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  Fremdenhaß und Gewalt als familiäre und psychosoziale Krankheit*
 


Erstmals erschienen in Psyche, Heft 11
(November 2001), S. 1217-1244.
PD Dr. Hans-Jürgen Wirth, Giessen


Wir danken der Redaktion von PSYCHE für die Erlaubnis, den Artikel von PD Dr. Hans-Jürgen Wirth, veröffentlichen zu dürfen.


Übersicht: Nach einer Zusammenfassung der Konzepte zum Vorurteil, zu Fremdenhaß und Fremdenangst in Sozialpsychologie, Verhaltensforschung und Entwicklungspsychologie analysiert Wirth einige familiäre und soziale Hintergründe von Fremdenangst und Fremdenhaß: die Fremdenangst am Beispiel der Agoraphobie, den Fremdenhaß als eine narzißtische Störung, bei der die Projektion und projektive Identifizierung als Formen der Externalisierung von zentraler Bedeutung sind. Mit zwei Falldarstellungen von Jugendlichen konkretisiert der Autor seine Vorstellungen.


Vorurteile und Feindbilder in der klassischen Sozialpsychologie

Vorurteile und Feindbilder gehören zu den von der Sozialpsychologie relativ häufig untersuchten Sachverhalten (vgl. Secord u. Backman 1964, S. 202ff.). Unter Vorurteilen versteht man vorgefaßte, negative Einstellungen und Urteile über eine Person, eine soziale Gruppe oder einen Gegenstand, "die sich auf eine fehlerhafte und starre Verall-gemeinerung gründen", heißt es in Allports Buch Die Natur des Vor-urteils (1954, S. 23). Verdichten sich verschiedene charakteristische Vorurteile zu einem Vorurteils-Syndrom, so bildet dieses ein Feind-bild. Solche Feindbilder richten sich oft gegen rassische, nationale, ethnische oder religiöse Gruppen. Feindbilder stellen eine Form ver-zerrter Realitätswahrnehmung dar, die von bestimmten Interessen und Bedürfnissen der Individuen und der Gesellschaft gesteuert wird (Nicklas 1988, S. 32).
Die frühe Vorurteilsforschung betrachtete Vorurteile als psychisches Ergebnis realer Konflikte. Der amerikanische Sozialpsychologe Mus-tafa Sherif konnte in seinen Ferienlager-Feldversuchen mit amerika-nischen Jugendlichen zeigen, wie durch die Herstellung von Konflik-ten zwischen den Jugendgruppen Vorurteile und Haßgefühle experi-mentell erzeugt werden können. Wurden die beiden Jugendgruppen in Wettbewerbssituationen gebracht, bildeten sich positiv getönte Wir-Gefühle für die eigene Gruppe und negativ gefärbte Stereotype für die Fremdgruppe heraus (vgl. Secord u. Backman 1964; Nicklas 1994). Wurden als zusätzliche Variablen noch Statusunterschiede und knap-pe Ressourcen eingeführt, potenzierten sich die Konflikte.
Es gelingt unschwer, Sherifs Theorie, die als realistische Gruppen-konflikttheorie in die Forschungsgeschichte eingegangen ist, auf die Entstehung und das rapide Anwachsen der Fremdenfeindlichkeit in nahezu allen westeuropäischen Gesellschaften anzuwenden. Die hohe Arbeitslosigkeit, der Mangel an bezahlbaren Wohnungen, die Einschnitte ins soziale Netz - alle diese Erscheinungen traten gegen Ende der 90er Jahre gleichzeitig mit der wachsenden Fremdenfeindlichkeit in der Bundesrepublik auf. Sie legen die Erklärung nahe, daß es die Konkurrenz um knappe, aber begehrte Güter ist, die zur Fremdenfeindlichkeit führt. Gestützt wird diese Theorie durch die Tatsache, daß in den Bevölkerungsteilen, die sich in unmittelbarer Konkurrenz und räumlicher Nachbarschaft zu Immigranten und Asylanten befinden, die Ausländerfeindlichkeit am stärksten ausgeprägt ist.
Ins Politische gewendet führen diese sozialpsychologischen Theorien zu der These, daß die Bundesrepublik gerade in Zeiten der ökonomi-schen Krise und durch die Belastungen der Vereinigung nicht nur ökonomisch, sondern auch psychisch überfordert sei, und daß vor diesem Hintergrund den gewalttätigen Ausschreitungen gegen Aus-länder nur Einhalt geboten werden könne, wenn man deren Zuzug drastisch verringere (vgl. Nicklas 1994, S. 44ff.).
Die Theorien der klassischen Sozialpsychologie können zwar eine gewisse Plausibilität für sich in Anspruch nehmen, dennoch ist ihr Geltungsbereich aus folgenden Gründen begrenzt:
1. Es müssen nicht unbedingt reale Interessenkonflikte sein, die zu Feindbildern führen, sondern es reicht aus, wenn Konflikte lediglich in der Phantasie existieren. Im Extrem: Es gibt auch - um mit Adorno zu sprechen - einen "Antisemitismus ohne Juden".
2. Die Ausländerfeindlichkeit ist nicht ausschließlich ein Phänomen des unteren Drittels der Gesellschaft. Auch nicht-materielle Motive, z.B. religiöse, ideologische, ethnische, psychopathologische usw. können zur Ausbildung von Vorurteilen führen.
3. Die klassische Sozialpsychologie hat schwerpunktmäßig sachlich begründete Interessenkonflikte und Gegnerschaften und die sie be-gleitenden affektiven und kognitiven Prozesse untersucht. Mit diesen Theorien lassen sich jedoch nicht jene Fälle erklären, in denen es zu einem Überschuß an aggressiver Energie kommt, zu einem schier unbegrenzten Fremdenhaß, der über ein "funktionales Feindbild", das zur Entstehung eines Wir-Gefühls in der sich gegen den Feind abgrenzenden Gruppe nützlich sein mag, weit hinausgeht. Der Frem-denhaß kann sowohl in seiner individuellen als auch in seiner gesell-schaftlichen Ausprägung bekanntlich so weit gehen, daß er die völlige Vernichtung des Feindes sowie die Selbstschädigung und Selbstver-nichtung mit einschließt. Hier kommt offenbar ein triebhaft-irrationales Moment mit ins Spiel, das von den genannten Theorien nicht erklärt werden kann und nach tiefergehenden Erklärungen verlangt.

Aggression gegen Fremde aus der Sicht der Verhaltensforschung

Weiteren Aufschluß kann die vergleichende Verhaltensforschung geben. Ethologisch betrachtet scheint die Furcht vor dem Fremden, die Distanz zu ihm und die latente Aggressionsbereitschaft gegen den Fremden ein entwicklungsgeschichtlich früh angelegtes "Urphäno-men" - auch beim Menschen - zu sein (vgl. Wahl 1994, S. 161). Als gesellig lebende Wesen organisieren die Menschen ihre Reproduktion in Gruppen. In der Konkurrenz um knappe Güter, insbesondere Terri-torien zur Jagd und zum Leben, wird jede fremde Gruppe zum Kon-kurrenten, Gegner und Feind. Gruppenegoismus und Fremdenhaß erscheinen als anthropologische Konstante.
Der ethologische Erklärungsansatz ist insofern wertvoll, als er das Augenmerk auf die triebhaft-biologisch-naturhaft-tierische Verwurze-lung des Menschen richtet. Die Zivilisationsgeschichte der Menschen ist relativ kurz. Trotz aller Zivilisiertheit, aller Moral, aller Technik und auch aller Aufklärung besteht in Krisensituationen immer die Gefahr der Regression auf vor-zivilisatorische, archaische Reaktionsformen, sowohl in bezug auf das Individuum als auch auf die Gemeinschaft. Während höhere Säugetiere (bis auf wenige Ausnahmen) eine ins-tinktiv festgelegte Tötungshemmung gegen Artgenossen haben, ist der Mensch aus seiner instinktiven Natur-Eingebundenheit teilweise befreit (vgl. Gehlen 1940). Dies schließt auch die das Gattungswesen Mensch auszeichnende Freiheit ein, den Mitmenschen und sich selbst töten zu können. Ohne Sozialisation, Zivilisierung und soziale Einbin-dung ist der Mensch destruktiver und selbstdestruktiver als jedes Tier. Der Erklärungswert der ethologischen Theorien bleibt jedoch aus folgenden Gründen begrenzt:
1. Neben dem Bild vom bösen, gefährlichen Fremden existiert auch das Bild vom Fremden als einem anziehenden, interessanten, exoti-schen und verlockenden Wesen. Die Ambivalenz dem Fremden gegenüber ist tief in der Psyche verwurzelt.
2. Wenn vom "Urphänomen der Aggression" die Rede ist, dann muß auch der Gegenpol, nämlich das "Urphänomen der Sympathie" im Sinne von Schopenhauer und Scheler, mitbedacht werden. Wie Rich-ter (1979, S. 247) unter Bezugnahme auf diese Autoren ausführt, "steckt in dem Urphänomen der Sympathie die einzige ursprüngliche menschliche Antriebskraft überhaupt, die einen Abbau von inhuma-nen Unterdrückungsverhältnissen" - und wir dürfen wohl ergänzen: auch von Fremdenfeindlichkeit - motivieren kann.
3. Kultur und Zivilisation entstehen gerade dann, wenn die enge Ge-meinschaft der Familie, der Sippe, des Stammes verlassen wird oder sich zu komplexeren sozialen Gebilden transformiert, die wir Gesell-schaft nennen. Erdheim (1992b, S. 734) definiert Kultur als das, "was in der Auseinandersetzung mit dem Fremden entsteht, sie stellt das Produkt der Veränderung durch die Aufnahme des Fremden dar".


