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Erstmals
erschienen in Psyche, Heft 11
(November 2001), S. 1217-1244.
PD Dr. Hans-Jürgen Wirth, Giessen
Wir danken der Redaktion von PSYCHE
für die Erlaubnis, den Artikel von PD Dr. Hans-Jürgen
Wirth, veröffentlichen zu dürfen.
Übersicht: Nach einer Zusammenfassung der Konzepte zum Vorurteil,
zu Fremdenhaß und Fremdenangst in Sozialpsychologie, Verhaltensforschung
und Entwicklungspsychologie analysiert Wirth einige familiäre
und soziale Hintergründe von Fremdenangst und Fremdenhaß:
die Fremdenangst am Beispiel der Agoraphobie, den Fremdenhaß
als eine narzißtische Störung, bei der die Projektion
und projektive Identifizierung als Formen der Externalisierung
von zentraler Bedeutung sind. Mit zwei Falldarstellungen von Jugendlichen
konkretisiert der Autor seine Vorstellungen.
Vorurteile und Feindbilder in der klassischen Sozialpsychologie
Vorurteile und Feindbilder gehören zu den von der Sozialpsychologie
relativ häufig untersuchten Sachverhalten (vgl. Secord u.
Backman 1964, S. 202ff.). Unter Vorurteilen versteht man vorgefaßte,
negative Einstellungen und Urteile über eine Person, eine
soziale Gruppe oder einen Gegenstand, "die sich auf eine
fehlerhafte und starre Verall-gemeinerung gründen",
heißt es in Allports Buch Die Natur des Vor-urteils (1954,
S. 23). Verdichten sich verschiedene charakteristische Vorurteile
zu einem Vorurteils-Syndrom, so bildet dieses ein Feind-bild.
Solche Feindbilder richten sich oft gegen rassische, nationale,
ethnische oder religiöse Gruppen. Feindbilder stellen eine
Form ver-zerrter Realitätswahrnehmung dar, die von bestimmten
Interessen und Bedürfnissen der Individuen und der Gesellschaft
gesteuert wird (Nicklas 1988, S. 32).
Die frühe Vorurteilsforschung betrachtete Vorurteile als
psychisches Ergebnis realer Konflikte. Der amerikanische Sozialpsychologe
Mus-tafa Sherif konnte in seinen Ferienlager-Feldversuchen mit
amerika-nischen Jugendlichen zeigen, wie durch die Herstellung
von Konflik-ten zwischen den Jugendgruppen Vorurteile und Haßgefühle
experi-mentell erzeugt werden können. Wurden die beiden Jugendgruppen
in Wettbewerbssituationen gebracht, bildeten sich positiv getönte
Wir-Gefühle für die eigene Gruppe und negativ gefärbte
Stereotype für die Fremdgruppe heraus (vgl. Secord u. Backman
1964; Nicklas 1994). Wurden als zusätzliche Variablen noch
Statusunterschiede und knap-pe Ressourcen eingeführt, potenzierten
sich die Konflikte.
Es gelingt unschwer, Sherifs Theorie, die als realistische Gruppen-konflikttheorie
in die Forschungsgeschichte eingegangen ist, auf die Entstehung
und das rapide Anwachsen der Fremdenfeindlichkeit in nahezu allen
westeuropäischen Gesellschaften anzuwenden. Die hohe Arbeitslosigkeit,
der Mangel an bezahlbaren Wohnungen, die Einschnitte ins soziale
Netz - alle diese Erscheinungen traten gegen Ende der 90er Jahre
gleichzeitig mit der wachsenden Fremdenfeindlichkeit in der Bundesrepublik
auf. Sie legen die Erklärung nahe, daß es die Konkurrenz
um knappe, aber begehrte Güter ist, die zur Fremdenfeindlichkeit
führt. Gestützt wird diese Theorie durch die Tatsache,
daß in den Bevölkerungsteilen, die sich in unmittelbarer
Konkurrenz und räumlicher Nachbarschaft zu Immigranten und
Asylanten befinden, die Ausländerfeindlichkeit am stärksten
ausgeprägt ist.
Ins Politische gewendet führen diese sozialpsychologischen
Theorien zu der These, daß die Bundesrepublik gerade in
Zeiten der ökonomi-schen Krise und durch die Belastungen
der Vereinigung nicht nur ökonomisch, sondern auch psychisch
überfordert sei, und daß vor diesem Hintergrund den
gewalttätigen Ausschreitungen gegen Aus-länder nur Einhalt
geboten werden könne, wenn man deren Zuzug drastisch verringere
(vgl. Nicklas 1994, S. 44ff.).
Die Theorien der klassischen Sozialpsychologie können zwar
eine gewisse Plausibilität für sich in Anspruch nehmen,
dennoch ist ihr Geltungsbereich aus folgenden Gründen begrenzt:
1. Es müssen nicht unbedingt reale Interessenkonflikte sein,
die zu Feindbildern führen, sondern es reicht aus, wenn Konflikte
lediglich in der Phantasie existieren. Im Extrem: Es gibt auch
- um mit Adorno zu sprechen - einen "Antisemitismus ohne
Juden".
2. Die Ausländerfeindlichkeit ist nicht ausschließlich
ein Phänomen des unteren Drittels der Gesellschaft. Auch
nicht-materielle Motive, z.B. religiöse, ideologische, ethnische,
psychopathologische usw. können zur Ausbildung von Vorurteilen
führen.
3. Die klassische Sozialpsychologie hat schwerpunktmäßig
sachlich begründete Interessenkonflikte und Gegnerschaften
und die sie be-gleitenden affektiven und kognitiven Prozesse untersucht.
Mit diesen Theorien lassen sich jedoch nicht jene Fälle erklären,
in denen es zu einem Überschuß an aggressiver Energie
kommt, zu einem schier unbegrenzten Fremdenhaß, der über
ein "funktionales Feindbild", das zur Entstehung eines
Wir-Gefühls in der sich gegen den Feind abgrenzenden Gruppe
nützlich sein mag, weit hinausgeht. Der Frem-denhaß
kann sowohl in seiner individuellen als auch in seiner gesell-schaftlichen
Ausprägung bekanntlich so weit gehen, daß er die völlige
Vernichtung des Feindes sowie die Selbstschädigung und Selbstver-nichtung
mit einschließt. Hier kommt offenbar ein triebhaft-irrationales
Moment mit ins Spiel, das von den genannten Theorien nicht erklärt
werden kann und nach tiefergehenden Erklärungen verlangt.
Aggression
gegen Fremde aus der Sicht der Verhaltensforschung
Weiteren Aufschluß kann die vergleichende Verhaltensforschung
geben. Ethologisch betrachtet scheint die Furcht vor dem Fremden,
die Distanz zu ihm und die latente Aggressionsbereitschaft gegen
den Fremden ein entwicklungsgeschichtlich früh angelegtes
"Urphäno-men" - auch beim Menschen - zu sein (vgl.
Wahl 1994, S. 161). Als gesellig lebende Wesen organisieren die
Menschen ihre Reproduktion in Gruppen. In der Konkurrenz um knappe
Güter, insbesondere Terri-torien zur Jagd und zum Leben,
wird jede fremde Gruppe zum Kon-kurrenten, Gegner und Feind. Gruppenegoismus
und Fremdenhaß erscheinen als anthropologische Konstante.
Der ethologische Erklärungsansatz ist insofern wertvoll,
als er das Augenmerk auf die triebhaft-biologisch-naturhaft-tierische
Verwurze-lung des Menschen richtet. Die Zivilisationsgeschichte
der Menschen ist relativ kurz. Trotz aller Zivilisiertheit, aller
Moral, aller Technik und auch aller Aufklärung besteht in
Krisensituationen immer die Gefahr der Regression auf vor-zivilisatorische,
archaische Reaktionsformen, sowohl in bezug auf das Individuum
als auch auf die Gemeinschaft. Während höhere Säugetiere
(bis auf wenige Ausnahmen) eine ins-tinktiv festgelegte Tötungshemmung
gegen Artgenossen haben, ist der Mensch aus seiner instinktiven
Natur-Eingebundenheit teilweise befreit (vgl. Gehlen 1940). Dies
schließt auch die das Gattungswesen Mensch auszeichnende
Freiheit ein, den Mitmenschen und sich selbst töten zu können.
Ohne Sozialisation, Zivilisierung und soziale Einbin-dung ist
der Mensch destruktiver und selbstdestruktiver als jedes Tier.
Der Erklärungswert der ethologischen Theorien bleibt jedoch
aus folgenden Gründen begrenzt:
1. Neben dem Bild vom bösen, gefährlichen Fremden existiert
auch das Bild vom Fremden als einem anziehenden, interessanten,
exoti-schen und verlockenden Wesen. Die Ambivalenz dem Fremden
gegenüber ist tief in der Psyche verwurzelt.
2. Wenn vom "Urphänomen der Aggression" die Rede
ist, dann muß auch der Gegenpol, nämlich das "Urphänomen
der Sympathie" im Sinne von Schopenhauer und Scheler, mitbedacht
werden. Wie Rich-ter (1979, S. 247) unter Bezugnahme auf diese
Autoren ausführt, "steckt in dem Urphänomen der
Sympathie die einzige ursprüngliche menschliche Antriebskraft
überhaupt, die einen Abbau von inhuma-nen Unterdrückungsverhältnissen"
- und wir dürfen wohl ergänzen: auch von Fremdenfeindlichkeit
- motivieren kann.
3. Kultur und Zivilisation entstehen gerade dann, wenn die enge
Ge-meinschaft der Familie, der Sippe, des Stammes verlassen wird
oder sich zu komplexeren sozialen Gebilden transformiert, die
wir Gesell-schaft nennen. Erdheim (1992b, S. 734) definiert Kultur
als das, "was in der Auseinandersetzung mit dem Fremden entsteht,
sie stellt das Produkt der Veränderung durch die Aufnahme
des Fremden dar".
Fremdenangst aus der Sicht der psychoanalytischen Entwicklungs-psychologie
Schon Freud hat theoretische Vermutungen über die Entstehung
der kindlichen Fremdenangst angestellt: "Das Kind erschrickt
vor der fremden Gestalt, weil es auf den Anblick der vertrauten
und geliebten Person, im Grunde der Mutter, eingestellt ist. Es
ist seine Enttäu-schung und Sehnsucht, welche sich in Angst
umsetzt" (Freud 1916-17a, S. 392f.).
