingebracht. Doessekkers 1995 erschienene Holocaust-Biografie wurde jedoch bereits 1998 durch eine Recherche von Daniel Ganzfried als Fiktion entlarvt. Dem Berner Journalisten wurde Einblick in Akten der Bieler Amtsvormundschaft gewährt, die Doessekker als unehelichen Sohn der Bielerin Yvonne Grosjean auswiesen. Doch Doessekker, alias Wilkomirski, gab nicht auf: Er behauptete, bei der Adoption durch das Zürcher Ehepaar Doessekker mit dem echten Bruno Grosjean verwechselt worden zu sein. Den Beweis, dass Doessekker tatsächlich mit Bruno Grosjean identisch ist, hat nun der Historiker Stefan Mächler in seinem im Pendo-Verlag erschienenen Buch «Der Fall Wilkomirski» erbracht: Am 11. Juni 1944 wurde der damals dreijährige Bruno in Nidau bei der Familie Aeberhard platziert - während der Zeit, als er angeblich in Polen als Jude verfolgt und in Konzentrationslagern interniert war. Mächler sprach mit ehemaligen Schulkollegen Doessekkers, mit der Jüdin Karola, deren Erinnerungen an den Holocaust dieser als eigene ausgibt, mit einer Lehrerin und vielen anderen Zeugen. Doch den wichtigsten Beweis, dass Doessekker identisch mit Grosjean ist, fand Mächler in Nidau: René Aeberhard, der Sohn der Familie, die Doessekker während eines dreiviertel Jahres aufgenommen hatte, identifizierte ihn anhand von Fotos. In Nidau hat Doessekker/Wilkomirski auch ein echtes Trauma erlitten: Die Pflegemutter, vermutlich psychisch krank, terrorisierte das damals dreijährige Kind. Traumatisch war auch Doessekkers Start ins Leben: Im dritten Monat ihrer Schwangerschaft wurde Yvonne Grosjean von einem Auto angefahren, schwer verletzt und fiel für längere Zeit ins Koma. Für die danach behinderte, unverheiratete Frau war es während der 40er-Jahre unmöglich, ihr Kind grosszuziehen. Sie platzierte Bruno bei der Familie Aeberhard in Nidau, später musste sie ihn zur Adoption freigeben. Nidau: Auf den Spuren eines Biografie-Betrügers Der Beweis fand sich im Grasgarten Die Bäuerin sass am Boden, mit zerrissenen
Kleidern, mit zerfleddertem Haar, und sie weinte! Die Bäuerin konnte
weinen! Die Bäuerin, diese mächtige Frau, die so böse
und grausam sein konnte. (...) Sie konnte weinen? (Bruno Doessekker
in «Bruchstücke».)
Die heillose Therapie Jetzt sind alle Zweifel ausgeräumt: Binjamin Wilkomirski hat seine furchtbare KZ-Kindheit erfunden. Der Historiker Stefan Mächler hat den Fall recherchiert, heute erscheint sein Buch. Peter Surber Zwei Kindheiten. Die erste ist jene des Bruno
Grosjean, 1941 als uneheliches Kind in Biel geboren, verschiedene Heimaufenthalte,
1945 als Pflegekind vom vermögenden Zürcher Arzt-Ehepaar Dössekker
aufgenommen und 1957 adoptiert. Spurensuche ohne Ergebnis Die beiden Kinder seien identisch, behauptet erstmals 1998 der Schriftsteller Daniel Ganzfried in der «Weltwoche» und bezichtigt Wilkomirski der Erfindung einer spektakulären Holocaust-Biografie. Mächler bestätigt jetzt zweifelsfrei: Wilkomirski ist Grosjean. Wilkomirski dagegen hält an seiner «Wahrheit» fest. Mächlers Recherche ist nicht die erste; nach Ganzfrieds Enthüllungen hat etwa auch die Journalistin Elena Lappin Elemente des Falls aufgearbeitet und jüngst bei Chronos publiziert. Mächler hat aber nicht nur umfassend geforscht; er diskutiert auch ohne Häme die psychologischen Gründe und den Anteil der Medien und Leser am «Fall Wilkomirski». Seine Suche nach Fakten ergibt unter anderem: Der polnische Bauernhof, auf dem Wilkomirski nach der Flucht aus Riga gewesen sein will, gleicht auffällig jenem Bauernhof im bernischen Nidau, wo Bruno Grosjean zur Pflege war. Die angebliche Bekannte Laura aus dem Lager wurde in den USA als Erfinderin tragischer Biografien entlarvt. Das Kinderheim, das er in Krakau bewohnt haben will, gab es zu jener Zeit noch gar nicht. Oder: Die Einreise in die Schweiz 1945 mit einer leeren Namensetikette, wie sie der Autor schildert, ist nach den damaligen Gepflogenheiten völlig undenkbar, und es müssten sich schriftliche Spuren davon finden. Die aber gibt es nicht, ebenso wenig wie gesicherte Erinnerungen an einen Binjamin im KZ oder in Krakau. Und schliesslich: In die Enge getrieben, stellte sich Wilkomirski auf den Standpunkt, Binjamin und Bruno seien willentlich vertauscht worden; ihm, dem Judenkind, sei eine schweizerische Biografie aufoktroyiert worden. Für eine solche Vertauschung - Wilkomirski vergleicht sie mit jenen der «Kinder der Landstrasse» - findet Mächler jedoch nicht den geringsten Hinweis. Die Kindheit, die Wilkomirski erzählt, sei «voller Widersprüche» und «unvereinbar mit seiner biografischen Realität», bilanziert Mächler zum Abschluss seiner manchmal kriminalistischen Spurensuche. Wie aber kam Dössekker zu seiner Geschichte? Und