Fremdenangst aus der Sicht der psychoanalytischen Entwicklungs-psychologie

Schon Freud hat theoretische Vermutungen über die Entstehung der kindlichen Fremdenangst angestellt: "Das Kind erschrickt vor der fremden Gestalt, weil es auf den Anblick der vertrauten und geliebten Person, im Grunde der Mutter, eingestellt ist. Es ist seine Enttäu-schung und Sehnsucht, welche sich in Angst umsetzt" (Freud 1916-17a, S. 392f.).
Das bekannte "Fremdeln" der Kinder wurde von René Spitz (1965) genauer untersucht, der die sogenannte "Achtmonatsangst" als ein positives Reifungszeichen interpretiert, da das Kind nun die Mutter von Fremden unterscheiden kann.
In der Regel wird beim Fremdeln die Angst betont. Ich möchte jedoch mit Mario Erdheim (1992a; 1992b) den ambivalenten Charakter hervorheben. Das Fremdeln ist auch "eine Art Fensterln, ein Anklopfen am Fremden" (Erdheim 1992a, S. 21). Das fremdelnde Kind versteckt sich in den Armen der Mutter, aber es lugt dann doch wieder um die Ecke, riskiert einen Blick auf den Fremden, um sich dann schnell wieder abzuwenden, sobald der Fremde seine Kontaktaufnahme erwidert usw. Das Kind übt sich darin, die Hinwendung zum Fremden angemessen zu dosieren. Schon das Kleinkind begegnet dem Fremden mit einem "thrill", einer "Angstlust" (Balint 1959), d.h. es schwankt zwischen Angst und Neugier bezüglich des Fremden.
Margaret Mahler (1979) kam aufgrund ihrer Beobachtungen zu dem Schluß, daß Kinder, die über ein ausgeprägtes "Urvertrauen" im Sinne von Erikson verfügen, Fremden gegenüber ein explorierendes, neugieriges Verhalten zeigen. Das Auftreten der Fremdenangst ist vom Verlauf der vorangegangenen Interaktionserfahrungen abhängig. "Ein Kind, das Sicherheit und Urvertrauen entwickeln konnte, zeigt keine Fremdenangst, sondern vielmehr eine ›Zollinspektion‹ [...], das heißt eine gründliche visuelle und taktile Forschertätigkeit an einem fremden Erwachsenen" (Mertens 1981, S. 107). "Zwischen Urver-trauen und Fremdenangst besteht eine reziproke Beziehung" (Bohl-eber 1994, S. 385).
Michael Rotmann betont, wie wichtig der Vater als "der Andere" (1978, S. 1124), als das "dritte Objekt", als der Repräsentant der fremden Außenwelt, für die frühe Entwicklung des Kindes ist. Der Vater kann zum "bedeutungsvollen Anderen" (ebd., S. 1118), zum ersten Fremden werden, der dem Kind vorlebt, wie sowohl die Bezie-hung zur Mutter als auch die temporäre Trennung von ihr gefahrlos möglich ist. Das dritte Objekt ermöglicht die "frühe Triangulierung" (Abelin 1971), das heißt die Entwicklung des inneren Konzeptes einer Drei-Personen-Beziehung, die dem Kind die Chance eröffnet, den Frustrationshaß auf die Mutter zu integrieren, so daß es nicht zu einer Spaltung in nur "gute" und nur "böse" Teilobjekte kommen muß. Der Vater als der "attraktive Dritte" (Ermann 1989, S. 265) bietet einer-seits einen Schutz gegen die Regression in die frühe Mutter-Kind-Symbiose und stellt andererseits eine wichtige Brückenfunktion bei der Kontaktaufnahme mit dem Fremden dar. Fällt der Vater in dieser Funktion aus, und ist die frühe Mutter-Kind-Beziehung beeinträchtigt, kann die Beziehung des Kindes zum Fremden durch überwältigende Ängste, durch Projektion von Haß oder durch beides geprägt sein.
Die psychoanalytische Familientherapie betont, daß Vater und Mutter nicht nur als voneinander getrennte Individuen zu bedeutungsvollen Objekten für das Kind werden, sondern auch als Paar die innere Welt des Kindes prägen. Das Kind internalisiert sowohl die Objektbezie-hungen, die zwischen ihm und den Eltern bestehen, als auch diejeni-gen, die Vater und Mutter miteinander verbinden. Die Ich-Identität, die das Kind entwickelt, wird ergänzt durch die soziale Identität im Sinne von Mitscherlich (1981). Das Elternpaar und die Kinder bilden zu-sammen ein Gruppen-Ich (Erikson 1959) und eine Identität als Fami-liengruppe heraus, die Cierpka (1999, S. 91) als Familienidentität bezeichnet. Wenn die Gruppen-Identität als Familie bedroht ist, kann kompensatorisch das Abgrenzungsbedürfnis der Familie gegenüber der sozialen Umwelt besonders betont werden, was Ängste vor dem Fremden begünstigt.
Die Säuglingsforschung hat einige psychoanalytische Annahmen über die frühe Kindheit in Frage gestellt. Das alte psychoanalytische Bild vom Säugling als einem autistischen, symbiotischen, ambivalenten und passiven Wesen wurde in den letzten Jahren ersetzt durch das Bild vom - wie Martin Dornes (1993) es formuliert - "kompetenten Säugling", der von Anfang an in einem aktiven Austausch mit seiner Umwelt steht. Die Annahmen von John Bowlbys "Bindungstheorie", nach der der Mensch von Geburt an ein beziehungsfähiges und zugleich ein auf Bindung, Kontakt und Nähe elementar angewiesenes Wesen ist, wurden damit bestätigt.
Allerdings sind die älteren psychoanalytischen Theorien nicht gänzlich widerlegt, sondern nur dahingehend relativiert worden, daß erstens die von der Psychoanalyse beschriebenen Phänomene - Passivität, Autismus usw. - nicht grundsätzlich bei jedem Säugling, sondern nur dort auftreten, wo es zu Störungen kommt, und daß zweitens die Ambivalenz des Kindes als eine Reaktion auf die elterliche Ambiva-lenz zu betrachten ist. Mit anderen Worten: Die symbiotischen, ambi-valenten und autistischen Tendenzen des Kindes sind als Antwort auf unbewußte Rollenerwartungen der Eltern an das Kind zu verstehen. Diese Überlegung ist mit Horst-Eberhard Richters Buch Eltern, Kind und Neurose (1963) bereits seit Anfang der 60er Jahre Grundlage der psychoanalytischen Familientherapie, wurde aber von vielen psycho-analytischen Theoretikern kaum rezipiert. Über das Verhältnis zum Fremden fand die Säulingsforschung folgende Unterscheidung her-aus: Es existieren drei typische Verhaltensmuster, welche die Einstel-lung zum Fremden charakterisieren: sicher gebundene, unsicher-vermeidend gebundene und unsicher-ambivalent gebundene Kinder (vgl. Dornes 1996, S. 1010). Diese weisen ein jeweils spezifisches Kontaktverhalten zum Fremden auf.
Mario Erdheim (1992a, S. 21) behandelt das gleiche Thema auf einer allgemeineren Ebene. Er nennt das Bild des Fremden - analog zur Selbst- und Objektrepräsentanz - "die Fremdenrepräsentanz". Sie bietet eine Alternative, die "dem Kind ermöglicht, eine Beziehung zu der Person aufzunehmen, die nicht seine Mutter ist. (Dies) [...] eröff-net die Chance, sich beim Fremden das zu holen, was [...] die Mutter nicht geben kann" (ebd.). Der Fremde ist also ein "drittes Objekt" im Sinne von Rotmann (1978). Einerseits kann man sagen: Angst vor dem Fremden erhöht das Ausgeliefertsein an die vertrauten Objekte. Aber andererseits gilt auch: Je mehr das innere Gleichgewicht von der ständigen Präsenz eines einzigen guten Objektes abhängig ist, um so größer sind Ängste vor dem Fremden. Dies wird durch das klinische Bild der Agoraphobie bestätigt.