Das bekannte "Fremdeln" der Kinder wurde von René
Spitz (1965) genauer untersucht, der die sogenannte "Achtmonatsangst"
als ein positives Reifungszeichen interpretiert, da das Kind nun
die Mutter von Fremden unterscheiden kann.
In der Regel wird beim Fremdeln die Angst betont. Ich möchte
jedoch mit Mario Erdheim (1992a; 1992b) den ambivalenten Charakter
hervorheben. Das Fremdeln ist auch "eine Art Fensterln, ein
Anklopfen am Fremden" (Erdheim 1992a, S. 21). Das fremdelnde
Kind versteckt sich in den Armen der Mutter, aber es lugt dann
doch wieder um die Ecke, riskiert einen Blick auf den Fremden,
um sich dann schnell wieder abzuwenden, sobald der Fremde seine
Kontaktaufnahme erwidert usw. Das Kind übt sich darin, die
Hinwendung zum Fremden angemessen zu dosieren. Schon das Kleinkind
begegnet dem Fremden mit einem "thrill", einer "Angstlust"
(Balint 1959), d.h. es schwankt zwischen Angst und Neugier bezüglich
des Fremden.
Margaret Mahler (1979) kam aufgrund ihrer Beobachtungen zu dem
Schluß, daß Kinder, die über ein ausgeprägtes
"Urvertrauen" im Sinne von Erikson verfügen, Fremden
gegenüber ein explorierendes, neugieriges Verhalten zeigen.
Das Auftreten der Fremdenangst ist vom Verlauf der vorangegangenen
Interaktionserfahrungen abhängig. "Ein Kind, das Sicherheit
und Urvertrauen entwickeln konnte, zeigt keine Fremdenangst, sondern
vielmehr eine Zollinspektion [...], das heißt
eine gründliche visuelle und taktile Forschertätigkeit
an einem fremden Erwachsenen" (Mertens 1981, S. 107). "Zwischen
Urver-trauen und Fremdenangst besteht eine reziproke Beziehung"
(Bohl-eber 1994, S. 385).
Michael Rotmann betont, wie wichtig der Vater als "der Andere"
(1978, S. 1124), als das "dritte Objekt", als der Repräsentant
der fremden Außenwelt, für die frühe Entwicklung
des Kindes ist. Der Vater kann zum "bedeutungsvollen Anderen"
(ebd., S. 1118), zum ersten Fremden werden, der dem Kind vorlebt,
wie sowohl die Bezie-hung zur Mutter als auch die temporäre
Trennung von ihr gefahrlos möglich ist. Das dritte Objekt
ermöglicht die "frühe Triangulierung" (Abelin
1971), das heißt die Entwicklung des inneren Konzeptes einer
Drei-Personen-Beziehung, die dem Kind die Chance eröffnet,
den Frustrationshaß auf die Mutter zu integrieren, so daß
es nicht zu einer Spaltung in nur "gute" und nur "böse"
Teilobjekte kommen muß. Der Vater als der "attraktive
Dritte" (Ermann 1989, S. 265) bietet einer-seits einen Schutz
gegen die Regression in die frühe Mutter-Kind-Symbiose und
stellt andererseits eine wichtige Brückenfunktion bei der
Kontaktaufnahme mit dem Fremden dar. Fällt der Vater in dieser
Funktion aus, und ist die frühe Mutter-Kind-Beziehung beeinträchtigt,
kann die Beziehung des Kindes zum Fremden durch überwältigende
Ängste, durch Projektion von Haß oder durch beides
geprägt sein.
Die psychoanalytische Familientherapie betont, daß Vater
und Mutter nicht nur als voneinander getrennte Individuen zu bedeutungsvollen
Objekten für das Kind werden, sondern auch als Paar die innere
Welt des Kindes prägen. Das Kind internalisiert sowohl die
Objektbezie-hungen, die zwischen ihm und den Eltern bestehen,
als auch diejeni-gen, die Vater und Mutter miteinander verbinden.
Die Ich-Identität, die das Kind entwickelt, wird ergänzt
durch die soziale Identität im Sinne von Mitscherlich (1981).
Das Elternpaar und die Kinder bilden zu-sammen ein Gruppen-Ich
(Erikson 1959) und eine Identität als Fami-liengruppe heraus,
die Cierpka (1999, S. 91) als Familienidentität bezeichnet.
Wenn die Gruppen-Identität als Familie bedroht ist, kann
kompensatorisch das Abgrenzungsbedürfnis der Familie gegenüber
der sozialen Umwelt besonders betont werden, was Ängste vor
dem Fremden begünstigt.
Die Säuglingsforschung hat einige psychoanalytische Annahmen
über die frühe Kindheit in Frage gestellt. Das alte
psychoanalytische Bild vom Säugling als einem autistischen,
symbiotischen, ambivalenten und passiven Wesen wurde in den letzten
Jahren ersetzt durch das Bild vom - wie Martin Dornes (1993) es
formuliert - "kompetenten Säugling", der von Anfang
an in einem aktiven Austausch mit seiner Umwelt steht. Die Annahmen
von John Bowlbys "Bindungstheorie", nach der der Mensch
von Geburt an ein beziehungsfähiges und zugleich ein auf
Bindung, Kontakt und Nähe elementar angewiesenes Wesen ist,
wurden damit bestätigt.
Allerdings sind die älteren psychoanalytischen Theorien nicht
gänzlich widerlegt, sondern nur dahingehend relativiert worden,
daß erstens die von der Psychoanalyse beschriebenen Phänomene
- Passivität, Autismus usw. - nicht grundsätzlich bei
jedem Säugling, sondern nur dort auftreten, wo es zu Störungen
kommt, und daß zweitens die Ambivalenz des Kindes als eine
Reaktion auf die elterliche Ambiva-lenz zu betrachten ist. Mit
anderen Worten: Die symbiotischen, ambi-valenten und autistischen
Tendenzen des Kindes sind als Antwort auf unbewußte Rollenerwartungen
der Eltern an das Kind zu verstehen. Diese Überlegung ist
mit Horst-Eberhard Richters Buch Eltern, Kind und Neurose (1963)
bereits seit Anfang der 60er Jahre Grundlage der psychoanalytischen
Familientherapie, wurde aber von vielen psycho-analytischen Theoretikern
kaum rezipiert. Über das Verhältnis zum Fremden fand
die Säulingsforschung folgende Unterscheidung her-aus: Es
existieren drei typische Verhaltensmuster, welche die Einstel-lung
zum Fremden charakterisieren: sicher gebundene, unsicher-vermeidend
gebundene und unsicher-ambivalent gebundene Kinder (vgl. Dornes
1996, S. 1010). Diese weisen ein jeweils spezifisches Kontaktverhalten
zum Fremden auf.
Mario Erdheim (1992a, S. 21) behandelt das gleiche Thema auf einer
allgemeineren Ebene. Er nennt das Bild des Fremden - analog zur
Selbst- und Objektrepräsentanz - "die Fremdenrepräsentanz".
Sie bietet eine Alternative, die "dem Kind ermöglicht,
eine Beziehung zu der Person aufzunehmen, die nicht seine Mutter
ist. (Dies) [...] eröff-net die Chance, sich beim Fremden
das zu holen, was [...] die Mutter nicht geben kann" (ebd.).
Der Fremde ist also ein "drittes Objekt" im Sinne von
Rotmann (1978). Einerseits kann man sagen: Angst vor dem Fremden
erhöht das Ausgeliefertsein an die vertrauten Objekte. Aber
andererseits gilt auch: Je mehr das innere Gleichgewicht von der
ständigen Präsenz eines einzigen guten Objektes abhängig
ist, um so größer sind Ängste vor dem Fremden.
Dies wird durch das klinische Bild der Agoraphobie bestätigt.
Die
Agoraphobie und ihre politische Bedeutung
Die agoraphobischen Symptome, nämlich die Angst vor Plätzen,
Straßen oder Menschenmengen, lassen sich psychodynamisch
ver-stehen als Angst, die Sicherheit spendende Bezugsperson zu
verlie-ren. Die Agoraphobie entwickelt sich aus dem Konflikt zwischen
Ab-hängigkeits- und Verselbständigungswünschen.
Der Kontakt mit dem Fremden wird unbewußt gesucht und zugleich
gefürchtet, weil er die Trennung von der Mutter bedeutet
und deren Mißbilligung nach sich ziehen könnte. Aus
Angst, die Zuneigung des geliebten Objekts zu verlieren, werden
die als "böse" erlebten Trennungsimpulse und alles,
was damit an sexuellen und anderen Wünschen zusammen-hängt,
verdrängt, unbewußt gemacht und dann auf das Fremde
proji-ziert. Die angstbesetzten Situationen, die Straße,
der Platz, die Men-schenansammlung, der Fremde, werden zur Projektionsfläche
für die eigenen verdrängten Regungen.
Die Fremdenrepräsentanz wird zu "einer Art Monsterkabinett
des verpönten Eigenen" (Erdheim 1992b, S. 733). "Der
Gewinn ist be-achtlich, denn das Eigene wird zum Guten und das
Fremde zum Bö-sen." Der Nachteil besteht jedoch in der
Ich-Einschränkung, die eine Kontaktvermeidung zur Folge hat.
Häufig entwickelt sich eine Angstneurose nicht nur beim Individuum,
sondern die ganze Familie wird in die phobische Abwehrstrategie
einbezogen und zieht sich in das Schonklima einer "Sanatoriums-welt"
zurück. Richter (1972) hat den Typus der angstneurotischen
Familie unter dem Stichwort "Sanatorium" beschrieben
und betont, wie außerordentlich verbreitet dieser Familientypus
ist.
Nun ließe sich einwenden, daß der hier skizzierte
Phobiker zwar eine ausgeprägte Angst vor dem Fremden aufweist,
doch aufgrund seiner typischen Aggressionsverleugnung und Harmoniebedürftigkeit
kaum in der Lage ist, Haß auf Fremde zu entwickeln. Dieser
Einwand ist durchaus berechtigt. Die Angst vor Isolation führt
bei einem Angst-neurotiker in der Regel zu dem Bemühen, Streit
zu vermeiden, har-monische Beziehungen zu den Objekten herzustellen
und den Kon-takt mit der fremden Welt draußen auf ein Minimum
zu reduzieren.