wie kam es, dass ihm (fast) alle glaubten? Die traumatisierte Kindheit Ist Wilkomirski-Dössekker ein «kaltblütiger Betrüger», wie Ganzfried ihm vorwirft? Mächler legt eine andere Einschätzung nahe. Die Kleinkinderjahre des Bruno Grosjean müssen eine einzige Schreckenszeit gewesen sein. Er wurde seiner Mutter von den Adoptivbehörden entrissen, in Heimen und bei unfähigen Pflegeeltern regelrecht verstaut und schliesslich in die Zürichberg-Welt der Dössekkers verpflanzt - ein Musterfall behördlicher Ignoranz, der beim Kind ein «kumulatives Trauma» (Mächler) erzeugte. Unter den Folgen leidet Dössekker bis heute - «Bruchstücke» war sein Therapieversuch. Und dies im Wortsinn - denn den Aufzeichnungen war eine längere therapeutische Behandlung vorausgegangen. Mit deren Methode, in den USA «recovered memory» genannt, geht Mächler hart ins Gericht. Sie könne nicht die historische Wahrheit ans Tageslicht befördern, sondern liefere vielmehr eine Interpretation für bis dahin unverständliche, oft sprachlose Erinnerungsbilder. «Die Notwendigkeit, für einen namenlosen Horror Worte zu finden, öffnet ein Tor für Konfabulationen.» Für dieses Deutungsunternehmen hat sich Dössekker im Verein mit seiner Therapeutin «auf das Terrain der Shoah verirrt». Dies allerdings schon lange vor der Publikation von «Bruchstücke» - seit Mitte der Sechzigerjahre hatte er sich mit Judaica umgeben und die Geschichte der Shoah studiert. Der Holocaust als Selbstbedienungsladen? Genau dies macht den Fall über das individuell Verheerende hinaus bedeutsam: Mit dem Transfer vom privaten zum kollektiven Leiden, mit dem «Andocken» an das europäische Trauma der Shoah wurde seine Geschichte unanfechtbar und bot namentlich jüdischen KZ-Opfern, aber auch dem latent schlechten Gewissen der schweizerischen Öffentlichkeit willkommene Identifikationsmuster. «Wilkomirski, der in seiner Gesellschaft fremd war, wurde zum Juden, dem prototypischen Fremden der Moderne.» Opfer - noch einmal? Die Leserschaft fand, so Mächler, in Wilkomirskis
Text, was dieser selber mit seiner eingebildeten KZ-Opferrolle gefunden
hatte: ein Angebot, «fremdes Leid narzisstisch zu okkupieren und
darin für eigene Mühsale Trost zu finden». Skepsis -
es gab sie vereinzelt schon vor der Publikation 1995 - verbot sich jeder,
der nicht riskieren wollte, den Holocaust-Leugnern Munition zu liefern.
«Selbst wenn nur eine geringe Möglichkeit besteht, dass Wilkomirskis
Geschichte wahr ist», schrieb etwa Lea Balint, Expertin auf dem
Gebiet der Kinder-Überlebenden, «haben wir die moralische
Verpflichtung, zu verhindern, dass er einen zweiten Holocaust erfährt.»
Darauf beruft sich auch Dössekker immer wieder: Er werde noch einmal
zum Opfer gemacht. Und darauf berief sich selbst jene amerikanische
Institution, die Wilkomirski noch 1999 in Kenntnis der Zweifel einen
Preis verlieh: Gerade bei Kinder-Überlebenden existierten meist
nicht mehr als vage Erinnerungssplitter. Diese in Frage zu stellen,
bedeute Komplizenschaft: «Nirgendwo sonst ist Hitlers Plan, keine
Zeugen des Holocaust zu hinterlassen, seiner Realisierung näher
gekommen als in der Abspaltung der Jüngsten von ihrer eigenen Erfahrung.»
Es gibt also keine raschen Schlüsse aus dem Fall Wilkomirski. Wer
wie Ganzfried fordert, den Betrüger zu bestrafen, betrügt
sich selbst: Dass das Holocaust-Gedenken so entsetzlich wie entsetzlich
missbrauchsanfällig ist, schafft man damit nicht aus der Welt.
Holocaust-Buch gefälscht Endgültig bewiesen - Biographie frei erfunden
Ein Schweizer Historiker hat jetzt eindeutige
Beweise dafür gefunden, dass die bei ihrem Erscheinen weltweit
gewürdigten Holocaust-Erinnerungen von Binjamin Wilkomirski ("Bruckstücke")
gefälscht sind. Stefan Mächler hat die Kindheit des Autors
- etwa durch Zeugenaussagen sowie Identifizierung von Fotos und Schauplätzen
- lückenlos erforscht und kommt zu dem Schluss: "Es besteht
nicht der geringste Zweifel, dass Binjamin Wilkomirski mit Bruno Grosjean
identisch ist und seine in 'Bruckstücke' niedergeschriebene Geschichte
einzig und allein in seinem Denken und Empfinden stattgefunden hat." Verantwortliche findet man keine in Mächlers Studie. Nur Traumatisierte und einen Traumatänzer im KZ-Gewand Von Daniel Ganzfried Am Anfang war das Trauma, müsste das Fazit
lauten, liest man den Bericht Stefan Mächlers zum Fall Bruno Dössekker.
Eine ausgezeichnete Recherche, mit einem vorzüglichen Anhang versehen,
immer sachlich und nie die Loyalität vergessend gegenüber
der ihn mit einem Honorar von 20000 Franken bezahlenden Agentur Liepman
und dem Suhrkamp-Verlag, von dem der Historiker ursprünglich hoffte,
dass er den Bericht herausgeben würde.
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