Die Agoraphobie und ihre politische Bedeutung

Die agoraphobischen Symptome, nämlich die Angst vor Plätzen, Straßen oder Menschenmengen, lassen sich psychodynamisch ver-stehen als Angst, die Sicherheit spendende Bezugsperson zu verlie-ren. Die Agoraphobie entwickelt sich aus dem Konflikt zwischen Ab-hängigkeits- und Verselbständigungswünschen. Der Kontakt mit dem Fremden wird unbewußt gesucht und zugleich gefürchtet, weil er die Trennung von der Mutter bedeutet und deren Mißbilligung nach sich ziehen könnte. Aus Angst, die Zuneigung des geliebten Objekts zu verlieren, werden die als "böse" erlebten Trennungsimpulse und alles, was damit an sexuellen und anderen Wünschen zusammen-hängt, verdrängt, unbewußt gemacht und dann auf das Fremde proji-ziert. Die angstbesetzten Situationen, die Straße, der Platz, die Men-schenansammlung, der Fremde, werden zur Projektionsfläche für die eigenen verdrängten Regungen.
Die Fremdenrepräsentanz wird zu "einer Art Monsterkabinett des verpönten Eigenen" (Erdheim 1992b, S. 733). "Der Gewinn ist be-achtlich, denn das Eigene wird zum Guten und das Fremde zum Bö-sen." Der Nachteil besteht jedoch in der Ich-Einschränkung, die eine Kontaktvermeidung zur Folge hat.
Häufig entwickelt sich eine Angstneurose nicht nur beim Individuum, sondern die ganze Familie wird in die phobische Abwehrstrategie einbezogen und zieht sich in das Schonklima einer "Sanatoriums-welt" zurück. Richter (1972) hat den Typus der angstneurotischen Familie unter dem Stichwort "Sanatorium" beschrieben und betont, wie außerordentlich verbreitet dieser Familientypus ist.
Nun ließe sich einwenden, daß der hier skizzierte Phobiker zwar eine ausgeprägte Angst vor dem Fremden aufweist, doch aufgrund seiner typischen Aggressionsverleugnung und Harmoniebedürftigkeit kaum in der Lage ist, Haß auf Fremde zu entwickeln. Dieser Einwand ist durchaus berechtigt. Die Angst vor Isolation führt bei einem Angst-neurotiker in der Regel zu dem Bemühen, Streit zu vermeiden, har-monische Beziehungen zu den Objekten herzustellen und den Kon-takt mit der fremden Welt draußen auf ein Minimum zu reduzieren.
Der typische Angstneurotiker zeichnet sich dadurch aus, daß er sich in besonders gefügiger Weise an die geltenden Normen und die je-weils bestehenden politischen Verhältnisse anpaßt. Seine Ängste zwingen ihn, mit dem Althergebrachten - dem Konservatismus - zu sympathisieren und sich schutzsuchend an mächtige Autoritätsfiguren anzulehnen. Er gehört "zur Kerngruppe der typischen Mitläufer" (Richter 1976, S. 75). So kann man vermuten, daß ein großer Teil der Mitläufer im Nationalsozialismus aufgrund einer angstneurotischen Struktur für die systematische Erzeugung von Angst besonders emp-fänglich war. Der nationalsozialistische Staat erzeugte planmäßig Angst und Verunsicherung und bot gleichzeitig seine Organisationen und Führer-Figuren als Sicherheit spendende Elternfiguren an. Diese fungierten als Über-Ich-Substitute, die das individuelle Über-Ich ent-lasteten und außer Kraft setzten. Dieser Erklärungsansatz könnte auch zur Goldhagen-Debatte einen Beitrag leisten: Die von Goldha-gen (1996) aufgeworfenen Fragen lauten: Wie konnte es geschehen, daß der überwiegende Teil der Deutschen sich widerstandslos in das nationalsozialistische Regime integrieren und einspannen ließ? Wieso hat sich kaum jemand geweigert, an unmoralischen Handlungen (z.B. Erschießungen) teilzunehmen, selbst wenn eine solche Weigerung ohne Gefahr für Leib und Leben möglich gewesen wäre? Eine Teil-antwort besteht in den angstneurotischen Mechanismen, die nicht nur in Familien, sondern auch in Gruppen und Organisationen funktionie-ren. Aus Angst, sich in der Gruppe zu isolieren, unterwirft sich der Einzelne den Normen und Ritualen der Gruppe und insbesondere der Autorität des Führers. Hinzu kommt ein weiteres Moment: Indem sich viele Menschen im Nationalsozialismus ängstlich in die vermeintlich heile Welt der Familie zurückzogen und sich weigerten, wahrzuneh-men, was draußen politisch vor sich ging, isolierten sie sich selbst von den Juden und die Juden von sich. Die somit geschaffene soziale und emotionale Distanz zu den Juden bewirkte, daß auch viele jener Men-schen, die keineswegs fanatische Nazi-Anhänger und Antisemiten waren, der zunehmenden Ausgrenzung, Verfolgung und schließlich Vernichtung der Juden teilnahmslos und ahnungslos zusahen.
Der polnische Soziologe Zygmunt Bauman (1993) sieht im Gegensatz zu Goldhagen die zentrale Ursache für den Holocaust nicht in der langen Geschichte des europäischen Antisemitismus, sondern im Prozeß der sozialen Distanzierung von den Juden, die ein Schwinden der moralischen Verantwortung bewirkte. Im folgenden Zitat fällt auf, daß Bauman bindungstheoretisch argumentiert:
"Verantwortung, das Grundelement moralischen Verhaltens, entsteht aus der Nähe des anderen. Nähe bedeutet Verantwortung und Ver-antwortung ist Nähe. Verantwortung verschwindet, sobald Nähe nicht mehr besteht, und kann sogar durch Ressentiment ersetzt werden, wenn der Mitmensch in den Fremden transformiert wird. Ohne soziale Absonderung hätten nicht Tausende zu Mördern und Millionen zu stummen Zeugen des Verbrechens werden können" (ebd., S. 54).
Der phobische Rückzug von der gesellschaftlichen Realität bewirkte also die Teilnahmslosigkeit gegenüber dem Schicksal der jüdischen Mitbürger.
Das klinische Bild der Phobie macht zwar die Psychodynamik des Mitläufers, die seelische Verfassung des "stummen Zeugen" ver-ständlich, nicht aber die des agierenden, aktiven Täters. Die Psycho-dynamik von Haß und Gewalt gegen Fremde bedarf einer anderen Erklärung.


Fremdenhaß als narzißtische Störung

Angst ist ein äußerst vielschichtiges Phänomen; sie kann aus ganz unterschiedlichen Konflikten resultieren. Wenn nicht die Angst, das Objekt zu verlieren, im Vordergrund steht, sondern die Angst, vom Objekt überwältigt, verfolgt, gequält und zerstört zu werden, kommt es nicht zu phobischem Rückzug, sondern zu anderen Bewältigungsversuchen, z.B. zu Mißtrauen gegenüber anderen, zur Projektion des eigenen Hasses auf Fremde, zu narzißtischer Wut, selbstdestruktiven Tendenzen und zur kämpferischen Abgrenzung nach außen. Mit dieser Angst hängt oft auch die narzißtische Angst vor dem Verlust des Selbstwertes zusammen, das heißt also der Angst vor Beschämung und narzißtischer Kränkung, die dadurch in Schach gehalten werden soll, daß man sich um narzißtische Selbstaufwertung und das Festhalten an Allmachtsphantasien bemüht. Störungen des Selbstgefühls, Minderwertigkeitsgefühle und selbstdestruktive Tendenzen richten sich häufig auf den eigenen Körper. Jener wird wie ein fremder Gegenstand behandelt - er wird zum Fremd-Körper.
Es mag zunächst erstaunen, daß auch der eigene Körper, ohne den der Mensch nicht existent wäre, der also ganz und gar zur Person gehört, als etwas Fremdes, als Fremd-Körper empfunden werden kann. Winnicott (1958) beschreibt bildhaft, daß der Körper angeeignet werden muß, das Selbst muß erst lernen, den eigenen Körper zu bewohnen und sich in ihm zu Hause zu fühlen. Nach Hirsch (1989, S. VI) kann der eigene Körper "durch seine Abspaltung wie ein Gegen-über, ein äußeres Objekt nicht nur erlebt, sondern in Agieren und Phantasie auch behandelt" werden. Die Krankheitsbilder der Hypo-chondrie, der Selbstbeschädigung der Haut, der Schädigung des Körpers durch Unfälle und artifizielle, das heißt vom Patienten selbst herbeigeführte Krankheiten, versteht Hirsch als Ausdruck eines "ge-gen den Körper gerichteten destruktiven Agierens" (ebd.). Der Körper wird wie ein äußeres Objekt behandelt, dem zur Strafe Schäden und Schmerz zugefügt werden. Um die drohende Fragmentierung des Selbst abzuwehren und um beängstigende Haßgefühle gegen nahe Bezugspersonen unter Kontrolle zu halten, wird die Desintegrations-bedrohung auf den abgespaltenen Körper gelenkt (vgl. Wirth 1986). Häufig handelt es sich um Patienten, die als Kinder schwere Trauma-ta erlitten haben, von ihren Müttern als Selbstobjekte benutzt wurden (vgl. Hirsch 1989, S. 97) und ausgeprägten Deprivationserfahrungen oder Kindesmißhandlungen ausgesetzt waren (vgl. Plaßmann 1989; Sachsse 1989).
Die Verbindung dieser klinischen Krankheitsbilder zum Phänomen der Fremdenfeindlichkeit ergibt sich nicht nur aus der Tatsache, daß bei gewalttätigen Fremdenhassern, insbesondere den Skinheads, selbst-schädigendes Körperagieren, wie Tätowierungen, Hautverletzungen mit Zigaretten, Unfallneigung, extreme Alkohol-Exzesse und ähnli-ches, gehäuft vorkommen (vgl. Streek-Fischer 1992), sondern auch deshalb, weil sich die psychodynamischen Prozesse sehr ähnlich sind: So wie sich beispielsweise bei der AIDS-Hypochondrie die exis-tentiellen Identitäts- und Todesängste in der unkorrigierbaren wahn-ähnlichen Vorstellung manifestieren, an einer todbringenden bösarti-gen Krankheit zu leiden (vgl. Wirth 1986), hat sich der Fremdenhas-ser in die fanatische und unkorrigierbare Vorstellung verbissen, alles "Böse" gehe nur von dem gehaßten Fremdling aus. Das Gemeinsa-me besteht im Abwehrmechanismus der Spaltung. Dies ist der Ver-such, das "gute" Objekt zu erhalten, indem dessen "böse" Anteile als völlig getrennte Teilobjekte repräsentiert werden. Die eine Seite wird idealisiert, die andere verteufelt, und jede wird auf ein anderes Teil-Objekt projiziert.