Der typische Angstneurotiker zeichnet sich dadurch aus, daß
er sich in besonders gefügiger Weise an die geltenden Normen
und die je-weils bestehenden politischen Verhältnisse anpaßt.
Seine Ängste zwingen ihn, mit dem Althergebrachten - dem
Konservatismus - zu sympathisieren und sich schutzsuchend an mächtige
Autoritätsfiguren anzulehnen. Er gehört "zur Kerngruppe
der typischen Mitläufer" (Richter 1976, S. 75). So kann
man vermuten, daß ein großer Teil der Mitläufer
im Nationalsozialismus aufgrund einer angstneurotischen Struktur
für die systematische Erzeugung von Angst besonders emp-fänglich
war. Der nationalsozialistische Staat erzeugte planmäßig
Angst und Verunsicherung und bot gleichzeitig seine Organisationen
und Führer-Figuren als Sicherheit spendende Elternfiguren
an. Diese fungierten als Über-Ich-Substitute, die das individuelle
Über-Ich ent-lasteten und außer Kraft setzten. Dieser
Erklärungsansatz könnte auch zur Goldhagen-Debatte einen
Beitrag leisten: Die von Goldha-gen (1996) aufgeworfenen Fragen
lauten: Wie konnte es geschehen, daß der überwiegende
Teil der Deutschen sich widerstandslos in das nationalsozialistische
Regime integrieren und einspannen ließ? Wieso hat sich kaum
jemand geweigert, an unmoralischen Handlungen (z.B. Erschießungen)
teilzunehmen, selbst wenn eine solche Weigerung ohne Gefahr für
Leib und Leben möglich gewesen wäre? Eine Teil-antwort
besteht in den angstneurotischen Mechanismen, die nicht nur in
Familien, sondern auch in Gruppen und Organisationen funktionie-ren.
Aus Angst, sich in der Gruppe zu isolieren, unterwirft sich der
Einzelne den Normen und Ritualen der Gruppe und insbesondere der
Autorität des Führers. Hinzu kommt ein weiteres Moment:
Indem sich viele Menschen im Nationalsozialismus ängstlich
in die vermeintlich heile Welt der Familie zurückzogen und
sich weigerten, wahrzuneh-men, was draußen politisch vor
sich ging, isolierten sie sich selbst von den Juden und die Juden
von sich. Die somit geschaffene soziale und emotionale Distanz
zu den Juden bewirkte, daß auch viele jener Men-schen, die
keineswegs fanatische Nazi-Anhänger und Antisemiten waren,
der zunehmenden Ausgrenzung, Verfolgung und schließlich
Vernichtung der Juden teilnahmslos und ahnungslos zusahen.
Der polnische Soziologe Zygmunt Bauman (1993) sieht im Gegensatz
zu Goldhagen die zentrale Ursache für den Holocaust nicht
in der langen Geschichte des europäischen Antisemitismus,
sondern im Prozeß der sozialen Distanzierung von den Juden,
die ein Schwinden der moralischen Verantwortung bewirkte. Im folgenden
Zitat fällt auf, daß Bauman bindungstheoretisch argumentiert:
"Verantwortung, das Grundelement moralischen Verhaltens,
entsteht aus der Nähe des anderen. Nähe bedeutet Verantwortung
und Ver-antwortung ist Nähe. Verantwortung verschwindet,
sobald Nähe nicht mehr besteht, und kann sogar durch Ressentiment
ersetzt werden, wenn der Mitmensch in den Fremden transformiert
wird. Ohne soziale Absonderung hätten nicht Tausende zu Mördern
und Millionen zu stummen Zeugen des Verbrechens werden können"
(ebd., S. 54).
Der phobische Rückzug von der gesellschaftlichen Realität
bewirkte also die Teilnahmslosigkeit gegenüber dem Schicksal
der jüdischen Mitbürger.
Das klinische Bild der Phobie macht zwar die Psychodynamik des
Mitläufers, die seelische Verfassung des "stummen Zeugen"
ver-ständlich, nicht aber die des agierenden, aktiven Täters.
Die Psycho-dynamik von Haß und Gewalt gegen Fremde bedarf
einer anderen Erklärung.
Fremdenhaß als narzißtische Störung
Angst ist ein äußerst vielschichtiges Phänomen;
sie kann aus ganz unterschiedlichen Konflikten resultieren. Wenn
nicht die Angst, das Objekt zu verlieren, im Vordergrund steht,
sondern die Angst, vom Objekt überwältigt, verfolgt,
gequält und zerstört zu werden, kommt es nicht zu phobischem
Rückzug, sondern zu anderen Bewältigungsversuchen, z.B.
zu Mißtrauen gegenüber anderen, zur Projektion des
eigenen Hasses auf Fremde, zu narzißtischer Wut, selbstdestruktiven
Tendenzen und zur kämpferischen Abgrenzung nach außen.
Mit dieser Angst hängt oft auch die narzißtische Angst
vor dem Verlust des Selbstwertes zusammen, das heißt also
der Angst vor Beschämung und narzißtischer Kränkung,
die dadurch in Schach gehalten werden soll, daß man sich
um narzißtische Selbstaufwertung und das Festhalten an Allmachtsphantasien
bemüht. Störungen des Selbstgefühls, Minderwertigkeitsgefühle
und selbstdestruktive Tendenzen richten sich häufig auf den
eigenen Körper. Jener wird wie ein fremder Gegenstand behandelt
- er wird zum Fremd-Körper.
Es mag zunächst erstaunen, daß auch der eigene Körper,
ohne den der Mensch nicht existent wäre, der also ganz und
gar zur Person gehört, als etwas Fremdes, als Fremd-Körper
empfunden werden kann. Winnicott (1958) beschreibt bildhaft, daß
der Körper angeeignet werden muß, das Selbst muß
erst lernen, den eigenen Körper zu bewohnen und sich in ihm
zu Hause zu fühlen. Nach Hirsch (1989, S. VI) kann der eigene
Körper "durch seine Abspaltung wie ein Gegen-über,
ein äußeres Objekt nicht nur erlebt, sondern in Agieren
und Phantasie auch behandelt" werden. Die Krankheitsbilder
der Hypo-chondrie, der Selbstbeschädigung der Haut, der Schädigung
des Körpers durch Unfälle und artifizielle, das heißt
vom Patienten selbst herbeigeführte Krankheiten, versteht
Hirsch als Ausdruck eines "ge-gen den Körper gerichteten
destruktiven Agierens" (ebd.). Der Körper wird wie ein
äußeres Objekt behandelt, dem zur Strafe Schäden
und Schmerz zugefügt werden. Um die drohende Fragmentierung
des Selbst abzuwehren und um beängstigende Haßgefühle
gegen nahe Bezugspersonen unter Kontrolle zu halten, wird die
Desintegrations-bedrohung auf den abgespaltenen Körper gelenkt
(vgl. Wirth 1986). Häufig handelt es sich um Patienten, die
als Kinder schwere Trauma-ta erlitten haben, von ihren Müttern
als Selbstobjekte benutzt wurden (vgl. Hirsch 1989, S. 97) und
ausgeprägten Deprivationserfahrungen oder Kindesmißhandlungen
ausgesetzt waren (vgl. Plaßmann 1989; Sachsse 1989).
Die Verbindung dieser klinischen Krankheitsbilder zum Phänomen
der Fremdenfeindlichkeit ergibt sich nicht nur aus der Tatsache,
daß bei gewalttätigen Fremdenhassern, insbesondere
den Skinheads, selbst-schädigendes Körperagieren, wie
Tätowierungen, Hautverletzungen mit Zigaretten, Unfallneigung,
extreme Alkohol-Exzesse und ähnli-ches, gehäuft vorkommen
(vgl. Streek-Fischer 1992), sondern auch deshalb, weil sich die
psychodynamischen Prozesse sehr ähnlich sind: So wie sich
beispielsweise bei der AIDS-Hypochondrie die exis-tentiellen Identitäts-
und Todesängste in der unkorrigierbaren wahn-ähnlichen
Vorstellung manifestieren, an einer todbringenden bösarti-gen
Krankheit zu leiden (vgl. Wirth 1986), hat sich der Fremdenhas-ser
in die fanatische und unkorrigierbare Vorstellung verbissen, alles
"Böse" gehe nur von dem gehaßten Fremdling
aus. Das Gemeinsa-me besteht im Abwehrmechanismus der Spaltung.
Dies ist der Ver-such, das "gute" Objekt zu erhalten,
indem dessen "böse" Anteile als völlig getrennte
Teilobjekte repräsentiert werden. Die eine Seite wird idealisiert,
die andere verteufelt, und jede wird auf ein anderes Teil-Objekt
projiziert.
Zwei Formen der Externalisierung: Projektion und projektive Identifizierung
Man kann zwei Typen der Fremdenfeindlichkeit unterscheiden: einen
ängstlichen und einen haßerfüllten Typus. Bei
beiden ist der Ab-wehrmechanismus der Projektion von zentraler
Bedeutung. Bei der Xenophobie werden die verpönten Anteile
zunächst verdrängt und dann auf den Fremden projiziert.
Nun werden sie nur noch dort wahr-genommen und sind aus dem eigenen
bewußten Erleben ausge-klammert. Um relativ angstfrei leben
zu können, muß der Phobiker nur noch dem ängstigenden
Fremden aus dem Wege gehen.
Ganz anders jedoch der Typus des narzißtisch gestörten
Fremden-hassers: bei ihm liegt eine besondere Form der Projektion
vor, die projektive Identifizierung. Dabei werden die verpönten
Anteile - ins-besondere aggressive Impulse - nur unvollständig
oder gar nicht verdrängt. Sie bleiben also im Bewußtsein
präsent. Ihre Projektion auf äußere Feinde bringt
deshalb nur unzureichende Entlastung. Daraus entsteht das Bedürfnis,
das Objekt, auf das die aggressiven Impulse projiziert wurden
und das deshalb gefürchtet wird, ständig zu kontrol-lieren
(vgl. Kernberg 1975). Der Feind wird nicht phobisch gemieden,
sondern es wird ein kontrollierender, aggressiver und verfolgender
Kontakt mit ihm gesucht. Der Feind soll bestraft oder gar vernichtet
werden. Der Fremdenhasser bleibt mit seinen eigenen aggressiven
Impulsen bewußt identifiziert, obwohl er sie projiziert
hat - daher der Begriff "projektive Identifizierung".