Zwei Formen der Externalisierung: Projektion und projektive Identifizierung

Man kann zwei Typen der Fremdenfeindlichkeit unterscheiden: einen ängstlichen und einen haßerfüllten Typus. Bei beiden ist der Ab-wehrmechanismus der Projektion von zentraler Bedeutung. Bei der Xenophobie werden die verpönten Anteile zunächst verdrängt und dann auf den Fremden projiziert. Nun werden sie nur noch dort wahr-genommen und sind aus dem eigenen bewußten Erleben ausge-klammert. Um relativ angstfrei leben zu können, muß der Phobiker nur noch dem ängstigenden Fremden aus dem Wege gehen.
Ganz anders jedoch der Typus des narzißtisch gestörten Fremden-hassers: bei ihm liegt eine besondere Form der Projektion vor, die projektive Identifizierung. Dabei werden die verpönten Anteile - ins-besondere aggressive Impulse - nur unvollständig oder gar nicht verdrängt. Sie bleiben also im Bewußtsein präsent. Ihre Projektion auf äußere Feinde bringt deshalb nur unzureichende Entlastung. Daraus entsteht das Bedürfnis, das Objekt, auf das die aggressiven Impulse projiziert wurden und das deshalb gefürchtet wird, ständig zu kontrol-lieren (vgl. Kernberg 1975). Der Feind wird nicht phobisch gemieden, sondern es wird ein kontrollierender, aggressiver und verfolgender Kontakt mit ihm gesucht. Der Feind soll bestraft oder gar vernichtet werden. Der Fremdenhasser bleibt mit seinen eigenen aggressiven Impulsen bewußt identifiziert, obwohl er sie projiziert hat - daher der Begriff "projektive Identifizierung". Die vollständige Dämonisierung des Gegners wird zur Rechtfertigung für den eigenen Haß, der als reine "Gegenaggression" rationalisiert wird. Typischerweise geht die projektive Identifizierung mit einer mißtrauisch-wahnhaften Umgestal-tung der Realität einher. Das Feindbild erhält eine paranoide Kompo-nente, es wird zur überwertigen fixen Idee bzw. Ideologie, die fana-tisch gegen alle Zweifler verteidigt wird. Schließlich kommt es zur "totalen Fixierung auf den Kampf gegen den Verfolger bis zu blinder Selbstgefährdung" (Richter 1978, S. 121ff.), wie dies aus politischen Konflikten bekannt ist.
Mit Hilfe der beiden folgenden Fall-Vignetten soll nun versucht wer-den, die Psychodynamik des Fremdenhasses noch besser zu verste-hen.