Die vollständige Dämonisierung des Gegners wird zur
Rechtfertigung für den eigenen Haß, der als reine "Gegenaggression"
rationalisiert wird. Typischerweise geht die projektive Identifizierung
mit einer mißtrauisch-wahnhaften Umgestal-tung der Realität
einher. Das Feindbild erhält eine paranoide Kompo-nente,
es wird zur überwertigen fixen Idee bzw. Ideologie, die fana-tisch
gegen alle Zweifler verteidigt wird. Schließlich kommt es
zur "totalen Fixierung auf den Kampf gegen den Verfolger
bis zu blinder Selbstgefährdung" (Richter 1978, S. 121ff.),
wie dies aus politischen Konflikten bekannt ist.
Mit Hilfe der beiden folgenden Fall-Vignetten soll nun versucht
wer-den, die Psychodynamik des Fremdenhasses noch besser zu verste-hen.
Der Fall Ivo
Der 24jährige, hochgewachsene Mathematikstudent Ivo leidet
an drei Störungen:
1. Einer schweren Zwangsneurose, die erstmals im Alter von sechs
Jahren auftrat, als seine Mutter an einer Magen-Darmgrippe erkrankte
und er Angst hatte, sie zu verlieren. In der Folgezeit habe er
sich um extreme Sauberkeit gekümmert, Krebsangst bekommen
und die Angst entwickelt, sich mit Nahrungsmitteln zu vergiften.
Bei seinen Zwangshandlungen geht es um das Absichern von Türen
und Fens-tern, das "Abriechen" seiner Finger sowie das
Einhalten bestimmter Rituale beim Arbeiten. Die Symptomatik habe
sich vor etwa einem Jahr zugespitzt, seitdem er auf den Abschluß
seines Mathematik-Studiums zusteuere.
2. Begleitend zur Zwangssymptomatik hat sich eine schwere Bezie-hungsstörung
entwickelt. Der Patient hatte während seines ganzen Lebens
nur einen einzigen engeren Freund, mit dem er sich aber auch zerstritt.
Schon in der Schule immer als unsportlich ausgelacht und gehänselt,
hat sich Ivo in einer Außenseiterrolle eingerichtet. Seine
soziale Isolierung verarbeitet er mit einer paranoiden Ideologie,
indem er alle Schuld der Gesellschaft zuschreibt und dies mit
weit-schweifigen Rationalisierungen begründet. Er sei eben
"Einzelgänger und Individualist" und gerate deshalb
automatisch in Konflikt mit den angepaßten "Herdenmenschen",
zu denen er auch seinen Vater rechnet. Statt sich mit Gleichaltrigen
zu treffen, führt Ivo zu Hause chemische Experimente durch
und bastelt Bomben. Leistungsmäßig war er - außer
in Sport - in der Schule immer hervorragend. Von seinen Eltern
als naturwissenschaftliches Genie idealisiert, sieht er sich selbst
in der Rolle des verkannten Genies.
3. Eine weitere Störung besteht in einer Perversion, nämlich
pädophi-len Neigungen, denen der Patient teils in der Phantasie,
teils aber auch in der realen Kontaktaufnahme zu Kindern nachgeht,
ohne daß es jedoch bislang zu einer manifesten pädophilen
Handlung gekom-men ist. Seine pädophilen Wünsche und
Phantasien, die sich aus-schließlich auf vorpubertäre
Mädchen richten, erlebt er als ich-synton und verteidigt
sie vehement gegen jede Infragestellung.
Der Patient ist Einzelkind und sehr eng an seine Mutter gebunden.
Der Vater wollte kein Kind und wendet sich auch später enttäuscht
von dem ungeschickten, linkischen und auf die Mutter fixierten
Jun-gen ab. Vater und Sohn gehen sich aus dem Weg und kommunizie-ren
nur über die Mutter miteinander. Ivo über seinen Vater:
"Mein Vater ist ziemlich oberflächlich. Ich halte ihn
auch nicht für besonders intelligent. Er redet immer dazwischen,
wenn ich mit meiner Mutter rede. Mein Vater versteht überhaupt
nicht, was mich beschäftigt." Der Vater über den
Sohn: "Mit dem war schon als kleines Kind nichts anzufangen.
Er wollte weder Ball spielen noch irgendeinen Sport machen. Er
war nur immer schwierig und hing seiner Mutter am Rockzipfel.
Ich habe ihn eigentlich aufgegeben."
Der Vater weist eine zwanghafte Charakterstruktur auf und provoziert
bei seinem Sohn Ekelgefühle, wenn er "Nasenpopel in
der Wohnung herumschnipst". Er unterrichtet als Lehrer Biologie,
war ebenfalls als Einzelkind aufgewachsen, hatte den eigenen Vater
früh im Krieg ver-loren und hatte noch weit bis ins Jugendalter
mit seiner Mutter in einem Zimmer geschlafen.
Die Mutter leidet an herzneurotischen Symptomen, die sie kontrapho-bisch
abwehrt. Sie ist in der ehemaligen DDR mit ihrer Mutter und Großmutter
"ohne Mann in der Familie" in bescheidenen Verhältnis-sen
aufgewachsen. Ihre eigene Mutter sei überaus ängstlich
gewe-sen, und sie habe die Aufgabe gehabt, die Mutter zu schützen,
z.B. vor den Gänsen. Die Mutter war als Leistungsturnerin
und später als Trainerin in der DDR sehr erfolgreich gewesen.
Seit seinem zehnten Lebensjahr schläft Ivo mit seiner Mutter
im Ehe-bett. Der Vater schläft im Zimmer des Sohnes. Erst
unter dem Einfluß der von mir durchgeführten mehrjährigen
Familientherapie ändert die Familie dieses Schlafarrangement.
Auffallend ist das fast völlige Feh-len von Schamgefühlen
bei allen Familienmitgliedern.
Ivos Eltern vertreten einen kämpferisch und fanatisch vorgetragenen
Antisemitismus. Sie leugnen den Holocaust, reden haßerfüllt
über Ausländer und Asylanten und sympathisieren mit
rechten Parteien. Die Mutter ist dabei die Dominantere und Fanatischere,
doch auch der Vater echauffiert sich bei diesem Thema. Mit diesen
Parolen tritt er auch in der Schule in Erscheinung und trifft
dabei teilweise auf Zustimmung, teilweise auf Widerstand. Mit
den "grünen Spinnern" unter seinen Kollegen redet
er erst gar nicht. Der Patient selbst ist in diesen Fragen weniger
engagiert, wenn ich ihn aber nach seiner Mei-nung frage, plappert
er unkritisch alles nach, was seine Mutter ihm eingetrichtert
hat. Allerdings hat er nicht nur in diesen, sondern prak-tisch
in allen Fragen, die die Außenwelt betreffen, die Weltsicht
seiner Mutter übernommen.
Wenn ich versuche, vorsichtig den Antisemitismus und den Fremden-haß
der Familie in Frage zu stellen, stoße ich auf Unverständnis
und Ablehnung. Der Umgang mit diesem Thema ist ein schwieriger
Balan-ceakt: Einerseits möchte ich es nicht grundsätzlich
vermeiden, da ich Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit als
einen tragenden sym-ptomatischen Bestandteil ihres pathologischen
Familiensystems ver-stehe, andererseits spüre ich die Gefahr,
in eine konfrontative Dis-kussion zu geraten, die nur mit einem
Therapieabbruch enden könn-te. Familiendiagnostisch handelt
es sich um eine "paranoide Fes-tungsfamilie" (Richter
1972, S. 90ff.), die sich gegen eine als feindlich und verfolgend
empfundene Außenwelt zu einer verschworenen Ge-meinschaft
zusammengeschlossen hat.
Kennzeichnend für Ivos Selbstbild ist die Vorstellung, ein
armes, un-schuldiges Opfer zu sein, das wegen seiner pädophilen
Neigungen von allen Seiten verfolgt, gedemütigt und entwertet
wird. Er kann sich zu wahren Haßtiraden hochschaukeln, wenn
er über Politiker spricht, die härter gegen sexuellen
Mißbrauch von Kindern vorgehen wollen. Sein Intimfeind ist
"der Justizminister". Ivo distanziert sich übrigens
ausdrücklich von sexueller Gewalt und betont immer wieder,
daß es ihm darauf ankomme, die freiwillige Liebe der kleinen
Mädchen zu erlangen. Der Patient fühlt sich als Märtyrer,
der für eine gute Sache, nämlich die sexuelle Befreiung
des Kindes, zu leiden hat. Er scheint es masochistisch zu genießen,
sich so verkannt zu fühlen. Das maso-chistische Agieren enthält
auch eine Omnipotenzphantasie, einen masochistischen Triumph,
der sich aus der Phantasie ableitet, für den sadistischen
Täter (manifest sind dies die Politiker, die er bekämpft,
unbewußt ist es der Vater) lebensnotwendig zu sein, für
diesen sadis-tischen Unterdrücker durch das masochistische
Zur-Verfügung-Stehen ein Retter und deshalb ihm überlegen
und selbst mächtig zu sein. Zugleich vermittelt ihm der politische
Kampf, den er um die Rechte des Kindes führt, ein Stück
Identitätsgefühl. Er wird nun be-merkt, ist nicht mehr
anonym, auch wenn er für seine Auffassungen verworfen, verdammt
und entwertet wird. Die vehement vorgetragene Anklage entlastet
ihn zudem von moralischen Selbstvorwürfen wegen seiner inzestuösen
und perversen Phantasien. Zugleich ist diese vermeintliche Verkennung
für ihn eine Rechtfertigung dafür, Haß und Aggression
auszudrücken. Endlich findet er eine Legitimation, seinen
Selbsthaß, der in ihm brennt, nach außen zu wenden.
Nicht er hat Vorurteile, sondern die anderen hassen ihn aufgrund
eines Vorurteils. Wenn Ivo seine Haßtiraden gegen Politiker
losläßt, wähnt er sich groß und überlegen,
und man spürt förmlich, wie er in einen hypomanen Zustand
gerät, der deutlich einer Abwehr seiner untergründigen,
de-pressiven Unterlegenheitsgefühle dienen soll. Die Verachtung
und Ablehnung, die Ivo entgegenschlägt, bestätigen sein
wahnhaftes Grandiositäts- und Überlegenheitsgefühl.
Der Patient versucht, im reaktiven Haß sein verletztes Selbstwertgefühl
wiederaufzurichten. In seinen destruktiven Phantasien steigert
er sich bis in die Vorstellung, die ganze Welt mit einer gigantischen
Atombombe zu vernichten.
Die Psycho- bzw. Familiendynamik stellt sich folgendermaßen
dar: Der Patient hat eine inzestuös aufgeladene Beziehung
zu seiner Mut-ter. Er fühlt sich einerseits als ödipaler
Sieger, als naturwissenschaft-liches Genie, das den Vater überflügelt
und dessen Platz bei der Mut-ter eingenommen hat. Andererseits
erlebt er sich als von der Mutter klein gemacht, überwacht,
kastriert und infantilisiert. Die Zwangsneu-rose dient als Schutz
vor dem Inzest und damit als Schutz vor der Auflösung aller
Grenzen und Regeln und dem Ausbruch einer Psy-chose. Die Zwänge
bringen Struktur in diese strukturlose Familie, die den Generationsunterschied
verleugnet.
Als zweiter Schutzwall gegen den Inzest dient die Pädophilie.
Durch seine Objektwahl vermeidet der Patient, die Mutter eifersüchtig
zu machen. Tatsächlich unterstützt die Mutter seine
pädophilen Interes-sen, indem sie ihn mit kleinen Mädchen
aus ihrer Turngruppe in Kon-takt bringt. Ivo kann sich nur eine
Sexualpartnerin vorstellen, die von kindlicher Unschuld und Reinheit
ist, da er vor dem Genital der er-wachsenen Frau zurückschreckt.
(Die Mutter pflegte vor den Augen des kleinen Ivo zum Beispiel
ihre Monatsbinde zu wechseln.) Wenn Chasseguet-Smirgel (1975,
S. 23) schreibt, "der Anblick des weibli-chen Genitals ist
deshalb so traumatisierend, weil er das männliche
Kind mit seiner Unzulänglichkeit konfrontiert, weil er es
zwingt, sein ödipales Scheitern anzuerkennen", dann
legt der Fall Ivo eher die Interpretation nahe, daß nicht
der Anblick des weiblichen Genitals an sich traumatisierend wirkt,
sondern die beziehungsdynamischen Um-stände, unter denen
dies geschieht. Freuds Frage, warum "der Kast-rationsschreck
beim Anblick des weiblichen Genitales, (der) wahr-scheinlich keinem
männlichen Wesen erspart (bleibt), [...] die einen homosexuell"
oder zu Fetischisten werden läßt, während "die
über-große Mehrzahl ihn überwindet" (Freud
1927e, S. 314), kann unter familiendynamischer Betrachtungsweise
so beantwortet werden, daß die unbewußten elterlichen
Rollenzuweisungen an das Kind "trauma-tisierend" wirken.
Chasseguet-Smirgel (1975, S. 23) formuliert dies vorsichtiger:
"Vielleicht könnte man behaupten, daß derjenige
pervers wird, der sich nicht entschließen konnte, die Illusion
aufzugeben, ihr (der Mutter) Partner zu sein, und dabei oft von
seiner Mutter bestärkt wurde."
Auf präödipaler Ebene geht es bei Ivo darum, die Gefühle
von Haß und narzißtischer Wut auf die als verführend,
überwältigend, aber auch frustrierend erlebte Mutter
durch Idealisierung und Sexualisie-rung abzuwehren (vgl. Stoller
1979; Becker 1996, S. 233). Ivo verliebt sich in kleine Mädchen,
in denen er sich selbst verkörpert sieht und denen er die
fürsorgliche Liebe zukommen lassen will, welche die Mutter
ihm versagte (vgl. Fenichel 1931; Berner 1996, S. 1044). Die destruktiven
Seiten der Pädophilie werden verleugnet und treten ab-gespalten
in der Bomben-Bastelei und im Feindbilddenken in Er-scheinung.
Aufgrund ihrer narzißtischen Struktur ist die Mutter kaum
in der Lage, Leidensdruck, Einsicht, Anerkennung von Schuld, gar
Schamgefühle zu entwickeln, und bleibt der Verleugnung, Rationalisierung
und pro-jektiven Schuldzuweisung verhaftet. Sie hat ihren Sohn
narzißtisch und in gewisser Weise auch sexuell mißbraucht.
Ganz im Sinne von Ferenczis "Sprachverwirrung zwischen den
Erwachsenen und dem Kind" (1933) kommt es bei dem Patienten
zur Konfusion, zur Verwir-rung der Begriffe von Liebe als Reaktion
auf den traumatisierenden sexuell-narzißtischen Mißbrauch
durch die Mutter. Dazu gehört auch die Vernachlässigung
des Körpers, der Kleidung, des Aussehens. Immer wieder betont
Ivo, daß dies alles bedeutungslos für ihn sei. Er hat
seinen Körper quasi der Mutter überlassen, die - wie
deutlich zu sehen ist - ihm die Kleidung aussucht: Er sieht so
brav und bieder aus wie ein Erstkläßler in den 50er
Jahren.
Die Konfusion, die sich in ihm abspielt, bewirkt auch Zweifel
an seiner Realitätswahrnehmung. Sie ist Ausdruck der Schwächung
der Realitätsprüfung durch das Trauma. Beständig
versichert er sich bei seiner Mutter, ob seine Einschätzung
einer Sache auch ihre Bestätigung, Unterstützung und
Billigung finde. Wenn er in der Therapiestunde erzählt, hält
er manchmal plötzlich erschrocken inne und schaut seine Mutter
fragend an. Diese wiederum hat schnell gelernt, daß ich
einen kritischen Blick dafür habe, wenn sie ihren Sohn manipuliert.
Sie hüllt sich in Schweigen und lacht, wenn ihr Sohn sie
verunsichert anschaut. Dadurch werden die Zweifel des Patienten
an der eigenen Wahrnehmung und Urteilsfähigkeit und vor allem
an der Gültigkeit seiner Affekte weiter genährt, und
seine Unfähigkeit zur Realitätsprüfung steigert
sich in gewissen Bereichen bis zur Pseudo-Debilität. Was
soziale Kontakte angeht, befindet sich der Patient auf dem Niveau
eines Kleinkindes. Er scheint ohne die Hilfe seiner Mutter nicht
lebensfähig zu sein. Besonders durch den unvermittelten Wechsel
zwischen emotionaler Nähe und kühler Abwendung der Mutter
wird er einer Art Gehirnwäsche unterzogen, weil er im Unklaren
gelassen wird, welches seine eigenen und welches die Bedürfnisse
der Mutter sind. Der Patient mußte das Verhalten seiner
Mutter als einen ständigen Angriff auf seine Realitätserfahrung
verstehen, denn die Intrusion ihrer Bedürfnisse in seine
Identität stellten eine fortwährende Grenzüberschreitung
dar. Ihm fällt es immer wieder schwer, seine eigenen Bedürfnisse
von denen der Mutter zu unterscheiden, zumal die Überstimulierung
eigene (und doch fremde) Bedürfnisse weckt. Dies ist eine
Grenzverwischung zwischen Selbst und Objekt, d.h. ein Angriff
auf sein zentrales Identitätsgefühl, so daß er
bis heute auf die ständige Anwesenheit seiner Mutter angewiesen
ist: um das Gefühl der Vollständigkeit zu behalten und
um im sozialen Leben überhaupt bestehen zu können. Im
Zentrum der Familie steht der Mutter-Sohn-Inzest, da der Vater
als "rettender Dritter" völlig ausfiel. Wie so
häu-fig in Mißbrauchsfällen ist es paradoxerweise
der Täter, oder hier besser gesagt die Täterin, die
noch am ehesten als gute Elternfigur repräsentiert ist, weil
das Kind sich durch eine Identifikation mit dem Aggressor "dadurch
zu retten versucht, daß es die für es lebensnot-wendige
Beziehung zu erhalten sucht, indem es sich selbst die Ursa-che
der Gewalt, des Bösen und die Schuld dafür zuschreibt"
(Hirsch 1996, S. 35).
Auffallend war die Nicht-Existenz von Scham bei allen Familienmit-gliedern.
So berichtete die Mutter auf meine Nachfrage, daß sie sich
selbstverständlich nackt vor ihrem Sohn ausziehe. "Da
ist doch nichts dabei, wir sind doch eine Familie", sagte
sie so provozierend zu mir, daß sich in mir Schamgefühle
regten. Das Gegenübertragungsgefühl der Scham empfand
ich in der Therapie mit dieser Familie des öfte-ren, und
mir wurde langsam bewußt, daß die Familie das Gefühl
der Scham in mir induzierte, weil sie ihre eigene Scham abwehren
mußte. Das Gefühl von Minderwertigkeit, Unterlegenheit,
Unsicherheit und Scham, die das als Muttersöhnchen von den
Klassenkameraden ver-spottete Kind Ivo empfunden haben muß,
verwandelt er in die provo-kante Präsentation seiner perversen
Sexualität, um den anderen zu beschämen.
Soweit diese Fall-Vignette. Zum Vergleich soll nun ein anderes
Fall-Beispiel vorgestellt werden, nämlich der rechtsradikale
und gewalttä-tige Skinhead Max. Der Vergleich zwischen Ivo
und Max erscheint auch in methodischer Hinsicht interessant. Es
ist der Vergleich zwi-schen zwei - äußerlich betrachtet
- extrem unterschiedlichen Persön-lichkeitstypen, die sich
scheinbar nur in einem Punkt gleichen, näm-lich in ihrer
ausgeprägten Fremdenfeindlichkeit. Hier der schmale, linkische
und feminin wirkende Ivo, der infantil und ängstlich an seiner
Mutter klammert und in einer spießbürgerlichen Familie
aufgewach-sen ist. Ein unsportlicher Träumer, strikter Anti-Alkoholiker
und Anti-Raucher. Dort die provokante Häßlichkeit eines
Skinheads mit seiner brachialen Körperlichkeit, seinen Tätowierungen,
seiner Glatze und seinen Springerstiefeln, gröhlend, rauchend,
Bier trinkend. Unter-schiedlicher können zwei Menschen kaum
sein. Doch wie kommt es zur Gemeinsamkeit des Phänomens Fremdenhaß?