Der Fall Ivo

Der 24jährige, hochgewachsene Mathematikstudent Ivo leidet an drei Störungen:
1. Einer schweren Zwangsneurose, die erstmals im Alter von sechs Jahren auftrat, als seine Mutter an einer Magen-Darmgrippe erkrankte und er Angst hatte, sie zu verlieren. In der Folgezeit habe er sich um extreme Sauberkeit gekümmert, Krebsangst bekommen und die Angst entwickelt, sich mit Nahrungsmitteln zu vergiften. Bei seinen Zwangshandlungen geht es um das Absichern von Türen und Fens-tern, das "Abriechen" seiner Finger sowie das Einhalten bestimmter Rituale beim Arbeiten. Die Symptomatik habe sich vor etwa einem Jahr zugespitzt, seitdem er auf den Abschluß seines Mathematik-Studiums zusteuere.
2. Begleitend zur Zwangssymptomatik hat sich eine schwere Bezie-hungsstörung entwickelt. Der Patient hatte während seines ganzen Lebens nur einen einzigen engeren Freund, mit dem er sich aber auch zerstritt. Schon in der Schule immer als unsportlich ausgelacht und gehänselt, hat sich Ivo in einer Außenseiterrolle eingerichtet. Seine soziale Isolierung verarbeitet er mit einer paranoiden Ideologie, indem er alle Schuld der Gesellschaft zuschreibt und dies mit weit-schweifigen Rationalisierungen begründet. Er sei eben "Einzelgänger und Individualist" und gerate deshalb automatisch in Konflikt mit den angepaßten "Herdenmenschen", zu denen er auch seinen Vater rechnet. Statt sich mit Gleichaltrigen zu treffen, führt Ivo zu Hause chemische Experimente durch und bastelt Bomben. Leistungsmäßig war er - außer in Sport - in der Schule immer hervorragend. Von seinen Eltern als naturwissenschaftliches Genie idealisiert, sieht er sich selbst in der Rolle des verkannten Genies.
3. Eine weitere Störung besteht in einer Perversion, nämlich pädophi-len Neigungen, denen der Patient teils in der Phantasie, teils aber auch in der realen Kontaktaufnahme zu Kindern nachgeht, ohne daß es jedoch bislang zu einer manifesten pädophilen Handlung gekom-men ist. Seine pädophilen Wünsche und Phantasien, die sich aus-schließlich auf vorpubertäre Mädchen richten, erlebt er als ich-synton und verteidigt sie vehement gegen jede Infragestellung.
Der Patient ist Einzelkind und sehr eng an seine Mutter gebunden. Der Vater wollte kein Kind und wendet sich auch später enttäuscht von dem ungeschickten, linkischen und auf die Mutter fixierten Jun-gen ab. Vater und Sohn gehen sich aus dem Weg und kommunizie-ren nur über die Mutter miteinander. Ivo über seinen Vater: "Mein Vater ist ziemlich oberflächlich. Ich halte ihn auch nicht für besonders intelligent. Er redet immer dazwischen, wenn ich mit meiner Mutter rede. Mein Vater versteht überhaupt nicht, was mich beschäftigt." Der Vater über den Sohn: "Mit dem war schon als kleines Kind nichts anzufangen. Er wollte weder Ball spielen noch irgendeinen Sport machen. Er war nur immer schwierig und hing seiner Mutter am Rockzipfel. Ich habe ihn eigentlich aufgegeben."
Der Vater weist eine zwanghafte Charakterstruktur auf und provoziert bei seinem Sohn Ekelgefühle, wenn er "Nasenpopel in der Wohnung herumschnipst". Er unterrichtet als Lehrer Biologie, war ebenfalls als Einzelkind aufgewachsen, hatte den eigenen Vater früh im Krieg ver-loren und hatte noch weit bis ins Jugendalter mit seiner Mutter in einem Zimmer geschlafen.
Die Mutter leidet an herzneurotischen Symptomen, die sie kontrapho-bisch abwehrt. Sie ist in der ehemaligen DDR mit ihrer Mutter und Großmutter "ohne Mann in der Familie" in bescheidenen Verhältnis-sen aufgewachsen. Ihre eigene Mutter sei überaus ängstlich gewe-sen, und sie habe die Aufgabe gehabt, die Mutter zu schützen, z.B. vor den Gänsen. Die Mutter war als Leistungsturnerin und später als Trainerin in der DDR sehr erfolgreich gewesen.
Seit seinem zehnten Lebensjahr schläft Ivo mit seiner Mutter im Ehe-bett. Der Vater schläft im Zimmer des Sohnes. Erst unter dem Einfluß der von mir durchgeführten mehrjährigen Familientherapie ändert die Familie dieses Schlafarrangement. Auffallend ist das fast völlige Feh-len von Schamgefühlen bei allen Familienmitgliedern.
Ivos Eltern vertreten einen kämpferisch und fanatisch vorgetragenen Antisemitismus. Sie leugnen den Holocaust, reden haßerfüllt über Ausländer und Asylanten und sympathisieren mit rechten Parteien. Die Mutter ist dabei die Dominantere und Fanatischere, doch auch der Vater echauffiert sich bei diesem Thema. Mit diesen Parolen tritt er auch in der Schule in Erscheinung und trifft dabei teilweise auf Zustimmung, teilweise auf Widerstand. Mit den "grünen Spinnern" unter seinen Kollegen redet er erst gar nicht. Der Patient selbst ist in diesen Fragen weniger engagiert, wenn ich ihn aber nach seiner Mei-nung frage, plappert er unkritisch alles nach, was seine Mutter ihm eingetrichtert hat. Allerdings hat er nicht nur in diesen, sondern prak-tisch in allen Fragen, die die Außenwelt betreffen, die Weltsicht seiner Mutter übernommen.
Wenn ich versuche, vorsichtig den Antisemitismus und den Fremden-haß der Familie in Frage zu stellen, stoße ich auf Unverständnis und Ablehnung. Der Umgang mit diesem Thema ist ein schwieriger Balan-ceakt: Einerseits möchte ich es nicht grundsätzlich vermeiden, da ich Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit als einen tragenden sym-ptomatischen Bestandteil ihres pathologischen Familiensystems ver-stehe, andererseits spüre ich die Gefahr, in eine konfrontative Dis-kussion zu geraten, die nur mit einem Therapieabbruch enden könn-te. Familiendiagnostisch handelt es sich um eine "paranoide Fes-tungsfamilie" (Richter 1972, S. 90ff.), die sich gegen eine als feindlich und verfolgend empfundene Außenwelt zu einer verschworenen Ge-meinschaft zusammengeschlossen hat.
Kennzeichnend für Ivos Selbstbild ist die Vorstellung, ein armes, un-schuldiges Opfer zu sein, das wegen seiner pädophilen Neigungen von allen Seiten verfolgt, gedemütigt und entwertet wird. Er kann sich zu wahren Haßtiraden hochschaukeln, wenn er über Politiker spricht, die härter gegen sexuellen Mißbrauch von Kindern vorgehen wollen. Sein Intimfeind ist "der Justizminister". Ivo distanziert sich übrigens ausdrücklich von sexueller Gewalt und betont immer wieder, daß es ihm darauf ankomme, die freiwillige Liebe der kleinen Mädchen zu erlangen. Der Patient fühlt sich als Märtyrer, der für eine gute Sache, nämlich die sexuelle Befreiung des Kindes, zu leiden hat. Er scheint es masochistisch zu genießen, sich so verkannt zu fühlen. Das maso-chistische Agieren enthält auch eine Omnipotenzphantasie, einen masochistischen Triumph, der sich aus der Phantasie ableitet, für den sadistischen Täter (manifest sind dies die Politiker, die er bekämpft, unbewußt ist es der Vater) lebensnotwendig zu sein, für diesen sadis-tischen Unterdrücker durch das masochistische Zur-Verfügung-Stehen ein Retter und deshalb ihm überlegen und selbst mächtig zu sein. Zugleich vermittelt ihm der politische Kampf, den er um die Rechte des Kindes führt, ein Stück Identitätsgefühl. Er wird nun be-merkt, ist nicht mehr anonym, auch wenn er für seine Auffassungen verworfen, verdammt und entwertet wird. Die vehement vorgetragene Anklage entlastet ihn zudem von moralischen Selbstvorwürfen wegen seiner inzestuösen und perversen Phantasien. Zugleich ist diese vermeintliche Verkennung für ihn eine Rechtfertigung dafür, Haß und Aggression auszudrücken. Endlich findet er eine Legitimation, seinen Selbsthaß, der in ihm brennt, nach außen zu wenden. Nicht er hat Vorurteile, sondern die anderen hassen ihn aufgrund eines Vorurteils. Wenn Ivo seine Haßtiraden gegen Politiker losläßt, wähnt er sich groß und überlegen, und man spürt förmlich, wie er in einen hypomanen Zustand gerät, der deutlich einer Abwehr seiner untergründigen, de-pressiven Unterlegenheitsgefühle dienen soll. Die Verachtung und Ablehnung, die Ivo entgegenschlägt, bestätigen sein wahnhaftes Grandiositäts- und Überlegenheitsgefühl. Der Patient versucht, im reaktiven Haß sein verletztes Selbstwertgefühl wiederaufzurichten. In seinen destruktiven Phantasien steigert er sich bis in die Vorstellung, die ganze Welt mit einer gigantischen Atombombe zu vernichten.