Beruht der Frem-denhaß in beiden Fällen auf ähnlichen
oder auf gänzlich unterschied-lichen Ursachen und Mechanismen?
Der Skinhead Max
Der achtzehnjährige Max ist Mitglied einer etwa neunköpfigen
Skin-head-Gruppe. Im Rahmen eines Forschungsprojektes über
jugendli-che Subkulturen nehme ich Kontakt zu ihm auf über
den Sozialarbei-ter, der seine Wohngruppe betreut. Max erklärt
sich ohne weiteres bereit, sich mit meiner Kollegin Monika Reimitz
und mir zu treffen. Er erscheint pünktlich und in voller
Skinheadmontur. Stolz zeigt er uns sein wichtigstes Statussymbol,
seine Doc-Marten-Stiefel, und erläutert uns die Unterschiede
zu anderen Stiefelsorten. Seine anfängliche Unsicherheit
versucht er zu überspielen, indem er im Stakkato Erzäh-lungen
und Sprüche abspult. Inhaltlich beginnt das Gespräch
ganz stereotyp, wie fast alle unsere Interviews mit Skinheads:
Max beklagt sich über die ungerechtfertigte Ablehnung und
die Vorurteile, die er sich als Skin von seinen Mitmenschen immer
wieder gefallen lassen müsse. Man unterstelle ihm, er sei
brutal, gewalttätig und ein Nazi. Das seien aber alles nur
Vorurteile.
Wir haben das Gefühl, daß Max uns auf die Probe stellen
will, ob auch wir ihn ablehnen und verurteilen. Außerdem
ist die Tatsache seiner Außenseiterrolle von so zentraler
Bedeutung für seine Identität, daß er sie bei
jedem Kontakt mit Nicht-Skins direkt oder indirekt the-matisiert.
Während Max zunächst über seine Außenseiterrolle
klagt, wird später deutlich, daß er durch die Ablehnung,
auf die er stößt, auch eine Stüt-zung seiner Identität
erfährt: "Wenn man zu mehreren Skins durch die Straßen
läuft, weichen die Leute aus. Die haben Muffe vor uns. Das
baut einen irgendwie auf. Als ich noch normal 'rumlief und habe
im Bus die Beine auf den Sitz gelegt, bin ich angemacht worden.
Wenn ich das heute als Skin mache, lassen mich die Leute in Ruhe.
Eigentlich bleibt man ja der gleiche Typ, aber als Skin wird man
brei-ter, und die anderen reagieren anders."
Von den Punks, mit denen er früher sympathisiert hat, grenzt
sich Max scharf ab. Deren Motto "Null Bock" und "no
future" könne man nur vertreten, "wenn man wirklich
ganz unten ist. Ich habe mich nie als der letzte Dreck gefühlt,
ich war nie so weit unten. Als ich meinen Null-Bock-Trip hatte,
bin ich in den Knast gekommen. Das hat mich wieder aufgebaut.
Danach bin ich Skin geworden."
In dieser kurzen Passage verleugnet Max einerseits, daß
er sich in seinem Leben häufig ganz unten und "wie der
letzte Dreck" gefühlt hat, gesteht andererseits aber
indirekt ein, daß dies doch schon der Fall war: Als er seinen
"Null-Bock-Trip" hatte, sei er in den Knast gekommen.
Max ist auf der Suche nach festen, Halt gebenden Struk-turen und
einer "väterlichen" Autorität und findet diese
offenbar in der Institution des Gefängnisses, das er nicht
als Strafe empfand, son-dern sich dort sogar "aufgebaut"
fühlte. Das Gefängnis bringt er un-mittelbar in Zusammenhang
mit der Gruppe der Skinheads, in der er offensichtlich einen ähnlichen
Halt findet wie im Knast. Max betont die starke Gruppensolidarität
bei den Skins: "Daß die Gruppe zusam-menhält,
ist für mich das allerwichtigste. Wenn einer was auf die
Ba-cke kriegt, sind alle anderen gleich da, und dann geht's rund."
Au-ßerdem gefalle ihm an den Skins, "daß wir
nicht nur 'rumhängen wie die Punks und saufen, sondern auch
was machen, z.B. zu Fußball-spielen fahren und Hausies [Hausbesetzer]
verkloppen."
Als wir ihn nach seiner Familie fragen, wird deutlich, auf welchem
biographischen Hintergrund sein Gefühl, der letzte Dreck
zu sein, angesiedelt ist: Max lernt seinen Vater nie kennen. Der
Vater verläßt die Familie wenige Monate nach der Geburt
seines Sohnes und zahlt nie Unterhalt. Die Mutter wird mit Max
bald nicht mehr fertig. Er kommt in eine Pflegefamilie und danach
ins Heim. Dann holt ihn die Mutter wieder zurück. Das geht
aber nie lange gut, und so pendelt er einige Jahre zwischen Heim
und Mutter hin und her. Jetzt hat er prak-tisch keinen Kontakt
mehr zu ihr. Nur ganz selten fährt er nach L., um sie zu
besuchen.
Von seinen Beziehungen zu Frauen sagt Max, bei den Skins halte
man nicht viel von Frauen. Man betrachte sie "als Kaugummi,
als Zigarettenpapier, als Klopapier, das man benutzt und dann
weg-schmeißt". Andererseits berichtet er auf die Frage,
ob er schon ein-mal verliebt gewesen sei, von einer zehn Jahre
älteren Erzieherin, zu der er seit einigen Jahren Kontakt
habe. Wenn es ihm schlecht gehe, könne er sie jederzeit anrufen,
auch nachts. "Nach meiner ersten Schlägerei habe ich
sie angerufen und zum Schluß geflennt wie ein Schloßhund",
obwohl er vorher bei seinen Kameraden noch mit sei-nen Heldentaten
geprahlt habe. Max will dieser Erzieherin imponie-ren, befürchtet
aber, auch diese Beziehung könne zerbrechen, wenn er zuviel
Unsinn anstellt. Max wirkt sichtlich bewegt, als er davon spricht,
will dieses Thema aber beenden und kommt wieder auf die Skins
zurück.
Die meisten Skins seien rechtsradikal eingestellt. Er selbst mache
die Heil-Hitler-Sprüche aber nicht mehr mit. Er wolle sich
nicht mehr dem Gruppendruck beugen. Richtige Nazis seien die Skins
aber auf keinen Fall, denn man habe sich den Anwerbungsversuchen
einer Nazi-Organisation nicht sehr lange ausgesetzt. Aber andererseits
stehe er auch zu dem Spruch: "Ich bin stolz, ein Deutscher
zu sein!" "Das ist doch ganz normal und hat nichts mit
Faschismus zu tun. Ich nehme mir das gleiche Recht wie Jugendliche
aus anderen Nationen auch." Auf die Ausländerfeindlichkeit
der Skins angesprochen, windet sich Max. Er gesteht zwar ein,
daß viele Skins die Türken hassen, weil sie den Deutschen
die Arbeitsplätze wegnähmen, distanziert sich selbst
aber nachdrücklich von jeglicher Ausländerfeindlichkeit.
Wir haben den Eindruck, daß Max sich das ganze Gespräch
über eifrig bemüht, uns zu vermitteln, daß er
nicht dem Negativ-Image des gewalttätigen, rechtsradikalen
Skinheads entspricht. Auch Max unterliegt offenbar dem sozialen
Druck, der von der - relativ intimen - Interviewsituation ausgeht.
Die Tendenz, im Sinne der "sozialen Erwünschtheit"
zu antworten, konnten wir im übrigen auch bei anderen Skinheads,
vor allem in Einzelinterviews, feststellen. Dies zeigt, daß
Skinheads ein Bedürfnis nach sozialer Anerkennung haben,
und dies auch im per-sönlichen Kontakt zum Ausdruck kommt,
selbst wenn sie durch ihr Auftreten in der Öffentlichkeit
offenbar ganz darauf aus sind, Ableh-nung zu provozieren.
Gegen Ende nimmt unser Gespräch eine überraschende Wende.
Max erklärt, seine Hauptfeinde seien nicht die Ausländer,
sondern die Vogelsberger. Als wir erstaunt nachfragen, ob er denn
tatsächlich alle Menschen, die im Vogelsberg wohnen, als
Feinde betrachte, ereifert sich Max wortreich über "die
Dummheit der Bauern im Vogelsberg", die er als "Arschlöcher",
als "Abschaum der Nation", als "die Juden von heute"
bezeichnet, die "unter Hitler heute dran wären".
Max hat sich richtig in Rage geredet. Er erzählt von einer
Zerstörungstour, die er kürzlich mit seiner Skingruppe
nach L. unternommen habe, um dort "eine Disco auseinanderzunehmen".
Es habe mehrere Verletzte gegeben, und er habe erst durch den
massiven Einsatz der Polizei gebremst werden können.
Bei der Erwähnung des Ortes L. fällt es uns wie Schuppen
von den Augen: Max fährt in die Stadt, in der seine Mutter
lebt, dorthin, wo er - wie sich herausstellt - geboren ist, um
alles kurz und klein zu schlagen und seinen aufgestauten Haß
herauszulassen. Als wir ver-suchen, diesen Zusammenhang vorsichtig
anzudeuten, wird es Max ungemütlich. Er beginnt abzuwehren
und weigert sich, weiter darüber zu sprechen, da sonst -
so Max - die Gefahr bestehe, daß auch wir noch die Vogelsberger
zu hassen anfingen. Wir verstehen, daß seine Angst vor einer
Wiederbelebung der in der Kindheit erlittenen Krän-kungen
und vor den daraus resultierenden Haßgefühlen so groß
ist, daß er befürchtet, sie könnten ihn selbst
und uns überschwemmen. So dringen wir nicht weiter in ihn
ein. Der verabredete weitere Kontakt mit Max kommt nicht zustande,
da er kurz darauf zur Bundeswehr geht und wir ihn aus den Augen
verlieren.