Die Psycho- bzw. Familiendynamik stellt sich folgendermaßen dar: Der Patient hat eine inzestuös aufgeladene Beziehung zu seiner Mut-ter. Er fühlt sich einerseits als ödipaler Sieger, als naturwissenschaft-liches Genie, das den Vater überflügelt und dessen Platz bei der Mut-ter eingenommen hat. Andererseits erlebt er sich als von der Mutter klein gemacht, überwacht, kastriert und infantilisiert. Die Zwangsneu-rose dient als Schutz vor dem Inzest und damit als Schutz vor der Auflösung aller Grenzen und Regeln und dem Ausbruch einer Psy-chose. Die Zwänge bringen Struktur in diese strukturlose Familie, die den Generationsunterschied verleugnet.
Als zweiter Schutzwall gegen den Inzest dient die Pädophilie. Durch seine Objektwahl vermeidet der Patient, die Mutter eifersüchtig zu machen. Tatsächlich unterstützt die Mutter seine pädophilen Interes-sen, indem sie ihn mit kleinen Mädchen aus ihrer Turngruppe in Kon-takt bringt. Ivo kann sich nur eine Sexualpartnerin vorstellen, die von kindlicher Unschuld und Reinheit ist, da er vor dem Genital der er-wachsenen Frau zurückschreckt. (Die Mutter pflegte vor den Augen des kleinen Ivo zum Beispiel ihre Monatsbinde zu wechseln.) Wenn Chasseguet-Smirgel (1975, S. 23) schreibt, "der Anblick des weibli-chen Genitals ist deshalb so ›traumatisierend‹, weil er das männliche Kind mit seiner Unzulänglichkeit konfrontiert, weil er es zwingt, sein ödipales Scheitern anzuerkennen", dann legt der Fall Ivo eher die Interpretation nahe, daß nicht der Anblick des weiblichen Genitals an sich traumatisierend wirkt, sondern die beziehungsdynamischen Um-stände, unter denen dies geschieht. Freuds Frage, warum "der Kast-rationsschreck beim Anblick des weiblichen Genitales, (der) wahr-scheinlich keinem männlichen Wesen erspart (bleibt), [...] die einen homosexuell" oder zu Fetischisten werden läßt, während "die über-große Mehrzahl ihn überwindet" (Freud 1927e, S. 314), kann unter familiendynamischer Betrachtungsweise so beantwortet werden, daß die unbewußten elterlichen Rollenzuweisungen an das Kind "trauma-tisierend" wirken. Chasseguet-Smirgel (1975, S. 23) formuliert dies vorsichtiger: "Vielleicht könnte man behaupten, daß derjenige pervers wird, der sich nicht entschließen konnte, die Illusion aufzugeben, ihr (der Mutter) Partner zu sein, und dabei oft von seiner Mutter bestärkt wurde."
Auf präödipaler Ebene geht es bei Ivo darum, die Gefühle von Haß und narzißtischer Wut auf die als verführend, überwältigend, aber auch frustrierend erlebte Mutter durch Idealisierung und Sexualisie-rung abzuwehren (vgl. Stoller 1979; Becker 1996, S. 233). Ivo verliebt sich in kleine Mädchen, in denen er sich selbst verkörpert sieht und denen er die fürsorgliche Liebe zukommen lassen will, welche die Mutter ihm versagte (vgl. Fenichel 1931; Berner 1996, S. 1044). Die destruktiven Seiten der Pädophilie werden verleugnet und treten ab-gespalten in der Bomben-Bastelei und im Feindbilddenken in Er-scheinung.
Aufgrund ihrer narzißtischen Struktur ist die Mutter kaum in der Lage, Leidensdruck, Einsicht, Anerkennung von Schuld, gar Schamgefühle zu entwickeln, und bleibt der Verleugnung, Rationalisierung und pro-jektiven Schuldzuweisung verhaftet. Sie hat ihren Sohn narzißtisch und in gewisser Weise auch sexuell mißbraucht. Ganz im Sinne von Ferenczis "Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind" (1933) kommt es bei dem Patienten zur Konfusion, zur Verwir-rung der Begriffe von Liebe als Reaktion auf den traumatisierenden sexuell-narzißtischen Mißbrauch durch die Mutter. Dazu gehört auch die Vernachlässigung des Körpers, der Kleidung, des Aussehens. Immer wieder betont Ivo, daß dies alles bedeutungslos für ihn sei. Er hat seinen Körper quasi der Mutter überlassen, die - wie deutlich zu sehen ist - ihm die Kleidung aussucht: Er sieht so brav und bieder aus wie ein Erstkläßler in den 50er Jahren.
Die Konfusion, die sich in ihm abspielt, bewirkt auch Zweifel an seiner Realitätswahrnehmung. Sie ist Ausdruck der Schwächung der Realitätsprüfung durch das Trauma. Beständig versichert er sich bei seiner Mutter, ob seine Einschätzung einer Sache auch ihre Bestätigung, Unterstützung und Billigung finde. Wenn er in der Therapiestunde erzählt, hält er manchmal plötzlich erschrocken inne und schaut seine Mutter fragend an. Diese wiederum hat schnell gelernt, daß ich einen kritischen Blick dafür habe, wenn sie ihren Sohn manipuliert. Sie hüllt sich in Schweigen und lacht, wenn ihr Sohn sie verunsichert anschaut. Dadurch werden die Zweifel des Patienten an der eigenen Wahrnehmung und Urteilsfähigkeit und vor allem an der Gültigkeit seiner Affekte weiter genährt, und seine Unfähigkeit zur Realitätsprüfung steigert sich in gewissen Bereichen bis zur Pseudo-Debilität. Was soziale Kontakte angeht, befindet sich der Patient auf dem Niveau eines Kleinkindes. Er scheint ohne die Hilfe seiner Mutter nicht lebensfähig zu sein. Besonders durch den unvermittelten Wechsel zwischen emotionaler Nähe und kühler Abwendung der Mutter wird er einer Art Gehirnwäsche unterzogen, weil er im Unklaren gelassen wird, welches seine eigenen und welches die Bedürfnisse der Mutter sind. Der Patient mußte das Verhalten seiner Mutter als einen ständigen Angriff auf seine Realitätserfahrung verstehen, denn die Intrusion ihrer Bedürfnisse in seine Identität stellten eine fortwährende Grenzüberschreitung dar. Ihm fällt es immer wieder schwer, seine eigenen Bedürfnisse von denen der Mutter zu unterscheiden, zumal die Überstimulierung eigene (und doch fremde) Bedürfnisse weckt. Dies ist eine Grenzverwischung zwischen Selbst und Objekt, d.h. ein Angriff auf sein zentrales Identitätsgefühl, so daß er bis heute auf die ständige Anwesenheit seiner Mutter angewiesen ist: um das Gefühl der Vollständigkeit zu behalten und um im sozialen Leben überhaupt bestehen zu können. Im Zentrum der Familie steht der Mutter-Sohn-Inzest, da der Vater als "rettender Dritter" völlig ausfiel. Wie so häu-fig in Mißbrauchsfällen ist es paradoxerweise der Täter, oder hier besser gesagt die Täterin, die noch am ehesten als gute Elternfigur repräsentiert ist, weil das Kind sich durch eine Identifikation mit dem Aggressor "dadurch zu retten versucht, daß es die für es lebensnot-wendige Beziehung zu erhalten sucht, indem es sich selbst die Ursa-che der Gewalt, des Bösen und die Schuld dafür zuschreibt" (Hirsch 1996, S. 35).
Auffallend war die Nicht-Existenz von Scham bei allen Familienmit-gliedern. So berichtete die Mutter auf meine Nachfrage, daß sie sich selbstverständlich nackt vor ihrem Sohn ausziehe. "Da ist doch nichts dabei, wir sind doch eine Familie", sagte sie so provozierend zu mir, daß sich in mir Schamgefühle regten. Das Gegenübertragungsgefühl der Scham empfand ich in der Therapie mit dieser Familie des öfte-ren, und mir wurde langsam bewußt, daß die Familie das Gefühl der Scham in mir induzierte, weil sie ihre eigene Scham abwehren mußte. Das Gefühl von Minderwertigkeit, Unterlegenheit, Unsicherheit und Scham, die das als Muttersöhnchen von den Klassenkameraden ver-spottete Kind Ivo empfunden haben muß, verwandelt er in die provo-kante Präsentation seiner perversen Sexualität, um den anderen zu beschämen.
Soweit diese Fall-Vignette. Zum Vergleich soll nun ein anderes Fall-Beispiel vorgestellt werden, nämlich der rechtsradikale und gewalttä-tige Skinhead Max. Der Vergleich zwischen Ivo und Max erscheint auch in methodischer Hinsicht interessant. Es ist der Vergleich zwi-schen zwei - äußerlich betrachtet - extrem unterschiedlichen Persön-lichkeitstypen, die sich scheinbar nur in einem Punkt gleichen, näm-lich in ihrer ausgeprägten Fremdenfeindlichkeit. Hier der schmale, linkische und feminin wirkende Ivo, der infantil und ängstlich an seiner Mutter klammert und in einer spießbürgerlichen Familie aufgewach-sen ist. Ein unsportlicher Träumer, strikter Anti-Alkoholiker und Anti-Raucher. Dort die provokante Häßlichkeit eines Skinheads mit seiner brachialen Körperlichkeit, seinen Tätowierungen, seiner Glatze und seinen Springerstiefeln, gröhlend, rauchend, Bier trinkend. Unter-schiedlicher können zwei Menschen kaum sein. Doch wie kommt es zur Gemeinsamkeit des Phänomens Fremdenhaß? Beruht der Frem-denhaß in beiden Fällen auf ähnlichen oder auf gänzlich unterschied-lichen Ursachen und Mechanismen?