Maxens Grundhaltung zum Leben ist geprägt von den tiefen
Enttäu-schungen und Verletzungen, die er als Kind - von Vater
und Mutter im Stich gelassen und weggegeben - erfahren mußte.
Anderen Men-schen Zuneigung und Freundschaft zu schenken, sie
gar zu lieben und sich ihnen anzuvertrauen, bedeuten für
Max Erlebnisweisen, die mit überwältigenden Gefahren
verbunden sind, weil sich die frühen Enttäuschungen,
Schmerzen und Erniedrigungen seiner Kindheit wiederholen könnten.
Dies zu vermeiden ist sein ganzes Bestreben. Diesem Ziel dienen
die narzißtischen Gegenideale der Kälte, die Ver-achtung
menschlicher Ideale schlechthin, der Mangel an Einfühlungs-vermögen,
die Entmenschlichung des Gegners und das zerfressende Ressentiment
gegen alles, was ihm als Zeichen von Schwäche, Hilf-losigkeit
und Verweichlichung erscheint.
Das zeigt sich auch in seinem gespaltenen Frauenbild. Max nimmt
Frauen entweder als "heilige Mutter" oder als "verachtenswerte
Hu-re" wahr. Diese Wahrnehmung ist das Ergebnis eines psychischen
Prozesses, bei dem sowohl seine eigene Identität als auch
sein Bild über andere Menschen in absolut gute und absolut
böse Teile gespal-ten wird. Die Spaltung ist als Abwehr gegen
intensive Haßgefühle und ebenso intensive Vernichtungs-
und Verlassenheitsängste entstan-den, die von der defizitären
Beziehung zu seiner Mutter herrühren. Sie prägt nicht
nur Maxens Frauenbild, sondern auch seine Wahr-nehmung der Welt
überhaupt. In seinem Haß auf alles Fremde und in seinen
Ressentiments gegen auswechselbare Opfer brechen seine paranoid
aufgeladenen Aggressionen hervor. Hingegen nimmt sich sein "Stolz,
ein Deutscher zu sein", als hilfloser Versuch aus, dem Selbsthaß
etwas Positives entgegenzuhalten, das er idealisieren kann. Er
benutzt das unter Skins und Rechtsradikalen verbreitete Motto:
"Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein", gleichsam als
Gegen-gift, um die kränkende Einsicht ausblenden zu können,
daß er sich eigentlich zeit seines Lebens "wie der
letzte Dreck" behandelt fühlt. Seine Menschenverachtung
verweist auf seine lebensgeschichtliche Erfahrung zurück,
daß er immer der Ausgestoßene, Benachteiligte, Übervorteilte
und Betrogene war. Zur Verachtung der anderen kor-respondieren
Selbstverachtung, Selbsthaß und selbstzerstörerische
Impulse und Handlungen. Ein Teil von Max ist mit der traumatisieren-den,
als sadistisch und böse erlebten Mutter identifiziert. Seine
sadis-tische Teil-Identität fügt anderen (und sich selbst)
die Bösartigkeiten zu, die er selbst erleiden mußte,
während seine verachtet-masochistische Teil-Identität
mit dem Opfer identifiziert ist. Indem er die Macht und den menschenverachtenden
Terror idealisiert, versucht er die früher erlittenen Traumatisierungen
umzukehren: Er will nun so stark und gefürchtet sein, wie
er die einst von ihm gefürchtete "böse" Mutter
erlebt hat, bringt sich damit aber immer wieder zwangsläufig
in die Rolle des Verfolgten.
Vergleich beider Fallbeispiele
In den beiden Fallbeispielen tauchen einige bemerkenswerte Paralle-len
auf:
1. Für beide Jugendlichen ist das Gefühl, Opfer zu sein
und ausnahmslos immer ungerecht behandelt zu werden, konstituierend
für ihre Identität. Sowohl Ivo als auch Max haben das
Empfinden, für andere die Inkarnation des Bösen zu sein,
und sie identifizieren sich mit der Opferrolle, weil sie damit
die passiv erlittene Schmach, Scham und Angst ins Aktive wenden
können. Statt selbst Angst zu haben, jagen sie anderen Angst
und Schrecken ein. Der innere Konflikt wird in einen äußeren
Konflikt zurückverwandelt. Selbst als Feindbild für
andere zu fungieren, legitimiert die Aufrechterhaltung des eigenen
Feindbildes. Negatives Selbstbild und Feindbild sind eng miteinander
verwoben. Eben dies ist das Kennzeichen der projektiven Identifizierung.
Wer selbst die traumatisierende Erfahrung gemacht hat, von seinen
Mitmenschen in die Rolle des Sündenbocks gedrängt zu
werden, kann einen Ausweg darin sehen, nun seinerseits einen Feind
und Sündenbock zu suchen, auf den er seine verpönten
Anteile projiziert, den er verfolgt und demütigt. Feindbilder
haben die Dynamik, sich immer weiter fortzupflanzen.
2. Beide Jugendliche haben das Gefühl, daß ihnen von
seiten der Gesellschaft großes Unrecht zugefügt worden
ist. Es besteht also ein Bewußtsein dafür, daß
es ein Prinzip der Gerechtigkeit gibt und dieses eklatant verletzt
wurde. Léon Wurmser (1987) hält dies für ein
entscheidendes Kriterium bei der Entstehung von Feindbildern und
Ressentiments. Im Fremdenhaß wird Rache als ausgleichende
Ge-rechtigkeit geübt für vermeintliches, häufig
aber auch tatsächlich erlittenes Unrecht. Das Gefühl,
ungerecht behandelt worden zu sein, stellt ein zentrales Motiv
für Fremdenhaß dar. Dies dürfte einer der Gründe
sein, weshalb der Fremdenhaß in der ehemaligen DDR größer
ist als in den alten Bundesländern.
3. Bei beiden Protagonisten spielt die Abwehr von Schamgefühlen
durch die Wendung von Passivität in Aktivität eine zentrale
Rolle. Ivo verwandelt seine peinigenden Gefühle von Minderwertigkeit,
Unterlegenheit und Scham in die bewußte Darstellung von
Obszönität und Perversität. Er ist nicht mehr der
kleine, verunsicherte Junge, der den Hänseleien und verächtlichen
Blicken anderer ausgesetzt ist, sondern ein bekennender Päderast,
der mit seinen sexuellen Bekenntnissen den Zuhörer beschämt.
Bei Max liegen die Dinge ähnlich: Seine provokant zur Schau
getragene Häßlichkeit zwingt den anderen, seinen Blick
angstvoll und verlegen abzuwenden, "läßt das vormalige
Opfer der Beschämung und Häßlichkeit zum Täter
werden. Subjektive Ohnmachtsgefühle und Schwäche werden
in provokante, andere mit Angst erfüllende Stärke verwandelt.
Das oftmals zu beobachtende höhnische Grinsen bei Skins drückt
diesen Sieg aus" (Hilgers 1996, S. 168). Scham,
Wut und Größenphantasien sind die grundlegenden Manifestationen
eines gestörten narzißtischen Gleichgewichts. Narzißtische
Kränkungen können zu schamerfülltem Rückzug,
zu grandiosen Phantasien oder zu narzißtischer Wut führen.
Letztere zeichnet sich durch Rachsucht und grenzenlose Besessenheit
aus (vgl. Kohut 1971, S. 226) und führt zur Ausbildung von
paranoiden Feindbildern. Die narzißtische Wut steht im Dienste
eines "archaischgrandiosen Selbst", das "auf der
bedingungslosen Verfügbarkeit der billigendspiegelnden Funktion
eines bewundernden Selbst-Objektes beruht oder auf der stets vorhandenen
Gelegenheit zur Verschmelzung mit einem idealisierten SelbstObjekt"
(ebd., S. 233). Trotz ihrer Verschiedenheit trägt die narzißtische
Wut von Max und Ivo gewisse gemeinsame Züge, da beide in
der Matrix eines narzißtischen Weltbildes verwurzelt sind.
Beide können nicht das geringste Verständnis für
ihre Beleidiger aufbringen. Beide reagieren mit einer unversöhnlichen
Wut, wenn sie die Kontrolle über das widerspiegelnde Selbst-Objekt
verlieren. So geriet Ivo oft außer sich vor Wut, wenn seine
Mutter ihm auf seine Fragen keine Antwort gab oder der Vater nicht
verstand, was er wollte. Und auch bei den Skins reichen scheinbar
geringfügige Provokationen - z.B. wenn jemand anders aussieht,
als es den Skins gefällt -, um einen Ausbruch narzißtischer
Wut hervorzurufen.
Im Umgang mit gewaltbereiten Jugendlichen befinden sich die gesellschaftlichen
Autoritäten in einem Dilemma: Wenn sie mit aller Macht versuchen,
die Einhaltung von Recht und Ordnung zu erzwingen, demütigen
sie die Jugendlichen, was zu einer weiteren Eskalation von Gewalt
führt, da diese versuchen, ihre verlorene Ehre durch erneute
Gewalt wiederherzustellen. Wenn jedoch die Polizei durch Duldung
gewalttätiger Übergriffe ihr latentes Einverständnis
oder Schwäche zu signalisieren scheint, kommt es bei den
Jugendlichen zu Enttäuschungswut über die schwache Autorität.
Für die konkreten Auseinandersetzungen bedeutet dies, daß
Grenzsetzungen erforderlich sind, die die Würde der Beteiligten
respektieren, ohne den jeweils anderen zu demütigen.
4. In beiden Fällen haben die manifesten Feindbilder nur
eine Stellvertreter-Funktion für einen Haß übernommen,
dessen affektive Wurzeln tiefer reichen. Man könnte vermuten,
der eigentliche Haß gelte der "bösen" Mutter,
die in Ivos Fall überwältigend, im Fall von Max vernachlässigend
war. Vieles spricht für diese Deutung. Doch ist das die ganze
Wahrheit? In beiden Fällen existieren noch weitere Feindbilder.