Der Skinhead Max

Der achtzehnjährige Max ist Mitglied einer etwa neunköpfigen Skin-head-Gruppe. Im Rahmen eines Forschungsprojektes über jugendli-che Subkulturen nehme ich Kontakt zu ihm auf über den Sozialarbei-ter, der seine Wohngruppe betreut. Max erklärt sich ohne weiteres bereit, sich mit meiner Kollegin Monika Reimitz und mir zu treffen. Er erscheint pünktlich und in voller Skinheadmontur. Stolz zeigt er uns sein wichtigstes Statussymbol, seine Doc-Marten-Stiefel, und erläutert uns die Unterschiede zu anderen Stiefelsorten. Seine anfängliche Unsicherheit versucht er zu überspielen, indem er im Stakkato Erzäh-lungen und Sprüche abspult. Inhaltlich beginnt das Gespräch ganz stereotyp, wie fast alle unsere Interviews mit Skinheads: Max beklagt sich über die ungerechtfertigte Ablehnung und die Vorurteile, die er sich als Skin von seinen Mitmenschen immer wieder gefallen lassen müsse. Man unterstelle ihm, er sei brutal, gewalttätig und ein Nazi. Das seien aber alles nur Vorurteile.
Wir haben das Gefühl, daß Max uns auf die Probe stellen will, ob auch wir ihn ablehnen und verurteilen. Außerdem ist die Tatsache seiner Außenseiterrolle von so zentraler Bedeutung für seine Identität, daß er sie bei jedem Kontakt mit Nicht-Skins direkt oder indirekt the-matisiert.
Während Max zunächst über seine Außenseiterrolle klagt, wird später deutlich, daß er durch die Ablehnung, auf die er stößt, auch eine Stüt-zung seiner Identität erfährt: "Wenn man zu mehreren Skins durch die Straßen läuft, weichen die Leute aus. Die haben Muffe vor uns. Das baut einen irgendwie auf. Als ich noch normal 'rumlief und habe im Bus die Beine auf den Sitz gelegt, bin ich angemacht worden. Wenn ich das heute als Skin mache, lassen mich die Leute in Ruhe. Eigentlich bleibt man ja der gleiche Typ, aber als Skin wird man brei-ter, und die anderen reagieren anders."
Von den Punks, mit denen er früher sympathisiert hat, grenzt sich Max scharf ab. Deren Motto "Null Bock" und "no future" könne man nur vertreten, "wenn man wirklich ganz unten ist. Ich habe mich nie als der letzte Dreck gefühlt, ich war nie so weit unten. Als ich meinen Null-Bock-Trip hatte, bin ich in den Knast gekommen. Das hat mich wieder aufgebaut. Danach bin ich Skin geworden."
In dieser kurzen Passage verleugnet Max einerseits, daß er sich in seinem Leben häufig ganz unten und "wie der letzte Dreck" gefühlt hat, gesteht andererseits aber indirekt ein, daß dies doch schon der Fall war: Als er seinen "Null-Bock-Trip" hatte, sei er in den Knast gekommen. Max ist auf der Suche nach festen, Halt gebenden Struk-turen und einer "väterlichen" Autorität und findet diese offenbar in der Institution des Gefängnisses, das er nicht als Strafe empfand, son-dern sich dort sogar "aufgebaut" fühlte. Das Gefängnis bringt er un-mittelbar in Zusammenhang mit der Gruppe der Skinheads, in der er offensichtlich einen ähnlichen Halt findet wie im Knast. Max betont die starke Gruppensolidarität bei den Skins: "Daß die Gruppe zusam-menhält, ist für mich das allerwichtigste. Wenn einer was auf die Ba-cke kriegt, sind alle anderen gleich da, und dann geht's rund." Au-ßerdem gefalle ihm an den Skins, "daß wir nicht nur 'rumhängen wie die Punks und saufen, sondern auch was machen, z.B. zu Fußball-spielen fahren und Hausies [Hausbesetzer] verkloppen."
Als wir ihn nach seiner Familie fragen, wird deutlich, auf welchem biographischen Hintergrund sein Gefühl, der letzte Dreck zu sein, angesiedelt ist: Max lernt seinen Vater nie kennen. Der Vater verläßt die Familie wenige Monate nach der Geburt seines Sohnes und zahlt nie Unterhalt. Die Mutter wird mit Max bald nicht mehr fertig. Er kommt in eine Pflegefamilie und danach ins Heim. Dann holt ihn die Mutter wieder zurück. Das geht aber nie lange gut, und so pendelt er einige Jahre zwischen Heim und Mutter hin und her. Jetzt hat er prak-tisch keinen Kontakt mehr zu ihr. Nur ganz selten fährt er nach L., um sie zu besuchen.
Von seinen Beziehungen zu Frauen sagt Max, bei den Skins halte man nicht viel von Frauen. Man betrachte sie "als Kaugummi, als Zigarettenpapier, als Klopapier, das man benutzt und dann weg-schmeißt". Andererseits berichtet er auf die Frage, ob er schon ein-mal verliebt gewesen sei, von einer zehn Jahre älteren Erzieherin, zu der er seit einigen Jahren Kontakt habe. Wenn es ihm schlecht gehe, könne er sie jederzeit anrufen, auch nachts. "Nach meiner ersten Schlägerei habe ich sie angerufen und zum Schluß geflennt wie ein Schloßhund", obwohl er vorher bei seinen Kameraden noch mit sei-nen Heldentaten geprahlt habe. Max will dieser Erzieherin imponie-ren, befürchtet aber, auch diese Beziehung könne zerbrechen, wenn er zuviel Unsinn anstellt. Max wirkt sichtlich bewegt, als er davon spricht, will dieses Thema aber beenden und kommt wieder auf die Skins zurück.
Die meisten Skins seien rechtsradikal eingestellt. Er selbst mache die Heil-Hitler-Sprüche aber nicht mehr mit. Er wolle sich nicht mehr dem Gruppendruck beugen. Richtige Nazis seien die Skins aber auf keinen Fall, denn man habe sich den Anwerbungsversuchen einer Nazi-Organisation nicht sehr lange ausgesetzt. Aber andererseits stehe er auch zu dem Spruch: "Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein!" "Das ist doch ganz normal und hat nichts mit Faschismus zu tun. Ich nehme mir das gleiche Recht wie Jugendliche aus anderen Nationen auch." Auf die Ausländerfeindlichkeit der Skins angesprochen, windet sich Max. Er gesteht zwar ein, daß viele Skins die Türken hassen, weil sie den Deutschen die Arbeitsplätze wegnähmen, distanziert sich selbst aber nachdrücklich von jeglicher Ausländerfeindlichkeit. Wir haben den Eindruck, daß Max sich das ganze Gespräch über eifrig bemüht, uns zu vermitteln, daß er nicht dem Negativ-Image des gewalttätigen, rechtsradikalen Skinheads entspricht. Auch Max unterliegt offenbar dem sozialen Druck, der von der - relativ intimen - Interviewsituation ausgeht. Die Tendenz, im Sinne der "sozialen Erwünschtheit" zu antworten, konnten wir im übrigen auch bei anderen Skinheads, vor allem in Einzelinterviews, feststellen. Dies zeigt, daß Skinheads ein Bedürfnis nach sozialer Anerkennung haben, und dies auch im per-sönlichen Kontakt zum Ausdruck kommt, selbst wenn sie durch ihr Auftreten in der Öffentlichkeit offenbar ganz darauf aus sind, Ableh-nung zu provozieren.
Gegen Ende nimmt unser Gespräch eine überraschende Wende. Max erklärt, seine Hauptfeinde seien nicht die Ausländer, sondern die Vogelsberger. Als wir erstaunt nachfragen, ob er denn tatsächlich alle Menschen, die im Vogelsberg wohnen, als Feinde betrachte, ereifert sich Max wortreich über "die Dummheit der Bauern im Vogelsberg", die er als "Arschlöcher", als "Abschaum der Nation", als "die Juden von heute" bezeichnet, die "unter Hitler heute dran wären". Max hat sich richtig in Rage geredet. Er erzählt von einer Zerstörungstour, die er kürzlich mit seiner Skingruppe nach L. unternommen habe, um dort "eine Disco auseinanderzunehmen". Es habe mehrere Verletzte gegeben, und er habe erst durch den massiven Einsatz der Polizei gebremst werden können.
Bei der Erwähnung des Ortes L. fällt es uns wie Schuppen von den Augen: Max fährt in die Stadt, in der seine Mutter lebt, dorthin, wo er - wie sich herausstellt - geboren ist, um alles kurz und klein zu schlagen und seinen aufgestauten Haß herauszulassen. Als wir ver-suchen, diesen Zusammenhang vorsichtig anzudeuten, wird es Max ungemütlich. Er beginnt abzuwehren und weigert sich, weiter darüber zu sprechen, da sonst - so Max - die Gefahr bestehe, daß auch wir noch die Vogelsberger zu hassen anfingen. Wir verstehen, daß seine Angst vor einer Wiederbelebung der in der Kindheit erlittenen Krän-kungen und vor den daraus resultierenden Haßgefühlen so groß ist, daß er befürchtet, sie könnten ihn selbst und uns überschwemmen. So dringen wir nicht weiter in ihn ein. Der verabredete weitere Kontakt mit Max kommt nicht zustande, da er kurz darauf zur Bundeswehr geht und wir ihn aus den Augen verlieren.
Maxens Grundhaltung zum Leben ist geprägt von den tiefen Enttäu-schungen und Verletzungen, die er als Kind - von Vater und Mutter im Stich gelassen und weggegeben - erfahren mußte. Anderen Men-schen Zuneigung und Freundschaft zu schenken, sie gar zu lieben und sich ihnen anzuvertrauen, bedeuten für Max Erlebnisweisen, die mit überwältigenden Gefahren verbunden sind, weil sich die frühen Enttäuschungen, Schmerzen und Erniedrigungen seiner Kindheit wiederholen könnten. Dies zu vermeiden ist sein ganzes Bestreben. Diesem Ziel dienen die narzißtischen Gegenideale der Kälte, die Ver-achtung menschlicher Ideale schlechthin, der Mangel an Einfühlungs-vermögen, die Entmenschlichung des Gegners und das zerfressende Ressentiment gegen alles, was ihm als Zeichen von Schwäche, Hilf-losigkeit und Verweichlichung erscheint.
Das zeigt sich auch in seinem gespaltenen Frauenbild. Max nimmt Frauen entweder als "heilige Mutter" oder als "verachtenswerte Hu-re" wahr. Diese Wahrnehmung ist das Ergebnis eines psychischen Prozesses, bei dem sowohl seine eigene Identität als auch sein Bild über andere Menschen in absolut gute und absolut böse Teile gespal-ten wird. Die Spaltung ist als Abwehr gegen intensive Haßgefühle und ebenso intensive Vernichtungs- und Verlassenheitsängste entstan-den, die von der defizitären Beziehung zu seiner Mutter herrühren. Sie prägt nicht nur Maxens Frauenbild, sondern auch seine Wahr-nehmung der Welt überhaupt. In seinem Haß auf alles Fremde und in seinen Ressentiments gegen auswechselbare Opfer brechen seine paranoid aufgeladenen Aggressionen hervor. Hingegen nimmt sich sein "Stolz, ein Deutscher zu sein", als hilfloser Versuch aus, dem Selbsthaß etwas Positives entgegenzuhalten, das er idealisieren kann. Er benutzt das unter Skins und Rechtsradikalen verbreitete Motto: "Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein", gleichsam als Gegen-gift, um die kränkende Einsicht ausblenden zu können, daß er sich eigentlich zeit seines Lebens "wie der letzte Dreck" behandelt fühlt. Seine Menschenverachtung verweist auf seine lebensgeschichtliche Erfahrung zurück, daß er immer der Ausgestoßene, Benachteiligte, Übervorteilte und Betrogene war. Zur Verachtung der anderen kor-respondieren Selbstverachtung, Selbsthaß und selbstzerstörerische Impulse und Handlungen. Ein Teil von Max ist mit der traumatisieren-den, als sadistisch und böse erlebten Mutter identifiziert. Seine sadis-tische Teil-Identität fügt anderen (und sich selbst) die Bösartigkeiten zu, die er selbst erleiden mußte, während seine verachtet-masochistische Teil-Identität mit dem Opfer identifiziert ist. Indem er die Macht und den menschenverachtenden Terror idealisiert, versucht er die früher erlittenen Traumatisierungen umzukehren: Er will nun so stark und gefürchtet sein, wie er die einst von ihm gefürchtete "böse" Mutter erlebt hat, bringt sich damit aber immer wieder zwangsläufig in die Rolle des Verfolgten.