Max schlägt sich mit der Polizei. Ivos Intimfeind ist der
Justizminister. In beiden Feindbildern lassen sich unschwer väterliche
Autoritätsfiguren erkennen. Sowohl bei Ivo als auch bei Max
fehlte der Vater als "rettender Dritter". Das Kind war
schutzlos der frustrierenden Mutter ausgeliefert. Die frühe
Triangulierung fand nicht statt. Deshalb kam es auch zu keiner
Integration der guten und der bösen Introjekte. Da beide
Jugendliche auf einen präsenten Vater verzichten mußten,
sehnen sie sich unbewußt nach strukturierenden Vaterfiguren,
an denen sie sich reiben können. Sowohl das gewalttätige
Randalieren von Max als auch die sexuelle Provokation von Ivo
haben die Bedeutung, die gesellschaftliche Autorität zu einer
Grenzen setzenden Reaktion herauszufordern. Beide Jugendliche
sind von einer tiefen Vatersehnsucht (vgl. Aigner 2001) geprägt,
die sich in der Provokation der gesellschaftlichen (väterlichen)
Autoritäten und in einem masochistischen, passiv-homosexuell
getönten Strafbedürfnis ausdrückt.
5. Sowohl bei Ivo als auch bei Max verbirgt sich hinter dem Feindbild,
das sich ihre jeweilige Bezugsgruppe ausgewählt hat - ich
nenne es das kollektive Feindbild -, ein weiteres individuelles
Feindbild - ich nenne es das private Feindbild -, das lebensgeschichtlich
bedeutsamer ist. Der Privat-Haß wirkt noch irrationaler
und verschrobener als der kollektive Haß. Er bringt das
Individuum in die Rolle des Außenseiters, des Verrückten,
da kaum jemand das private Feindbild teilt. Wer die Anerkennung
seiner Haßgefühle in der Gruppe sucht, wird also seinen
Haß auf ein Objekt verschieben, das sich auch andere als
Feindbild auserkoren haben. Auf der einen Seite beziehen kollektive
Feindbilder ihre affektive Energie zum Teil aus individuellen
Pathologien. Auf der anderen Seite findet das Individuum eine
Entlastung von seelischem Konfliktdruck, indem es seine Affekte
in das kollektive Feindbild einfließen läßt.
Feindbilder sind offenbar relativ leicht austauschbar. Freuds
Bemerkung, es handele sich bei der Religion um eine kollektive
Neurose, läßt sich auf das Feindbild übertragen:
Feindbilder sind kollektive narzißtische Störungen.
Mit Georges Devereux (1970) könnte man auch die Unterscheidung
zwischen einer ideosynkratischen und einer ethnischen psychischen
Störung treffen. Die ideosynkratische Störung entsteht
aufgrund ganz spezifischer individueller Lebensumstände.
An einer ethnischen Störung leiden demgegenüber nicht
nur einzelne Individuen, sondern eine große Zahl der Mitglieder
eines Kollektivs. Dem entspricht das ethnische Unbewußte,
das den Teil des Unbewußten ausmacht, den das Individuum
gemeinsam mit der Mehrzahl der Mitglieder seiner Kultur besitzt.
Das ethnische Unbewußte entsteht aus dem, was in einer Kultur
verdrängt werden muß, das ideosynkratische Unbewußte
beruht vor allem auf familiären Abwehrkonstellationen. Die
Kultur bietet kollektive Abwehrstrategien als kulturelle vorgeformte
"Modelle des Fehlverhaltens" (ebd., S. 64) an, die es
ermöglichen, sich in sozial akzeptabler Weise normabweichend
zu verhalten. Das Motto könnte lauten: "Tu es nicht,
aber wenn du es tust, dann muß es so und so gemacht werden"
(ebd.).
6. Patienten, die ihre frühe Störung als psychosomatische
Krankheit organisieren und damit zu bewältigen versuchen,
unterhalten in der Regel enge Familienkontakte, meist zur Herkunftsfamilie,
manchmal auch enge Kontakte zu Partnern. Ihre Krankheit hat auch
eine soziale Funktion und Bedeutung in diesem engeren sozialen,
meist familiären Kontext. Selbstbeschädigungen und Suizidversuche
haben eine hohe interaktionelle Bedeutung und lösen intensive
emotionale Reaktionen und Handlungen aus (vgl. Sachsse 1989, S.
104). Ich vermute, daß bei den klinischen Krankeitsbildern
in der frühen Mutter-Kind-Dyade eher ein Bindungs-Modus überwiegt,
während bei den Fremdenhassern eher ein Ausstoßungs-Modus
dominiert. Die Fremdenhasser und Gewalttäter suchen deshalb
nicht einen familiären Kontext, sondern einen Gruppen-Kontext,
in dem sie Halt, Anerkennung, Bestätigung und Gleichgesinnte
finden, mit denen sie ihre narzißtische Störung organisieren
und ausagieren können. In Gruppen trifft man eher auf allgemeine
Ideologien und Feindbilder, in der Familie aber auf eine Privat-Ideologie.
7. Als Pendant zu ihrem negativen Feindbild haben beide Jugendliche
ein Idealbild aufgebaut, das überhöht, in sich widersprüchlich
und - im Sinne von Janine Chasseguet-Smirgel (1975, 1984) - "falsch"
ist: Ivo idealisiert die Reinheit, Zärtlichkeit und Unschuld
der pädophilen Liebe. Die "Falschheit" dieser Idealisierung
liegt darin begründet, daß die der Pädophilie
innewohnende sexuelle Gewalt verleugnet wird.
Max hingegen hat Deutschland zu seinem Ideal erhoben. Er betont
seinen "Stolz darauf, ein Deutscher zu sein". Im "Phantasma
der Nation" (Bohleber 1992) erfüllt sich der unbewußte
Wunsch nach "präambivalenter Verschmelzung" (ebd.,
S. 689) mit einem idealisierten Objekt. Begriffe wie Volk, Nation
und Rasse "laden zur Teilnahme an etwas Großem, Erhabenem,
Starkem ein, das die eigene Existenz transzendiert und Anerkennung
ohne Ansehen der sozialen Stellung verspricht" (Neckel 1991,
S. 168). Auf diese Form der Selbstbestätigung und Anerkennung
sind besonders die Menschen angewiesen, die aufgrund einer narzißtischen
Kränkung das Gefühl der Ohnmacht, der Ungerechtigkeit
und der eigenen Wertlosigkeit haben. Dies zeigen auch die Untersuchungen
von Heitmeyer und Mitarbeitern über (vorwiegend männliche)
Jugendliche aus sozialen Krisengebieten, die als sogenannte "Modernisierungsverlierer"
für Rechtsextremismus besonders anfällig sind. "Volk,
Nation und Rasse sind Prinzipien der Selbst- und Fremdbewertung,
die auch dann noch gelten können, wenn alle anderen Prinzipien
- Geld, Macht, Wissen und Prestige, [befriedigende Intimbeziehungen]
- schon versagt haben" (ebd., S. 169) oder zu versagen drohen.
Für Unterlegene fungieren sie als Identitätsstütze,
die um so mehr in den Vordergrund tritt, je weniger andere Quellen
der Anerkennung verfügbar erscheinen.
"Die Teilhabe am großen überlegenen Kollektiv
des einen Volkes verspricht, die Enge und Beschränktheit
der eigenen Existenz zu überschreiten. Erhaben strahlt das
Kollektiv-Symbol über die selbst empfundene Niedrigkeit der
eigenen Verhältnisse hinweg, weshalb es auch gerade dann
noch an Faszination gewinnt, wenn die eigenen Lebensumstände
immer deprimierender werden" (ebd., S. 161).
Der demonstrative Stolz, ein Deutscher zu sein, und die Abgrenzung
gegenüber den als minderwertig eingestuften Fremden dienen
dazu, das eigene beschädigte Selbstwertgefühl zu festigen.
Schlußbetrachtung
Meinem Versuch, Fremdenhaß und Gewalt als Symptome einer
psychosozialen Krankheit zu verstehen, liegt ein spezifisches
Krankheitsverständnis zugrunde. Der Wahn der Fremdenfeindlichkeit
hat einen unbewußten Sinn, ihm kommt eine psychische und
soziale Funktion zu. Ich kann mich bei dieser Auffassung auf den
Physiker und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker (1967)
berufen, auf dessen Vortrag "Friedlosigkeit als seelische
Krankheit" meine Formulierung anspielt. Indem ich ausdrücklich
von Krankheit gesprochen habe, wollte ich deutlich machen, daß
es sich dabei weder um Dummheit noch um Bosheit handelt. Eben
darum ist die Fremdenfeindlichkeit weder durch Belehrung noch
durch Verdammung zu überwinden. Sie bedarf anderer Prozesse,
die man Therapie, Heilung, Verständigung, vielleicht auch
Aufklärung in einem emphatischen Sinn nennen könnte.
(Anschrift des Verf.: PD Dr. Hans-Jürgen Wirth, Goethestr.
29, D-35390 Gießen. E-Mail: hans-juergen.wirth@psychosozial-verlag.de)
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Summary
Xenophobia and violence as a familial and psychosocial disorder.
- After a review of the concepts of prejudice, xenophobia, and
fear of strangers as encountered and employed in social psychology,
ethology, and developmental psychology, Wirth analyzes familial
and social backgrounds operative in the emergence of xenophobia
and fear of strangers. He discusses the fear of strangers/foreigners/others
with reference to agoraphobia, and xenophobia as a narcissistic
disorder in which projection and projective identification are
highly significant factors as forms of externalization. The author
illustrates his views with two case descriptions involving young
people.
Résumé
La xénophobie et la violence en tant que maladie familiale
et psychosociale. - Après un bref aperçu sur les
concepts de préjugé, de xénophobie et de
peur des étrangers, employés par la psychologie
sociale, les études comportementales et la psychologie
du développement, Wirth analyse quelquesuns des arrière-plans
sociaux à la peur des étrangers et à la xénophobie:
il analyse la peur des étrangers au moyen de l'exemple
de l'agoraphobie, et la xénophobie comme un trouble narcissique
dans lequel la projection et l'identification projective en tant
que formes d'externalisation ont une importance fondamentale.
L'auteur concrétise ses idées au moyen de deux présentations
de cas d'adolescents.
Ein
weiterer Artikel von Hans-Jürgen Wirth:
Zeitgemässes
über Terrorismus, Krieg und Tod
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