Vergleich beider Fallbeispiele

In den beiden Fallbeispielen tauchen einige bemerkenswerte Paralle-len auf:
1. Für beide Jugendlichen ist das Gefühl, Opfer zu sein und ausnahmslos immer ungerecht behandelt zu werden, konstituierend für ihre Identität. Sowohl Ivo als auch Max haben das Empfinden, für andere die Inkarnation des Bösen zu sein, und sie identifizieren sich mit der Opferrolle, weil sie damit die passiv erlittene Schmach, Scham und Angst ins Aktive wenden können. Statt selbst Angst zu haben, jagen sie anderen Angst und Schrecken ein. Der innere Konflikt wird in einen äußeren Konflikt zurückverwandelt. Selbst als Feindbild für andere zu fungieren, legitimiert die Aufrechterhaltung des eigenen Feindbildes. Negatives Selbstbild und Feindbild sind eng miteinander verwoben. Eben dies ist das Kennzeichen der projektiven Identifizierung. Wer selbst die traumatisierende Erfahrung gemacht hat, von seinen Mitmenschen in die Rolle des Sündenbocks gedrängt zu werden, kann einen Ausweg darin sehen, nun seinerseits einen Feind und Sündenbock zu suchen, auf den er seine verpönten Anteile projiziert, den er verfolgt und demütigt. Feindbilder haben die Dynamik, sich immer weiter fortzupflanzen.
2. Beide Jugendliche haben das Gefühl, daß ihnen von seiten der Gesellschaft großes Unrecht zugefügt worden ist. Es besteht also ein Bewußtsein dafür, daß es ein Prinzip der Gerechtigkeit gibt und dieses eklatant verletzt wurde. Léon Wurmser (1987) hält dies für ein entscheidendes Kriterium bei der Entstehung von Feindbildern und Ressentiments. Im Fremdenhaß wird Rache als ausgleichende Ge-rechtigkeit geübt für vermeintliches, häufig aber auch tatsächlich erlittenes Unrecht. Das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein, stellt ein zentrales Motiv für Fremdenhaß dar. Dies dürfte einer der Gründe sein, weshalb der Fremdenhaß in der ehemaligen DDR größer ist als in den alten Bundesländern.
3. Bei beiden Protagonisten spielt die Abwehr von Schamgefühlen durch die Wendung von Passivität in Aktivität eine zentrale Rolle. Ivo verwandelt seine peinigenden Gefühle von Minderwertigkeit, Unterlegenheit und Scham in die bewußte Darstellung von Obszönität und Perversität. Er ist nicht mehr der kleine, verunsicherte Junge, der den Hänseleien und verächtlichen Blicken anderer ausgesetzt ist, sondern ein bekennender Päderast, der mit seinen sexuellen Bekenntnissen den Zuhörer beschämt.
Bei Max liegen die Dinge ähnlich: Seine provokant zur Schau getragene Häßlichkeit zwingt den anderen, seinen Blick angstvoll und verlegen abzuwenden, "läßt das vormalige Opfer der Beschämung und Häßlichkeit zum Täter werden. Subjektive Ohnmachtsgefühle und Schwäche werden in provokante, andere mit Angst erfüllende Stärke verwandelt. Das oftmals zu beobachtende höhnische Grinsen bei Skins drückt diesen ›Sieg‹ aus" (Hilgers 1996, S. 168). Scham, Wut und Größenphantasien sind die grundlegenden Manifestationen eines gestörten narzißtischen Gleichgewichts. Narzißtische Kränkungen können zu schamerfülltem Rückzug, zu grandiosen Phantasien oder zu narzißtischer Wut führen. Letztere zeichnet sich durch Rachsucht und grenzenlose Besessenheit aus (vgl. Kohut 1971, S. 226) und führt zur Ausbildung von paranoiden Feindbildern. Die narzißtische Wut steht im Dienste eines "archaischgrandiosen Selbst", das "auf der bedingungslosen Verfügbarkeit der billigendspiegelnden Funktion eines bewundernden Selbst-Objektes beruht oder auf der stets vorhandenen Gelegenheit zur Verschmelzung mit einem idealisierten SelbstObjekt" (ebd., S. 233). Trotz ihrer Verschiedenheit trägt die narzißtische Wut von Max und Ivo gewisse gemeinsame Züge, da beide in der Matrix eines narzißtischen Weltbildes verwurzelt sind. Beide können nicht das geringste Verständnis für ihre Beleidiger aufbringen. Beide reagieren mit einer unversöhnlichen Wut, wenn sie die Kontrolle über das widerspiegelnde Selbst-Objekt verlieren. So geriet Ivo oft außer sich vor Wut, wenn seine Mutter ihm auf seine Fragen keine Antwort gab oder der Vater nicht verstand, was er wollte. Und auch bei den Skins reichen scheinbar geringfügige Provokationen - z.B. wenn jemand anders aussieht, als es den Skins gefällt -, um einen Ausbruch narzißtischer Wut hervorzurufen.
Im Umgang mit gewaltbereiten Jugendlichen befinden sich die gesellschaftlichen Autoritäten in einem Dilemma: Wenn sie mit aller Macht versuchen, die Einhaltung von Recht und Ordnung zu erzwingen, demütigen sie die Jugendlichen, was zu einer weiteren Eskalation von Gewalt führt, da diese versuchen, ihre verlorene Ehre durch erneute Gewalt wiederherzustellen. Wenn jedoch die Polizei durch Duldung gewalttätiger Übergriffe ihr latentes Einverständnis oder Schwäche zu signalisieren scheint, kommt es bei den Jugendlichen zu Enttäuschungswut über die schwache Autorität. Für die konkreten Auseinandersetzungen bedeutet dies, daß Grenzsetzungen erforderlich sind, die die Würde der Beteiligten respektieren, ohne den jeweils anderen zu demütigen.
4. In beiden Fällen haben die manifesten Feindbilder nur eine Stellvertreter-Funktion für einen Haß übernommen, dessen affektive Wurzeln tiefer reichen. Man könnte vermuten, der eigentliche Haß gelte der "bösen" Mutter, die in Ivos Fall überwältigend, im Fall von Max vernachlässigend war. Vieles spricht für diese Deutung. Doch ist das die ganze Wahrheit? In beiden Fällen existieren noch weitere Feindbilder. Max schlägt sich mit der Polizei. Ivos Intimfeind ist der Justizminister. In beiden Feindbildern lassen sich unschwer väterliche Autoritätsfiguren erkennen. Sowohl bei Ivo als auch bei Max fehlte der Vater als "rettender Dritter". Das Kind war schutzlos der frustrierenden Mutter ausgeliefert. Die frühe Triangulierung fand nicht statt. Deshalb kam es auch zu keiner Integration der guten und der bösen Introjekte. Da beide Jugendliche auf einen präsenten Vater verzichten mußten, sehnen sie sich unbewußt nach strukturierenden Vaterfiguren, an denen sie sich reiben können. Sowohl das gewalttätige Randalieren von Max als auch die sexuelle Provokation von Ivo haben die Bedeutung, die gesellschaftliche Autorität zu einer Grenzen setzenden Reaktion herauszufordern. Beide Jugendliche sind von einer tiefen Vatersehnsucht (vgl. Aigner 2001) geprägt, die sich in der Provokation der gesellschaftlichen (väterlichen) Autoritäten und in einem masochistischen, passiv-homosexuell getönten Strafbedürfnis ausdrückt.
5. Sowohl bei Ivo als auch bei Max verbirgt sich hinter dem Feindbild, das sich ihre jeweilige Bezugsgruppe ausgewählt hat - ich nenne es das kollektive Feindbild -, ein weiteres individuelles Feindbild - ich nenne es das private Feindbild -, das lebensgeschichtlich bedeutsamer ist. Der Privat-Haß wirkt noch irrationaler und verschrobener als der kollektive Haß. Er bringt das Individuum in die Rolle des Außenseiters, des Verrückten, da kaum jemand das private Feindbild teilt. Wer die Anerkennung seiner Haßgefühle in der Gruppe sucht, wird also seinen Haß auf ein Objekt verschieben, das sich auch andere als Feindbild auserkoren haben. Auf der einen Seite beziehen kollektive Feindbilder ihre affektive Energie zum Teil aus individuellen Pathologien. Auf der anderen Seite findet das Individuum eine Entlastung von seelischem Konfliktdruck, indem es seine Affekte in das kollektive Feindbild einfließen läßt. Feindbilder sind offenbar relativ leicht austauschbar. Freuds Bemerkung, es handele sich bei der Religion um eine kollektive Neurose, läßt sich auf das Feindbild übertragen: Feindbilder sind kollektive narzißtische Störungen.
Mit Georges Devereux (1970) könnte man auch die Unterscheidung zwischen einer ideosynkratischen und einer ethnischen psychischen Störung treffen. Die ideosynkratische Störung entsteht aufgrund ganz spezifischer individueller Lebensumstände. An einer ethnischen Störung leiden demgegenüber nicht nur einzelne Individuen, sondern eine große Zahl der Mitglieder eines Kollektivs. Dem entspricht das ethnische Unbewußte, das den Teil des Unbewußten ausmacht, den das Individuum gemeinsam mit der Mehrzahl der Mitglieder seiner Kultur besitzt. Das ethnische Unbewußte entsteht aus dem, was in einer Kultur verdrängt werden muß, das ideosynkratische Unbewußte beruht vor allem auf familiären Abwehrkonstellationen. Die Kultur bietet kollektive Abwehrstrategien als kulturelle vorgeformte "Modelle des Fehlverhaltens" (ebd., S. 64) an, die es ermöglichen, sich in sozial akzeptabler Weise normabweichend zu verhalten. Das Motto könnte lauten: "Tu es nicht, aber wenn du es tust, dann muß es so und so gemacht werden" (ebd.).
6. Patienten, die ihre frühe Störung als psychosomatische Krankheit organisieren und damit zu bewältigen versuchen, unterhalten in der Regel enge Familienkontakte, meist zur Herkunftsfamilie, manchmal auch enge Kontakte zu Partnern. Ihre Krankheit hat auch eine soziale Funktion und Bedeutung in diesem engeren sozialen, meist familiären Kontext. Selbstbeschädigungen und Suizidversuche haben eine hohe interaktionelle Bedeutung und lösen intensive emotionale Reaktionen und Handlungen aus (vgl. Sachsse 1989, S. 104). Ich vermute, daß bei den klinischen Krankeitsbildern in der frühen Mutter-Kind-Dyade eher ein Bindungs-Modus überwiegt, während bei den Fremdenhassern eher ein Ausstoßungs-Modus dominiert. Die Fremdenhasser und Gewalttäter suchen deshalb nicht einen familiären Kontext, sondern einen Gruppen-Kontext, in dem sie Halt, Anerkennung, Bestätigung und Gleichgesinnte finden, mit denen sie ihre narzißtische Störung organisieren und ausagieren können. In Gruppen trifft man eher auf allgemeine Ideologien und Feindbilder, in der Familie aber auf eine Privat-Ideologie.
7. Als Pendant zu ihrem negativen Feindbild haben beide Jugendliche ein Idealbild aufgebaut, das überhöht, in sich widersprüchlich und - im Sinne von Janine Chasseguet-Smirgel (1975, 1984) - "falsch" ist: Ivo idealisiert die Reinheit, Zärtlichkeit und Unschuld der pädophilen Liebe. Die "Falschheit" dieser Idealisierung liegt darin begründet, daß die der Pädophilie innewohnende sexuelle Gewalt verleugnet wird.
Max hingegen hat Deutschland zu seinem Ideal erhoben. Er betont seinen "Stolz darauf, ein Deutscher zu sein". Im "Phantasma der Nation" (Bohleber 1992) erfüllt sich der unbewußte Wunsch nach "präambivalenter Verschmelzung" (ebd., S. 689) mit einem idealisierten Objekt. Begriffe wie Volk, Nation und Rasse "laden zur Teilnahme an etwas Großem, Erhabenem, Starkem ein, das die eigene Existenz transzendiert und Anerkennung ohne Ansehen der sozialen Stellung verspricht" (Neckel 1991, S. 168). Auf diese Form der Selbstbestätigung und Anerkennung sind besonders die Menschen angewiesen, die aufgrund einer narzißtischen Kränkung das Gefühl der Ohnmacht, der Ungerechtigkeit und der eigenen Wertlosigkeit haben. Dies zeigen auch die Untersuchungen von Heitmeyer und Mitarbeitern über (vorwiegend männliche) Jugendliche aus sozialen Krisengebieten, die als sogenannte "Modernisierungsverlierer" für Rechtsextremismus besonders anfällig sind. "Volk, Nation und Rasse sind Prinzipien der Selbst- und Fremdbewertung, die auch dann noch gelten können, wenn alle anderen Prinzipien - Geld, Macht, Wissen und Prestige, [befriedigende Intimbeziehungen] - schon versagt haben" (ebd., S. 169) oder zu versagen drohen. Für Unterlegene fungieren sie als Identitätsstütze, die um so mehr in den Vordergrund tritt, je weniger andere Quellen der Anerkennung verfügbar erscheinen.
"Die Teilhabe am großen überlegenen Kollektiv des einen Volkes verspricht, die Enge und Beschränktheit der eigenen Existenz zu überschreiten. Erhaben strahlt das Kollektiv-Symbol über die selbst empfundene Niedrigkeit der eigenen Verhältnisse hinweg, weshalb es auch gerade dann noch an Faszination gewinnt, wenn die eigenen Lebensumstände immer deprimierender werden" (ebd., S. 161).
Der demonstrative Stolz, ein Deutscher zu sein, und die Abgrenzung gegenüber den als minderwertig eingestuften Fremden dienen dazu, das eigene beschädigte Selbstwertgefühl zu festigen.


Schlußbetrachtung

Meinem Versuch, Fremdenhaß und Gewalt als Symptome einer psychosozialen Krankheit zu verstehen, liegt ein spezifisches Krankheitsverständnis zugrunde. Der Wahn der Fremdenfeindlichkeit hat einen unbewußten Sinn, ihm kommt eine psychische und soziale Funktion zu. Ich kann mich bei dieser Auffassung auf den Physiker und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker (1967) berufen, auf dessen Vortrag "Friedlosigkeit als seelische Krankheit" meine Formulierung anspielt. Indem ich ausdrücklich von Krankheit gesprochen habe, wollte ich deutlich machen, daß es sich dabei weder um Dummheit noch um Bosheit handelt. Eben darum ist die Fremdenfeindlichkeit weder durch Belehrung noch durch Verdammung zu überwinden. Sie bedarf anderer Prozesse, die man Therapie, Heilung, Verständigung, vielleicht auch Aufklärung in einem emphatischen Sinn nennen könnte.

(Anschrift des Verf.: PD Dr. Hans-Jürgen Wirth, Goethestr. 29, D-35390 Gießen. E-Mail: hans-juergen.wirth@psychosozial-verlag.de)



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Summary
Xenophobia and violence as a familial and psychosocial disorder. - After a review of the concepts of prejudice, xenophobia, and fear of strangers as encountered and employed in social psychology, ethology, and developmental psychology, Wirth analyzes familial and social backgrounds operative in the emergence of xenophobia and fear of strangers. He discusses the fear of strangers/foreigners/others with reference to agoraphobia, and xenophobia as a narcissistic disorder in which projection and projective identification are highly significant factors as forms of externalization. The author illustrates his views with two case descriptions involving young people.

Résumé
La xénophobie et la violence en tant que maladie familiale et psychosociale. - Après un bref aperçu sur les concepts de préjugé, de xénophobie et de peur des étrangers, employés par la psychologie sociale, les études comportementales et la psychologie du développement, Wirth analyse quelquesuns des arrière-plans sociaux à la peur des étrangers et à la xénophobie: il analyse la peur des étrangers au moyen de l'exemple de l'agoraphobie, et la xénophobie comme un trouble narcissique dans lequel la projection et l'identification projective en tant que formes d'externalisation ont une importance fondamentale. L'auteur concrétise ses idées au moyen de deux présentations de cas d'adolescents.

Ein weiterer Artikel von Hans-Jürgen Wirth:
Zeitgemässes über Terrorismus, Krieg und Tod



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